Читать книгу Die Kinder der Schiffbrüchigen - Jonas Nowotny - Страница 14
ОглавлениеKapitel 12
Frau Klämmerles Besuch lag zwei Tage zurück. Mit dem Handy am Ohr beobachtete Alexander die auf den Wellenausläufern eines Kiesfrachters tanzende MS Neckarqueen, das zweite und kleinere Schiff der Thalberg-Flotte.
»Mir ist egal, ob Sie pro Wort oder pro Seite abrechnen.« Er nickte einem Stammgast zu, der gerade das Schiff bestieg. Unter der Woche zählten meist Ruheständler zum Hauptpublikum, selten eine Schulklasse. Während der Sommerferien kamen zudem Eltern mit Kindern und erkundeten ihre Heimat von der Flussperspektive aus. Die großen Ferien waren jetzt jedoch zu Ende und die Rentner bei Kaffee und Kuchen wieder unter sich.
»Viel wichtiger ist, dass ich die Übersetzungen innerhalb von drei Tagen bekomme und dass sie vom Gericht akzeptiert werden.« In seine Stimme stahl sich ein gereizter Ton. Aus dem Internet hatte er sich eine Liste gerichtlich zugelassener Dolmetscher ausgedruckt und telefonierte einen nach dem anderen ab.
»Schade. Wenn Sie schneller wären, hätten Sie den Auftrag gehabt. Schönen Tag noch.« Er legte auf.
Seit dem unangekündigten Besuch von Frau Klämmerle war er nervös und unausgeglichen. Der Überfall hatte ihm der Coolness beraubt, die ihn sonst auszeichnete. Und wie wütend er auf Christian war! Er hatte Louis allein gelassen! Schon wieder! So kurz nach dem Unglück mit der Rauchbombe! Hatte er kein Verantwortungsgefühl? Empfand er nichts für den Kleinen? All das hatte er Christian im Zorn vorgeworfen und keinerlei Mitleid empfunden, als er vor ihm gestanden und gejammert hatte: »Ich war doch nur kurz im Keller, er hat geschlafen …« Nein, er hatte die Entschuldigungen nicht hören wollen, hatte Christians mitleiderregendes Gesicht nicht ertragen. Er war aus der Wohnung geflüchtet, war zum Thalberg-Container gefahren und hatte dort mit dem Vormundschaftsgericht telefoniert. Er musste erfahren, welche Unterlagen der Richter für eine Anerkennung benötigte. In erster Linie waren es beglaubigte Übersetzungen der Adoptionsunterlagen.
Alexander hatte inzwischen einen weiteren Dolmetscher angerufen und erklärte ihm sein Anliegen.
»Gut«, sagte er, »rufen Sie mich bitte zurück, wenn Sie den Preis definitiv wissen.« Seine Miene hellte sich auf. Er hatte einen Übersetzer gefunden, der den Auftrag zumindest nicht von vornherein ablehnte.
Die letzten Besucher bestiegen die MS Neckarqueen und quittierten die aufziehenden Gewitterwolken mit Sorgenfalten. Alexander sah Catrin nicht kommen, die plötzlich mit ihrer jüngsten Tochter Maria hinter ihm stand.
»Hallo, Bruderherz!«, näselte sie. Der Mund unter ihrer geschwollenen Nase deutete ein Lächeln an. »Ich würde dich ja gern umarmen, aber ich will dich nicht anstecken.« Sie schniefte in ein Taschentuch. In Alexander schrillten Alarmglocken. Wenn seine Schwester ihn mit diesem gekünstelt freundlichen Unterton anging, wollte sie etwas von ihm.
»Was willst du hier?«, fragte er gewollt gleichgültig und beobachtete, wie einer der Männer die MS Neckarqueen losmachte.
»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?« Sie sprach gedämpft. Maria schlief friedlich in einem Tragetuch, das sie um ihren Oberkörper geschlungen hatte.
