Читать книгу Der Vertrag - Der Mord an Olof Palme - John W. Grow - Страница 5

1.

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Der Mann, der sich Ray Lambert nannte, wachte bereits beim ersten grauen Dämmerlicht auf. Er war schon immer ein Morgenmensch gewesen. Dass er heute einen Menschen töten würde, machte da keinen Unterschied.

Er blieb im Bett liegen und beobachtete, wie das schwache Licht, das durch den Spalt zwischen den Gardinen fiel, die unscharfen Konturen des Hotelzimmers langsam deutlicher erscheinen ließ. Im Laufe der Jahre hatte sein Schlafbedarf abgenommen und er wachte immer früher auf. Das zeigt, dass ich älter werde, dachte er. Es war Zeit aufzuhören, sich zurückzuziehen. Aber der finanzielle Aspekt hinderte ihn daran.

Er reckte sich und stand auf. Ging zum Fenster und zog die Gardinen auf. Als er das Fenster öffnete, schlug ihm die noch nachtkalte Luft entgegen. Mit ihr drangen die Geräusche der erwachenden Stadt ins Zimmer. Unten fuhr eine Straßenreinigung mit rotierenden Bürsten vorbei und ein einsamer Wanderer sprang zur Seite, um den Wasserfontänen auszuweichen, die den Gehweg überspülten. Aus der anderen Richtung kam ein Taxi mit ausgeschaltetem Taxischild. Noch herrschte die Nacht, aber der Himmel war rosa und die Straßenlaternen bereits erloschen.

Ray zündete sich die erste Zigarette des Tages an, aber dann bekam er einen Hustenanfall und warf die Zigarette nach nur ein paar Zügen in den Aschenbecher. Er sollte wirklich aufhören zu rauchen. Seine Kondition war grundsätzlich zwar gut, aber obwohl er fast täglich trainierte und sich in Form hielt, hatte er im letzten Jahr eine gewisse körperliche Trägheit empfunden. Er wurde schneller müde. Das Alter, dachte er, aber niemand, der ihn sah, würde glauben, dass er gerade dreiundfünfzig geworden war. Seine Haare wurden oben am Kopf dünner und auch etwas grau, aber für diesen Auftrag hatte er sie haselnussbraun gefärbt. Die feinen Linien um seine Augen verliehen ihm Charakter, fand er, aber er war nicht mehr jung, er sollte seine Zukunft planen.

Die afrikanische Morgendämmerung war kurz, aber es würde noch eine Weile dauern, bis die Sonne über den Berg kam.

Nelson Luwamba atmete tief ein und füllte seine Lungen mit der kühlen, feuchten Morgenluft. Der Sauerstoff machte ihn hellwach. Es fühlte sich an, als würde sein junges Blut kochen. Er fühlte sich stark. Er mochte diese Tageszeit am meisten, ehe die Hitze sich wie ein Deckel über alles und alle legte. Oft war er um diese Zeit wach. Aber heute war es anders. Sein Wecker hatte mitten in der Nacht geklingelt, damit er alles schaffen würde. Jetzt war er bereit und fühlte sich fast feierlich.

Die Limousine, ein blauer Chevrolet, war vorgefahren. Den Lappen, mit dem er den verchromten Kühlergrill geputzt hatte, verwendete er jetzt für seine schwarzen Schuhe. Der rote Staub würde da draußen schnell den Glanz zerstören, aber in der Stadt ist es anders, dachte er. Es war wichtig, einen weltmännischen Eindruck zu machen. Er schnipste ein Staubkorn vom Ärmel seines dunkelblauen Anzugs und richtete seinen Krawattenknoten.

In der Ferne hatte die Sonne begonnen, über den Berggipfel zu klettern, als Nelsons Vater auf die Veranda trat. Schnell steckte Nelson das schmutzige Tuch in die Tasche und eilte zum Auto. Ehrfürchtig hielt er die Tür auf. Ernst und fast wie ein Soldat stand er da. Sein Vater grüßte ihn mit einer spielerischen Verbeugung, als er auf dem Rücksitz Platz nahm. Er lächelte amüsiert und wohlwollend über die feierliche Ernsthaftigkeit seines Sohnes.

