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Kapitel 14

Eine neue Woche hatte begonnen, ohne dass es Ermittlungserfolge der Polizei zu vermelden gab. Christian schob den Buggy, in dem Louis fröhlich gurgelte und Bläschen aus Spucke formte, den Weg hinauf zu Renates Wohnblock. Ein Motorroller brauste an ihm vorbei und tränkte die Luft mit Abgasen. Er hielt in Christians Blickweite. Der Fahrer stieg ab und hob den weißen, mit einem kanadischem Ahornblatt verzierten Schutzhelm vom Kopf. Der Wagner, dachte Christian. Was will der denn hier?

Christian hielt Abstand. Er wollte nicht von ihm gesehen werden. Er sah Oliver klingeln. Wenige Augenblicke später surrte der Türöffner und er verschwand im Wohnblock. Wen kennt er in diesem Haus? Christian wartete eine Minute und ging dann ebenfalls zur Haustür. Einem unbestimmten Gefühl folgend kramte er in der Jeans nach dem Schlüsselbund. Heute schien es ihm klüger, nicht zu klingeln, sondern den Schlüssel zu nehmen. Er hatte ihn nach seinem Auszug nicht zurückgegeben. »Behalte ihn, vielleicht brauchst du ihn mal«, hatte Renate damals gesagt.

Eilig hob er Louis aus dem Buggy und schloss die Haustür auf. Im Treppenhaus drangen Stimmen zu ihm herab. Zwei bekannte, aufgebrachte Stimmen. Eine gehörte unverkennbar Oliver, die andere seiner Mutter.

»Wir müssen leise sein«, beschwor er Louis flüsternd. »Oma unterhält sich, und Daddy will wissen, was die beiden zu bereden haben.« Louis lächelte feist, als verstünde er den Sinn des Detektivspiels.

»Ich finde nicht, dass das zu viel verlangt ist«, meinte Oliver. »Warum soll ich dir Zeit geben? Ich bin jetzt hier!«

Christian spitzte die Ohren, aber es gelang ihm nicht, aus Renates Flüstern verständliche Wörter zu fischen. Oliver lachte herablassend. »Nur ein paar Fragen. Mehr nicht«, forderte er.

»Ich rede nicht mit dir! Die Polizei war hier. Sie sagten, dass du mit dem Hausmeister gesprochen hast.« Renate sprach jetzt lauter und bestimmter, Christian verstand jedes Wort. Louis strahlte mit offenem Mund.

»Psst!« Christian nahm den Zeigefinger vor die Lippen.

»Ich hab nicht direkt mit ihm gesprochen. Er kam auf mich zu ...« Oliver klang bedrückt.

»Weißt du, was ich für Probleme kriege, wenn Horst dich hier sieht?« Renates Stimme zitterte. »Ich wusste, du würdest wieder hier auftauchen! Unangekündigt! Ich habe nächtelang nicht geschlafen, aus Angst, du würdest Horst einweihen!«

»Das habe ich nicht gewollt«, gab Oliver zurück.

»Wie hast du es dann gewollt?« Renate klang reserviert.

»Keine Ahnung. Ich möchte eben, dass ...«

Das Zuschlagen einer Wohnungstür unterbrach das Gespräch. Stöckelschuhe klackten im Treppenhaus. Freundlich grüßend stelzte eine Nachbarin vorbei. Kaum waren ihre Schritte verhallt, hörte er Renate drohend sagen: »Lass meine Familie in Ruhe! Wenn du sie zerstörst, dann ...«

Oliver fiel ihr lachend ins Wort. »Du drohst mir?«

Renate flüsterte wieder. Eilig nahm Christian zwei Stufen aufwärts und drückte sich gegen die Wand. Womit konnte Oliver seine Familie zerstören?

»Wie kannst du nur einfach herkommen?« Renate spukte fast vor Zorn. »Was, wenn Horst es mitbekommt oder Christian?« Ihre Stimme bebte.

»Ich will dir nicht schaden, verdammt!« Plötzlich klang Oliver defensiv. »Und was Christian angeht ...«

Renate nuschelte etwas. Christian stieg vorsichtig noch zwei Stufen. Jetzt musste er in der Hocke bleiben, sonst sahen sie ihn. Sein Name aus dem Mund des Krankenpflegers knüllte ihm das Herz zusammen. Es klang bedrohlich.