»Kannst du dir das nicht denken?«, sagte Alexander. »Ich helfe dir mal: Man hat das Zeug in deinem Weidenkorb gefunden!«
»Welches Zeug?«
»Das Zeug, das den Brand ausgelöst hat. Wie ist es in deinen Korb gekommen, Catrin?«
»Der Korb stand unbeobachtet in einer Ecke, ich hatte ihn abgestellt. Jeder konnte da was reinstecken. Glaubst du wirklich, ich lege Rauchbomben?«
»Ich glaube gar nichts. Aber die Polizei scheint dich zumindest im Verdacht zu haben ...«
»Die Polizei hat jeden Winkel unserer Wohnung auf den Kopf gestellt. Sie haben nichts gefunden, nicht das Geringste. Ich habe mit der Rauchbombe nichts zu schaffen. Hör mal, das kannst du mir wirklich glauben, Alex.« Sie sah ihn betreten an. »Es tut mir weh, dass du mir so was zutraust.«
Alexander glaubte ihr kein Wort. Catrin war nicht dumm. Dass die Polizei keine Beweise bei ihr gefunden hatte, bedeutete gar nichts. Er schwieg, blickte auf den Neckar, beobachtete ein Schwanenpaar, das fauchend einer vorbeiziehenden Stockente drohte.
»Alex, ich will keinen Hehl daraus machen: Das mit eurer Adoption gefällt mir nicht, das gebe ich gerne zu. Ihr hättet Louis nicht zu euch nehmen dürfen. Es ist gegen die Natur, gegen Gottes Gesetz. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich Bomben lege.« Der Dieselmotor heulte auf und übertönte das Ende ihrer Rede. Gemächlich bewegte das Schiff sich zur Mitte des Flusses und fuhr entgegen dem Strom ab. Am Ufer standen Leute und winkten.
»Was willst du?«, fragte Alexander mit verschränkten Armen. Er versuchte, ihr direkt in die Augen zu schauen, doch sie wich aus und wandte ihren Blick dem Ufer zu. »Ist das da nicht…?« Sie blinzelte. »Doch! Das ist ja euer Fotograf. Wie hieß er noch gleich?« Sie deutete hustend die Uferböschung hinauf. Alexanders Augen folgten ihrer Hand. Er sah die Linse einer Kamera, die Oliver auf ihn und Catrin gerichtet hielt. Was wollte er schon wieder hier? Unwillkürlich winkte Alexander ihm zu. Oliver winkte zurück.
»Ein Suchender, wenn du mich fragst«, raunte Catrin.
»Du hast immer deine Missionarsklauen ausgefahren, was?«
»Sehr witzig.«
Oliver stellte den Roller ab und ging auf die Geschwister zu.
»Hallo!«, grüßte er und nestelte den Rucksack vom Rücken. »Ich habe mir die halbe Nacht um die Ohren geschlagen! Aber jetzt sind sie fertig.« Er lächelte und holte einen Umschlag aus dem Sack.
»Oh, die Fotos!« Alexander nahm das Kuvert in Empfang. »Das ist ja nett!«
Ein Lächeln umspielte Olivers Mund. Er blickte tief in Catrins Augen, bis sie ihren Blick verlegen abwandte.
»Zum Glück habe ich die Speicherkarte nicht gelöscht, nachdem ich die Fotos auf den Rechner kopiert hatte. Sonst wären Sie jetzt zusammen mit meinem Computer bei der Polizei. Wer weiß, wann ich meine Sachen zurückbekomme!« Alexander, der in den Bildern blätterte, richtete den Kopf auf.
»Die tappen übrigens nach wie vor im Dunkeln. Oder wissen Sie was?«, fragte Oliver. Alexander meinte, etwas Verräterisches in seinen Augen zu erkennen, die jetzt wieder Catrin fixierten. Hatte Oliver vorgestern nicht gesagt, auch die Speicherkarten lägen bei der Polizei?
»Es tut mir Leid, dass man Sie verdächtigt hat«, tastete Alexander sich heran.
»Ach, die Beamten haben mir gesagt, prinzipiell sind alle Gäste verdächtig«, erklärte Oliver gelassen. »Hat man Sie nicht verhört, Catrin?«
Catrin sah ihn mit offenem Mund an. Dann schüttelte sie wortlos den Kopf. Wie zum Protest gegen die Frage schnäuzte sie geräuschvoll in ihr Taschentuch.
»Oh«, grummelte Oliver, »da hab ich wohl was Falsches gesagt.« Verlegen rückte er den Rucksack zurecht und blickte Alexander an. Das ist schon eine komische Type, dachte Alexander. Oliver räusperte sich, als er nochmals in den Rucksack griff. Er zog einen weiteren, kleineren Umschlag hervor. »Das hier ist eine DVD mit den Dateien. Für weitere Abzüge, wenn Sie wollen.« Er lächelte Catrin verbindlich zu. »Auf Wiedersehen.«
»Vielen Dank auch nochmal!«, rief Alexander ihm hinterher. Oliver steuerte wieder auf die Vespa zu.