Der blaue Chevrolet rollte weich durch die Landschaft. Die Räder rotierten über den Asphalt. Der Motor war kaum zu hören. Niemals hätte Nelson es sich träumen lassen, dass er so bald hinter dem Lenkrad von etwas anderem als einem Schrotthaufen sitzen würde. Nicht genug damit, dass er alle Prüfungen und seinen Führerschein bestanden hatte, er hatte auch sofort einen Job bekommen, einen Traumjob, den sein Vater ihm besorgt hatte. Die Zukunft sah wirklich rosig aus.

Sie passierten Trauben von Menschen auf Fahrrädern und zu Fuß, die auf dem Weg zur Arbeit in der Stadt waren. An den Straßenrändern warteten zahlreiche frühe Busse.

Gleich würden die ersten Bruchbuden am Rande von Soweto auftauchen.

Nelson hätte gern das Radio angestellt, aber auf dem Rücksitz saß sein Vater und sah einen Stapel Papiere durch, wobei er nicht gestört werden wollte. Die Hitze des Tages wurde langsam spürbar und Nelson stellte die Klimaanlage an. Er genoss den Luxus. Ein kleines Lächeln wurde auf seinen Lippen sichtbar, als er sich vorstellte, welche Möglichkeiten ihm offenstanden. Traute er sich zu fragen, ob er das Auto leihen und mit ihm schon heute Abend eine Tour in die Stadt machen dürfte? Ein wohliger Schauer durchfuhr ihn. Er war so tief in seinen Gedanken, dass er es zunächst gar nicht wahrnahm, als sein Vater ihn von hinten ansprach:

„Nelson, ich treffe in zwei Stunden einen Minister in der Stadt. Du wirst warten und mich hinfahren und nach dem Treffen wieder zurück.“

Nelson nickte. Er dachte sich, dass es wohl besser wäre, seinen Vater erst auf dem Rückweg am Abend zu fragen.

Johannesburg erwachte in einem heißen, stickigen Dunst von Autoabgasen. Der Verkehr floss träge und ohrenbetäubend dahin. Die Gehwege wimmelten von Tausenden von Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Die überfüllten Busse spuckten alle Viertelstunde eine neue Ladung schläfriger Lohnsklaven aus.

Die Läden waren bereits offen. Ray Lambert hielt an einem Tabakladen an. Ein älterer schwarzer Mann hatte gerade die Flugblätter der Zeitungen aufgehängt und Ray folgte ihm in den vollgestopften kleinen Laden. Der Inhaber, ein dicker Orientale mit blumigem Oberhemd, war gerade dabei, eingeschweißte Bündel mit amerikanischen Zeitschriften aufzureißen.

„Eine Schachtel Marlboro.“

„Normal oder Lights?“, fragte der Tabakhändler und legte das Messer beiseite. Er ging um den Tresen herum und streckte sich nach dem Regal dahinter.

„Normal – nein, lieber Lights“, entschied Ray sich um.

Der Tabakhändler holte die letzte Schachtel der begehrten Marke aus dem Regal. Er wandte sich um und rief über die Schulter in die hinteren Regionen des Ladens seiner Aushilfe zu, sie solle verdammt noch mal ihren trägen Arsch bewegen und endlich das tun, was er ihr aufgetragen hatte, nämlich das Regal auffüllen, wenn es leer war.

„Die glauben, sie bekommen ihren Lohn, ohne was dafür zu tun. Man muss ihnen alles dreimal sagen!“, grinste der Mann verbittert. Er schob Ray die Zigarettenschachtel rüber.

Ray gab ihm einen Schein und bekam sein Wechselgeld.

„Heute wird es heiß“, sagte der Tabakhändler und wischte sich mit dem Handrücken die Stirn ab, die bereits vom Schweiß glänzte. Ray nickte und verließ den Laden.