»Christian geht dich nichts an!« Louis horchte auf. Er schien Omas Stimme zu erkennen. Seine Augen wurden groß und er grinste. »Psst. Bleib leise«, beschwor Christian ihn. Louis grinste breiter und Christian wusste, was jetzt folgen würde. Und dann passierte es.

»Daaa daa!«, giggelte Louis. Sein Quaken hallte durch das Treppenhaus wie eine Fanfare. Christian blieb das Herz stehen.

Stille.

Louis lauschte.

Mit stockendem Atem blickte Christian auf sein Kind. Louis schien die Lautlosigkeit nicht geheuer. Unbehaglich verzog er das Gesicht, schloss die Augen und brüllte los. Christian holte tief Luft, hielt eine Sekunde inne und trat die Flucht nach vorn an. Er stieg die letzten beiden Stufen hinauf. Renate blickte ihn erschrocken an. Es waren die Augen einer Verfolgten, die schmerzhaft erkannte, in eine Sackgasse geraten zu sein.

»Geh jetzt«, forderte sie Oliver auf, ohne ihn anzusehen. Ihre Augen krallten sich in Christians Blick.

»Ich komme wieder«, versprach Oliver. Wenige Sekunden später trafen sich die Augenpaare der beiden Männer.

»Hallo, Christian«, zischte der Krankenpfleger zwischen geschlossenen Zähnen hervor und schob sich an ihm vorbei.

»W ... Was willst du hier?«, rief ihm Christian nach, doch Oliver hob nur abwehrend die Hand, ohne sich umzudrehen. Die Haustür fiel ins Schloss. Renate stand im Türrahmen. »Hallo«, sagte sie und wischte sich eine Träne von der Wange.

»Was wollte der von dir? Kennt ihr euch? Woher kennt ihr euch?«

Renate fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und knipste ein gezwungenes Lächeln an. Sie machte einen Schritt auf Christian zu.

»Louis, mein Kleiner! Komm zu Oma. Geht’s dir wieder gut?« Ihre Stimme war belegt.

Louis lächelte und streckte die Ärmchen nach ihr aus. Christian reichte seinen Sohn weiter.

»Was wollte der Typ von dir?«, fragte er.

»Nichts.« Renate verschwand in die Wohnung.

»Mama. Ich hab euer Gespräch belauscht.«

Christian folgte ihr in die Küche. Sie hantierte einhändig an der Kaffeemaschine. »Was habe ich dir übers Lauschen beigebracht?«

Christian verdrehte die Augen.

»Weshalb bedroht er dich?«

»Da musst du etwas falsch verstanden haben. Er hat mich nicht bedroht.« Sie wandte sich Louis zu. »Dein Daddy immer! Er sieht überall Bedrohungen!«

Christian seufzte. »Hör auf damit, Mama! Ich sehe doch, dass du geweint hast. Ihr habt euch angeschrien. Sag mir, was er von dir will!«

»Er wollte mir ein Zeitungsabo verkaufen, und ich habe abgelehnt. Da hat er ein bisschen ungehalten reagiert, das ist alles«, sagte Renate. Christians Blick verfinsterte sich.

»Mama, er vertickt keine Zeitungen. Er ist Krankenpfleger. Ich bin nicht blöd.«

Renate öffnete den Hängeschrank und holte zwei Kaffeetassen heraus. Christian versuchte es mit einem vertraulichen Ton: »Hast du so wenig Vertrauen zu mir, dass du nicht darüber reden kannst?«

»Es ist so, wie ich gesagt habe: Zeitungsabo. Die verdienen ja nicht viel im Krankenhaus. Und jetzt Schluss damit!« Sie schleuderte eine Kaffeetasse zu Boden. Laut zerschellte das Porzellan auf den Fliesen zu tausend Scherben. Christian riss die Augen auf und auch Louis schien perplex. Christian ging auf ihn zu und strich ihm über die Wangen, dabei blickte er seiner Mutter in die Augen. Sie glänzten und warfen sein Spiegelbild zurück, als wollten sie ihn daran hindern, in ihre Seele zu blicken. Er spürte, heute bekam er keine Antwort. Vielleicht sollte er Oliver im Krankenhaus einen Besuch abstatten?

Louis hatte den Schrecken über die polternden Tassen verdaut und streckte die Ärmchen nach seinem Vater aus. Renate verschwand und kam zurück mit Eimer und Besen. Sie sammelte die Splitter ein und fegte stumm.

Die Kinder der Schiffbrüchigen

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