Catrin sah ihm nach. »Ein schwerer Fall«, raunte sie hinter ihrem Taschentuch und trat gedankenverloren gegen einen Kiesel. Mit dumpfem Plopf versank er im Neckar. »Björn und ich versuchen es wieder«, sagte sie plötzlich unvermittelt. Alexander lachte innerlich. Versuchen, eine nette Umschreibung für Sex. Trotzdem wusste er nicht, was er mit der Information anfangen sollte. Er entschied sich für einen Scherz. »Als Jesus sagte, lasset die Kinder zu mir kommen, hat er sicher nicht gemeint, es müssten alle von euch sein, oder?«
Catrin lächelte müde, und auch Alexander fand den Witz fad.
»Deshalb waren wir auf euer Feier.« Catrin stockte und suchte den Boden nach einem neuen Kiesel ab.
»Ihr ward auf Louis‘ Feier, weil ihr wieder ein Baby wollt?«
Catrin wagte ein halbes Lächeln, räusperte sich. »Nein, wenn wir ein viertes Kind bekommen, wird unsere Wohnung endgültig zu klein. Ich komme mir jetzt schon vor, als lebte ich auf einer Briefmarke. Wir wollen ein Haus.«
Alexander zog die Stirn in Falten. Noch immer ahnte er nicht, in welche Richtung die Unterhaltung steuerte. Er blickte seine Schwester ungeduldig an. Komm endlich zum Punkt, dachte er.
»Unser Bankberater meint, wir haben für ein Eigenheim zu wenig Erspartes.« Erleichtert atmete Catrin aus. Alexander wusste nicht, was er mit der Information anfangen sollte. Seit wann besprach seine Schwester solche Probleme mit ihm? Er gab keinen Anlass anzunehmen, dass sich seit ihrem Zerwürfnis wieder Vertrauen eingestellt hatte. Er schaute zum Himmel. Die Gewitterwolke zog heran. Er deutete mit dem Kinn zum Containerbüro der Thalberg Journeys. Er war im Dunkelblau des Firmenlogos lackiert. Eine schlechte Entscheidung, wie sich herausstellte, denn durch den dunklen Anstrich heizte das Büro sich im Sommer schnell auf. Doch statt den Container in einem helleren Ton zu lackieren, bauten sie eine Klimaanlage ein.
Das Äußere ließ nicht auf das geschmackvoll eingerichtete Innere schließen: Im Eingangsbereich standen eine Bananenstaude und ein cremefarbenes Sofa. An den Wänden hingen gerahmte Fotos der Thalbergflotte. Der zukünftige Gast sollte sich ein Bild von der Ausstattung der Schiffe machen können. Seine Reise buchte man am Tresen, der den Kundenbereich vom Office trennte.
»Ist Papa nicht da«, fragte Catrin und setzte sich auf den Drehstuhl ihrer Mutter. Alexander verneinte und machte sich in der winzigen Küchenzeile zu schaffen, die sich hinter einem Vorbau verbarg.
»Kaffee oder Tee?«
Catrin hustete. »Tee. Pfefferminz bitte, wenn du hast.«
»Klar. Mama trinkt ihn literweise.« Alexander fühlte eine Spannung, die sich jeden Moment entladen würde. Der Wasserkocher brodelte, ehe er sich abschaltete. Alexander goss kochendes Wasser in die Tassen.
»Zucker?«, fragte er und stellte ihr den dampfenden Tee auf den Tisch. Catrin schüttelte den Kopf. Komm, lass die Bombe hoch, Schwesterchen, dachte er. Mariannes Arbeitsplatz war penibel aufgeräumt und damit das genaue Gegenteil zu seinem eigenen. Es dauerte, bis er einen Platz freigeräumt hatte, um seinen Kaffee abzustellen. Auf dem Bildschirm des Laptops flackerte die Startseite von Queer.de.
»Ich wusste nicht, dass ihr plant, ein Haus zu kaufen«, nahm Alexander das Gespräch auf. Catrin wärmte die Finger an der heißen Teetasse. Maria schlief friedlich an ihrer Brust.
»Eigentlich würden wir lieber selbst bauen. Dann könnten wir bestimmen, wie alles sein soll. Und außerdem kann Björn viel selber machen.« Catrin rieb ihre Handflächen aneinander. »Die Bank findet aber, dass Björn zu wenig verdient, um die Raten zu bedienen.«
Alexander begriff endlich, was Catrin frieren ließ.