Er ging weiter die Straße entlang. Mit seinem schwarzen Dokumentenkoffer in der Hand und dem eleganten hellen Baumwollanzug sah er aus wie ein ganz normaler Angestellter auf dem Weg ins Büro. Genau das war sein Anliegen. Er wollte nicht auffallen, durfte niemand sein, an den man sich erinnerte. Einer von vielen.

Aber eine Sache unterschied ihn deutlich von allen anderen im Strom der anzugtragenden Aktenkofferträger: In seinem Koffer befand sich eine tödliche Waffe.

Zwei Wochen zuvor hatte Ray Lambert das Gewehr von einem Waffenhändler in Kapstadt gekauft. Ray hatte ihn nicht zufällig ausgewählt. Er hegte einen starken Widerwillen dagegen, die Grenzen mit einer Waffe im Gepäck zu überqueren. Sobald er diesen Auftrag über seine Kontakte in London bekommen hatte, suchte er nach einem Waffenhändler mit einem passenden Hintergrund. Er hatte Graeme Mulholland gefunden, der schon viele Jahre umfangreiche illegale Waffengeschäfte machte, sowohl mit Mitgliedern des rassistischen Broederbunds als auch mit gewöhnlichen Kriminellen. Offenbar hielten ihn keinerlei Skrupel davon ab. Diese Eigenschaften machten ihn zu einem angemessenen Waffenhändler.

Mulholland hatte überhaupt nicht helfen wollen. Erst als Ray mit seinem Wissen über Mulhollands Vergangenheit auspackte und ihm außerdem eine Entschädigung versprach, hatte er eingelenkt, ohne Fragen zu stellen.

Einige Tage später hatte Ray ein nagelneues demontierbares Gewehr beim Waffenhändler zu Hause abgeholt. Beim Probeschießen hatte alles perfekt funktioniert. Er musste nicht einmal das Zielfernrohr einstellen – auf hundert Meter Entfernung hatte der Schuss fast exakt den Punkt getroffen, den er anvisiert hatte. Die Abweichung betrug nur wenige Millimeter.

Das Gewehr hatte 2000 Rand gekostet.

Ganz oben auf dem staubigen Dachboden eines älteren Mietshauses am Rande vom Johannesburger Zentrum hatte Ray Lambert den perfekten Platz gefunden. Vom Dachbodenfenster hatte er freie Aussicht auf den Platz und das ockerfarbene Kongressgebäude am anderen Ende.

Er zündete sich eine Marlboro Light an und sah zu, wie der blaue Rauch sich langsam durch das Sonnenlicht nach oben schlängelte, das durch ein Dachfenster fiel. Die Zigarette schmeckte schwach und harmlos, aber er dachte, dass das ein guter Übergang sein könnte, bevor er ganz aufhörte. Er sah auf die Uhr und stellte fest, dass er sich bereit machen sollte. Die letzten Wochen hatte er sein Opfer genau beobachtet und seine Gewohnheiten kennengelernt. Er holte eine kleine Filmrollendose aus Aluminium aus seiner Hosentasche, schraubte den Deckel ab und drückte die Kippe sorgfältig darin aus. Er steckte die Dose wieder in die Tasche und wandte sich zum Fenster.

Fast im selben Moment knackte es im Walkie-Talkie, das im offenen Dokumentenkoffer neben ihm lag. Eine Reihe kurzer Klicklaute, dann Stille. Das war das verabredete Signal.

Schnell griff Ray Lambert nach der Waffe und schob den Gewehrlauf ein paar Zentimeter durchs Fenster. Man konnte es von der Straße aus nicht sehen, das hatte er vor ein paar Tagen mithilfe eines schwarzen Astes an derselben Stelle überprüft. Von der Straße aus hatte er die Fassade abgesucht. Wenn man nicht wusste, wohin man genau gucken oder wonach man suchen sollte, war kein Unterschied zu merken.

Ray musste nicht länger als eine halbe Minute warten.

In ein paar hundert Meter Entfernung glitt unter ihm ein blauer Chevrolet zum Kongressgebäude.

Auf der breiten Treppe zum Eingang, der mit hohen Säulen im klassischen Stil geschmückt war, saß ein Schwarzer mit einem Kinderwagen voller Zeitungen. Als er das Auto des Gewerkschaftschefs sah, leuchtete sein Gesicht auf. Er stand auf, nahm eine Zeitung aus dem Stapel und faltete sie zusammen, um sie ihm dann mit der üblichen andächtigen Verbeugung zu überreichen. Seit vielen Jahren kaufte der alte Luwamba jeden Morgen eine Zeitung bei ihm und wechselte ein paar Worte mit ihm. Luwamba wusste inzwischen sogar die Namen der Zeitungsverkäuferenkel. Der Zeitungsverkäufer wiederum wusste, dass der neue junge Chauffeur Luwambas Sohn Nelson war. Er lächelte breit. Die Eröffnungsreplik lag ihm schon auf den Lippen.

Abgesehen von den Männern im blauen Auto und dem Zeitungsverkäufer war der offene Platz fast leer, bis auf zwei schwarze Männer. Der eine lag etwa fünfzig Meter vom Gebäude entfernt im Schatten eines Baumes auf einer Parkbank, der andere ging mit einer Weinflasche in der Hand quer über den Platz auf ihn zu.

Ray legte das Auge ans Zielfernrohr und stellte den Chevrolet scharf. Ein junger Schwarzer mit marineblauem Anzug stieg aus. Ray stellte fest, dass dies nicht derselbe Chauffeur wie an den vergangenen Morgen war. Der Chauffeur öffnete die Hintertür, nahm eine Aktentasche entgegen und half mit seiner freien Hand dem älteren Mann aus dem Wagen.

Ray sah, wie die beiden Männer sich gegenüberstanden. Der ältere legte seine Hand auf die Schulter des jüngeren und sagte etwas, das beide zum Lachen brachte.

Er zielte auf einen Punkt etwas über und vor dem Ohr des alten Mannes. Ray fühlte das wohlbekannte Kitzeln des Adrenalins, das durch seine Adern bis in die Fingerspitzen pumpte. Das kriechende Gefühl aus Unruhe und Unbesiegbarkeit. Eine angenehme, sinnliche, fast erotische Empfindung.

Er drückte den Abzug und der Schuss feuerte los.

Der Kopf des Gewerkschaftschefs schien zu explodieren und er wurde zu Boden geschleudert.

Nelson Luwamba verstand erst nicht, was passiert war, einige ewige Sekunden lang hörte sein Gehirn auf zu arbeiten. Überflutet mit dem Blut und der Gehirnmasse seines Vaters starrte er auf den leblosen Körper.

Im nächsten Moment fiel er auf die Knie und schlug die Arme um den Vater. Unkontrolliert schrie er los – ein Schrei der tiefsten Verzweiflung.

Ray Lambert schraubte schnell und routiniert die Waffe auseinander und steckte die Teile in den Dokumentenkoffer. Mit dem Blick suchte er alle Oberflächen ab, mit denen er in Kontakt gekommen war, um sich zu versichern, dass er keine Spuren hinterlassen hatte. Er schloss die Tasche und verließ den Dachboden. Seit dem Schuss waren weniger als zwanzig Sekunden vergangen.

Weitere zwanzig Sekunden später war Ray unten an der Treppe angekommen. Er blieb hinter der Tür stehen, die in die kleine Seitenstraße an der Nordseite des Hauses führte. Ehe er auf den Weg hinaustrat, zog er sich ein Paar dünne, milchweiße, fast durchsichtige Gummihandschuhe aus und stecke sie sich in die Tasche.

Er spazierte zügig vom Haus fort und bog in die nächste Straße ein. Nach etwa hundert Metern trat er durch die Tür eines Lokals.

Gleichzeitig hörte er die ersten Polizeisirenen.