»Wie viel Eigenkapital fehlt euch«, fragte er, während er am Temperaturregler der Klimaanlage drehte.
Catrin nahm die Frage als Einladung und fiel mit der Tür ins Haus: »Meine Firmenanteile würden locker reichen.«
Alexander verschluckte sich. Sein Husten riss Maria aus dem Schlaf. Sie heulte los. Als Catrin sie beruhigt hatte, stellte Alexander klar: »Mit den Anteilen kannst du nichts anfangen.« Im Ohr pochte sein Puls.
»Die Sparkasse jedenfalls«, erklärte Catrin, »will sie nicht als Sicherheit anerkennen.«
»Du wolltest deine Anteile an die Bank verhökern?« Alexander war empört. »Und übermorgen haben wir dann fremde Menschen am Schreibtisch, weil ihr eure Raten nicht mehr zahlen könnt?« Er sprang auf und lief den schmalen Weg zwischen Wand und Tisch hin und her.
Catrin senkte den Kopf. »Ich will, dass ihr mich auszahlt«, sagte sie leise.
Alexander blieb stehen. Es dauerte einen Moment, bis seine Lippen sich zu einem Grinsen verziehen konnten. »Du möchtest was?«
»Reg dich jetzt nicht künstlich auf!«
Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Deshalb also ward ihr auf Louis‘ Fest! Gutwettermachen! Ich muss dich enttäuschen, Schwesterlein: Bei Thalberg Journeys sitzt der Euro keineswegs locker! Vor allem jetzt nicht, wo die Anetta renoviert werden muss.«
Mit vor dem Mund gepresstem Zeigefinger blickte Catrin ihn an. »Sie wacht auf, wenn du so brüllst.«
»Du willst unsere Firma verhökern. Wie soll ich da ruhig bleiben?« Er fixierte seine Schwester. »Wenn wir dich jetzt auszahlen, können wir die Kredite für die Anetta nicht mehr bedienen!«
»Ich ...«, begann Catrin, doch das Klingeln von Alexanders Handy unterbrach sie. Er blickte auf das Display.
»Ich will raus aus der Nussschale, Alex«, sagte Catrin, »die enge Wohnung macht mich verrückt. Und wenn jetzt noch ein Kind kommt …« Sie verzog das Gesicht zu einer Leidensmiene.
»Dann mietet euch doch ein Haus!«, zischte Alexander und drückte die grüne Taste am Handy. »Thalberg. Ah, super!« Seine düstere Miene hellte sich ein wenig auf. »Ja, ich bring Ihnen die Unterlagen dann gleich vorbei.« Er legte auf und trank einen schnellen Schluck.
»Ich weiß nicht, ob du schon mal mit drei Kindern was zur Miete gesucht hast, Alex«, kehrte Catrin zum Thema zurück, »fünf Hunde sind kein Problem, drei Kinder aber ein echter Ausschlussgrund.« Sie war ächzend aufgestanden.
»Das tut mir Leid. Aber wenn du jetzt deinen Anteil forderst, bricht das der Firma das Genick.«
Catrin nickte, ihren Mund verzerrt, als kämen ihr gleich die Tränen. »Ich werde das mit Papa besprechen«, sagte sie. »Es geht nicht an, dass meine Anteile nichts wert sind.«
Alexander öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Er überlegte es sich jedoch anders. »Ich muss jetzt weg«, sagte er stattdessen. Mit einem Leitzordner unter dem Arm folgte er ihr nach draußen. Die Gewitterwolken waren ohne Grollen weitergezogen. Die Septembersonne brannte.
»Du weißt, wie Papa an Thalberg Journeys hängt.«
»Wir werden sehen«, antwortete Catrin knapp und ging ein paar Schritte, ehe sie sich noch einmal umwandte. »Wenn ihr nicht auf meine Bitte eingeht, ziehe ich vor Gericht.« Alexander schüttelte den Kopf. Da war sie wieder, seine echte Schwester! Er wendete das Geöffnet-Schild an der Tür zu Bin gleich zurück. Schwermut überkam ihn. Wie einem treuen Pferd den Hals klopfte er mit der flachen Hand gegen den blauen Container. Würde er die Firma verlieren? Nein! Auch er konnte kämpfen. Und das genau das hatte er vor.