Ray Lambert sah sich in der halbvollen Kneipe um. Am Tresen saß ein Mann im khakifarbenen, zerknitterten Baumwollanzug. Die zwei Männer zeigten mit keiner Miene, dass sie einander kannten.

Der Name des Mannes war Arnold Wyllie. Ein knapp vierzig Jahre alter Boere, den Ray als Helfer engagiert hatte. Er hatte den Namen und die Adresse von seinem guten Freund und Kollegen Samuel Wilson in London bekommen. Wyllie war ein Kleinganove und Betrüger, der wiederholt wegen Diebstahls und Betrugs im Gefängnis gesessen hatte. Für Ray spielte es keine Rolle, dass sein Auftrag war, einen schwarzen Mann zu töten, es war ihm komplett egal, dass die Tat eine politische Motivation hatte – aber für Wyllies Beteiligung war dieser Fakt entscheidend gewesen. In dieser Hinsicht war er Idealist. Ein hingebungsvoller Anhänger der Apartheid.

Wyllie las eine Zeitung und schien sehr mit den Cricket-Ergebnissen im Sportteil beschäftigt zu sein. Ab und zu nippte er abwesend an seinem Espresso. Er hatte sich in das Lokal gesetzt, sobald der blaue Chevrolet vorbeigefahren war. In seiner Innentasche steckte das Walkie-Talkie, mit dem er Ray das Zeichen gegeben hatte. Jetzt saß er hier und wartete. Auf dem Boden neben ihm stand ein Dokumentenkoffer, exakt das gleiche Modell wie Rays.

Ray stellte seinen Koffer neben Wyllies und lehnte sich über den Tresen, während er sich eine Zigarette anzündete. Durch das Fenster zur Straße sah er, wie zwei Polizeiautos mit Sirenen und blitzendem Blaulicht vorbeirasten.

Arnold Wyllie sah auf die Uhr und legte die Zeitung beiseite. Mit einem Zug leerte er seine Kaffeetasse, beugte sich runter, nahm Rays Dokumentenkoffer und verließ das Lokal.

Ray versuchte, die Aufmerksamkeit des Bartenders auf sich zu lenken, während er mit dem Fuß Wyllies Koffer näher zu sich zog.

„Kann ich bitte einen doppelten Espresso haben?“

„Sofort!“

Der Bartender war am Fenster mit einem anderen Gast beschäftigt. Beide kommentierten laut die Geschehnisse auf der Straße, wo Menschen in Richtung Kongressgebäude rannten. Der Bartender machte keinerlei Anstalten, Rays Bestellung demnächst auszuführen.

Ray zögerte einen kurzen Moment, dann stand er auf und kehrte mit Wyllies zurückgelassenem Koffer auf die Straße zurück.

Pieter Boeck eilte die Treppen zu Norris‘ Büro im dritten Stock hoch. Immer zwei Stufen auf einmal. Er hatte unglaubliche Neuigkeiten. Er hatte gerade aus dem Radio erfahren, dass Luwamba ermordet worden war.

Luwamba, über den sie im letzten Jahr so viel diskutiert hatten, weil sein Handeln besorgniserregend für die wichtigen amerikanischen Interessen war. Jetzt war alles anders.

Er klopfte an die Tür zu dem Zimmer, das Norris während seiner Anwesenheit zur Verfügung gestellt worden war.

„Herein!“

Hinter einem riesigen Mahagonischreibtisch in einem auch ansonsten luxuriös eingerichteten Büro im dritten Stock der Botschaft in Pretoria saß Bertram Norris. Er war ein großgewachsener, blonder Mann in seinen Vierzigern, mit blauen Augen und Lachfalten, die ihm einen dauerhaft zufriedenen Ausdruck verliehen. Trotz der Hitze trug er einen dunklen Anzug mit Krawatte, sah aber dennoch cool und entspannt aus.

Er sah lächelnd von dem dicken Bündel Feldberichte auf, als Pieter Boeck außer Atem in das Zimmer stürzte.

„Mr Norris!“, keuchte er, noch abgekämpft von der Treppe. „Auf Luwamba ist geschossen worden!“

„Was?“ Norris fiel das Kinn herunter. „Was sagen Sie da?“

„Ich habe es im Radio gehört. Es gibt auch eine Sondersendung im Fernsehen!“

„Wann ist das passiert?“

„Gerade eben! Ein Scharfschütze bei der Kongresshalle, als Luwamba gerade hinein wollte.“

Norris stand auf und stellte den Fernseher in der Ecke an.

„Lebt er noch?“, fragte er.

„Nein, er war sofort tot!“, sagte Boeck. „Sein Kopf ist quasi in tausend Stücke zersprungen.“

Norris sank in den Sessel vor dem Fernseher und betrachtete mit ernster Miene die Reportagebilder vom Ort des Attentats. Ein aufgeregter Reporter stand vor einer Säule des Kongressgebäudes und sprach angespannt von den denkbaren Folgen des Mordes. Man befürchtete Demonstrationen und vielleicht Randale. War das hier der Auftakt für einen langen, heißen Sommer für Südafrika?

„Furchtbar!“, sagte Norris.

Boeck nickte. Was geschehen war, war furchtbar. Aber gleichzeitig spürte er Zufriedenheit. Der Mord hatte schließlich ihr Problem gelöst, als hätten die Götter eingegriffen, dachte er. Deus ex machina.

„Mr Norris, das kommt uns sehr gelegen“, sagte er leise und mit einem angedeuteten Lächeln.

Norris sah ihn kalt an.

„Das ist unglaublich zynisch, Boeck“, sagte er scharf und sah aufrichtig verstört aus über die rücksichtslose Direktheit. „Es ist grauenhaft. Ich hoffe wirklich, dass sie den Mörder so schnell wie möglich finden!“

Das Lächeln des jungen Angestellten erlosch unmittelbar, als hätte man ihm eine Ohrfeige verpasst.

„Aber Sie haben recht, dass sich die Situation dadurch verändert hat“, fuhr Norris mit milderem Ton fort. „Dies ist eine ganz neue Ausgangslage, zu der wir Stellung nehmen müssen.“

Norris verstummte und sah gedankenverloren aus dem Fenster.

Boeck versuchte die Falten aus seinem hellen Baumwollanzug zu streichen. Er spürte sein Hemd am Rücken kleben. Der Kragen musste fleckig vom Schweiß sein. Er steckte einen Finger in den Kragen und fuhr mit ihm an der Innenseite entlang. Er wagte es jedoch nicht, seine Krawatte zu lockern. Sein amerikanischer Chef hatte ja sogar einen zugeknöpften Anzug getragen, obwohl er allein in seinem Büro gewesen war.

„Boeck, halten Sie mich auf dem Laufenden, informieren Sie sich über die Geschehnisse“, sagte Norris nach einer kurzen Pause und stand auf. „Ich muss New York anrufen.“

„Okay, Mr Norris“, sagte Boeck erleichtert und eilte aus dem Zimmer.

Norris lächelte in sich hinein. Die Lachfalten um die Augen zogen sich zusammen. Er sah erleichtert aus. Er ging zum Fenster und stellte die Jalousien so ein, dass er auf die Straße sehen konnte. Das ging schneller als erwartet, dachte er. Weniger als zwei Monate, seit der Ball ins Rollen geraten war. Und nun war Luwamba tot.

Ein sehr kompetenter Killer, stellte er fest. Diesen Kontakt sollte man sich merken.

Bertram Norris arbeitete seit dem Ende der Sechzigerjahre für die CIA. Erst in Indochina, in den Siebzigern dann vor allem in Lateinamerika.

In Lateinamerika war es Norris‘ Aufgabe gewesen, so energisch und unsichtbar wie möglich amerikanisches Eigentum und amerikanische Interessen zu schützen. Das hatte vor allem bedeutet, verschiedene Diktaturregimes und deren Generäle zu unterstützen.

In diesem Zusammenhang hatte er Jack Pallon, einen amerikanischen Multimillionär kennengelernt, dessen Firma Pallon Enterprises Inc. Hektar um Hektar Obstplantagen in Lateinamerika gehörten. Pallon war Enteignung von den Staaten angedroht worden, in denen seine Tätigkeit die Wirtschaft komplett dominierte. Staaten, die den Namen „Bananenrepublik“ wahrhaftig verdienten.

Es gab notwendige Operationen, mit denen sich die CIA aus moralischen und politischen Gründen nicht befassen durfte. Operationen, die eher auf Privatfirmen und deren Gewinne abzielten als auf die amerikanische Sicherheitspolitik. Es kam drauf an, wie man es betrachtete. Norris‘ Auffassung dazu war eindeutig: Amerikanische Interessen gingen immer vor.

Manchmal musste einfach eingegriffen werden, obwohl die Organisation es nicht durfte. Es war wichtig, dass dieses Eingreifen nicht hergeleitet werden konnte, um nicht Ziel von Ermittlungen und Ausschussanhörungen zu werden. Es musste so weit wie möglich von der CIA und deren Personal entfernt geschehen. Die lenkende Hand musste unsichtbar sein. Das war Norris‘ Spezialität.

In einer südamerikanischen Republik hatte Norris bestimmte Gegner von Pallon eliminiert. Einen Politiker und einen General. Nicht persönlich, sondern mit der Hilfe von Vermittlern, die nichts mit der Arbeit der CIA zu tun hatten und in den meisten Fällen nicht einmal wussten, dass sie Vermittler waren oder woran sie gerade beteiligt waren. Die Morde wurden von angeheuerten Berufskillern ausgeführt, die mit den Kartellen verknüpft waren.

Pallon hatte seiner Dankbarkeit persönlich Ausdruck verliehen und Norris hatte sich das Haus in Vermont kaufen können.

Dass Norris sich nun in Südafrika befand, lag teilweise ebenfalls an Jack Pallon. Eine seiner Tochterfirmen war das Ziel einer Kampagne heftiger Kritik gegen ausländische Firmenbesitzer gewesen, die Luwamba initiiert hatte.

Aber Norris‘ Hauptaufgabe war, die Arbeit der CIA im Land neu zu organisieren.

Im Fernsehen hatte man nun einige politische Gutachter um einen Tisch im Studio versammelt und diskutierte die politischen Konsequenzen des Mordes. Mit einem Auge auf dem Fernseher nahm Norris das Telefon und drückte die Kurzwahl nach New York.

Auf der anderen Seite des Atlantiks ging Jack Pallon persönlich ans Telefon.

„Hallo, hier ist Norris!“

„Hallo, Bert, bist du noch immer in Afrika?“

„Ja, aber … das Fahrwasser hat sich verändert“, antwortete Norris.

Es bestand kein Zweifel, dass Jack Pallon die kryptische Aussage von Norris verstand. Pallon grinste breit.

„Wunderbar, gut gemacht! Wann sehen wir uns?“

Norris‘ Augen waren nur noch schmale Schlitze und sein Lächeln zeigte seine gleichmäßigen, weißen Zähne.

„Ich reise bereits morgen ab.“

Arnold Wyllie saß in seiner Wohnung und wartete auf 10000 Rand in bar.

Er hatte den Dokumentenkoffer geöffnet und betrachtete mit großem Interesse die Teile des High-end-Gewehrs. Er spielte gerade mit dem Zielfernrohr herum, als es an der Tür klingelte.

Schnell legte er die Teile zurück und schloss den Koffer, ehe er den Mann hereinließ, den er als Dennis Clayton kannte.

„Das ist doch super gelaufen, Dennis“, sagte Wyllie zufrieden. „Ein Schuss und fertig. Elegant. Es war im Fernsehen, sie hatten eine Einstellung …“

„Keine Probleme auf dem Heimweg?“, fragte Ray Lambert.

Wyllie schüttelte grinsend den Kopf.

„Es waren ja alle auf dem Weg zum Kongresshaus. Ich habe den Bus in die andere Richtung genommen. Hast du das Geld dabei?"

Ray klopfte sich auf Höhe der Innentasche aufs Jackett und Wyllie lachte erleichtert:

„Willst du einen Whisky?“

Ray nickte und Wyllie ging ans hintere Ende vom Zimmer zu einem Barschrank im Bücherregal. Es standen kaum Bücher im Regal, abgesehen von ein paar prachtvollen Bildbänden über Afrika. Stattdessen war es voll mit Hunderten von Videokassetten und großen Mengen von Nippes. Ray fiel es schwer, Wyllies robusten Männerkörper mit den kleinen, akkuraten, durchsichtigen Tierfiguren aus farbigem Glas überein zu bringen, die in ordentlichen Reihen dastanden.

Während Wyllie am Barschrank damit beschäftigt war, Whisky in zwei Wassergläser zu füllen, zog Ray eine Flasche aus seiner Tasche. Er zog den Korken hinaus und tränkte ein Taschentuch mit dem Flascheninhalt.

Wyllie wurde von Ray überrumpelt, der ihm von hinten das Jackett runterzog, sodass seine Arme gefangen waren. Als Ray ihm das äthergetränkte Taschentuch auf Nase und Mund presste, warf er sich verzweifelt auf die Seite, um sich loszureißen. Die beiden Männer taumelten gegen das Bücherregal. Die kleinen, fragilen Glasfiguren regneten zu Boden und vermischten sich mit dem Glas der Whiskyflasche und der Wassergläser.

Ray ließ nicht los und endlich entspannte sich der Körper unter seinem Griff. Er ließ ihn zwischen die Glassplitter auf den Boden gleiten.

Ray erlaubte sich keine Pause. Er leerte den restlichen Inhalt des Ätherfläschchens über den bewusstlosen Wyllie. Ein Buch über die Tierwelt der Serengeti war zu Boden gefallen. Ray riss eine Seite raus und zündete sie mit seinem Feuerzeug an. Er ließ das brennende Papier auf den Teppich fallen.

Sofort flammten die äthergetränkten Objekte auf und Arnold Wyllie wurde von den Flammen bedeckt.

Ehe das Feuer sich ausbreiten konnte, verließ Ray die Wohnung. Das Gewehr ließ er zurück. Als er die Tür hinter sich schloss, wischte er den Türgriff sorgfältig mit einem Taschentuch ab. Der Griff war das Einzige, das er in der Wohnung angefasst hatte.

Er mied den Fahrstuhl und lief die Treppen hinunter. Auf der Straße ging er in schnellem Tempo vom Haus fort. Vor einem indischen Restaurant ein paar Meter weiter hielt er ein Taxi an.

Ray sank auf den Rücksitz. Er merkte, dass sein Puls noch schnell war, aber das intensive Pulsieren seines Blutes an den Schläfen ließ nach. Ein ruhiges Gefühl erfüllte ihn. Dies war ein gefährlicher und trügerischer Moment, das wusste er. Noch war die Gefahr nicht vorbei und er durfte sich noch nicht entspannen. Aber mit jeder Minute entfernte er sich weiter vom Tatort. Ray zündete sich eine Zigarette an.

Das Taxi hielt vor dem Hotel an. Ray bezahlte und ging hinein, um seine Taschen zu holen. Er hatte bereits ausgecheckt, sodass er wenige Minuten später erneut mit seinem Gepäck durch die Eingangstür trat. Er nahm ein neues Taxi zum internationalen Flughafen. Er passierte den Check-In und bekam einen Ausreisestempel in den Pass, der auf den australischen Bürger Dennis Clayton ausgestellt war.

Drei Stunden später saß er in einem Jumbo nach London. Sein fünf Wochen andauernder Auftrag in der Republik Südafrika war abgeschlossen.

Der Vertrag - Der Mord an Olof Palme

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