Читать книгу Die Kinder der Schiffbrüchigen - Jonas Nowotny - Страница 8
ОглавлениеKapitel 6
Der beißende Geruch von Rauch wollte Christian nicht aus der Nase. Alexander hatte ihn vom Krankenhaus nachhause geschickt. Er solle sich ausruhen – er könne ohnehin nichts für Louis tun. Alexanders kalter Blick ließ ihn noch immer frösteln. Wie konntest du ihn nur allein lassen? Der selbe Vorwurf, immer wieder. Innerlich widersprach er Alexander: Du hast mich doch rufen lassen! Du hast doch das Babyphone eingesteckt! Aber er schwieg und senkte den Kopf. Seine Hände zitterten, wenn er sich bewusst machte, wie knapp es um seinen Sohn gestanden hatte. Und es war noch nicht ausgestanden. Die Ärzte wollten Louis noch ein paar Tage zur Beobachtung in der Klinik behalten. Mit Prognosen bezüglich etwaiger Spätfolgen durch den Atemstillstand hielten sie sich zurück …
Auch die Frage nach dem Täter drückte auf sein Gemüt. Der Schock, dass es offensichtlich jemanden gab, der ihm und seiner Familie Schaden zufügen wollte, saß tief. Wer war es? Wer steckte hinter dem Rauchbombenattentat? Zu gern hätte er geglaubt, Catrin stecke dahinter. Aber das war absurd. Sie war selbst Mutter. Eine Mutter konnte einem Kind niemals etwas zuleide tun. Aber es gab auch Mütter, die sich nicht um ihre Kinder scherten … Er wischte den Gedanken fort. Nein, Catrin war unschuldig. Er war froh, dass er sich Olivers vollen Namen gemerkt und der Polizei genannt hatte. Irgendetwas an ihm war ihm verdächtig vorgekommen. Hatte er mit dem Anschlag zu tun?
Christian hatte sein Haus erreicht und lugte durch den Wurfschlitz in den Briefkasten. Mit einer unangenehmen Vorahnung schloss er den Kasten auf und nahm die Briefe heraus. Ausländeramt stand auf einem. Sein Puls beschleunigte sich. Er legte den Brief auf den Postkasten und betrachtete das andere Kuvert. Es trug den Stempel der amerikanischen Adoptionsagentur. Bevor er den Umschlag öffnen konnte, klingelte sein Handy. Die Titelmelodie von »Queer as folk« ertönte und ein Foto erschien auf dem Display. Nicht jetzt, Mama, dachte er und drückte den Anruf weg.
Er wandte sich wieder der Post zu. Fünf Seiten geheftetes Papier im Kuvert der Adoptionsagentur. Auf dem Dokument klebte ein gelbes Post-it: »Congratulations!«
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er überflog den englischen Text. Das offizielle Adoptionsurteil. Jetzt waren ihre Unterlagen endlich komplett. Sie würden das jämmerliche Gefühl, unvollständig zu sein, ablegen. Louis war jetzt hochoffizielles Mitglied der Thalbergfamilie, hier stand es schwarz auf weiß. Christian nahm ein weiteres Blatt aus dem Umschlag. Unglaublich, dass ihn einmal ein Dokument in Din-A5-Größe glücklich machen würde: die Geburtsurkunde seines Sohnes. Neben der Sterbeurkunde die einzige Ehrung, die man ohne eigene Leistung erhält, dachte er. Für ihn war dieses Stückchen Papier im wahrsten Sinn des Wortes eine Auszeichnung: Es zeichnete Alexander, Louis und ihn als das aus, was sie in ihren Herzen bereits waren: eine Familie. Vater, Vater und Kind.
Das Handy klingelte wieder.
»Ja, Mama?«
»Wie geht es dir? Wie geht es Louis?«
Christian konnte seine Mutter nur schwer verstehen. Sie flüsterte. »Mein Chef lässt mich nicht weg, aber heute Abend, wenn ich für Papa gekocht habe, komme ich ins Krankenhaus.«
»Mama, das ist nett, aber ich bin schon wieder entlassen.«
»Louis liegt doch noch im Krankenhaus, oder? Mein Gott, wer ist denn bei ihm?«
»Alexander. Hör zu, Mama, ich muss Schluss machen, da ist Post vom Ausländeramt ...«
Sie ignorierte das Gesagte. »Mein Gott, wer tut denn so was? Eine Rauchbombe! Habt ihr schon was von der Polizei gehört? Weiß man, wer es war?«
Christian pochte das Blut in den Schläfen, was immer geschah, wenn Renates Stimmlage aus Sorge um ihn zwei Oktaven stieg. Er war im Moment nicht in der Lage, auf seine Mutter einzugehen. Der Anblick des Schreibens vom Ausländeramt lag ihm tonnenschwer im Magen.
»Nein, Mama, wir wissen nichts. Lass uns später nochmal telefonieren, okay?« Christian legte auf. Gedrückt nahm er den Brief vom Ausländeramt. Er wusste, dass er keine guten Nachrichten enthalten konnte. Langsam riss er den Umschlag auf und entfaltete das Schreiben.
Sehr geehrter Herr Christian Thalberg, sehr geehrter Herr Alexander Thalberg,
hiermit werden Sie freundlichst daran erinnert, dass die Fiktionsbescheinigung ‚Ihres‘ Sohnes Louis seit zwei Wochen abgelaufen ist. Ihnen wird deshalb dringend empfohlen, umgehend bei uns vorzusprechen.
Mit freundlichen Grüßen
Andrea Bonetti
-Ausländeramt-
Fiktionsbescheinigung. Christian fand die Vokabel, die für einen Aufkleber in Louis‘ amerikanischen Pass stand, der ihm den Aufenthalt in Deutschland gestattete, noch immer nichtssagend. Er schaute auf die Armbanduhr. Dreizehn Uhr. Die Beamten beim Amt müssten jetzt langsam vom Mittagstisch zurückkommen. Beste Voraussetzung für einen Besuch bei Frau Bonetti also, dachte er und hastete die Stufen zur Wohnung im Dachgeschoss hinauf. Dort kramte er im Ikea-Wohnzimmerschrank nach Louis‘ Pass.
***
Christian schritt den tristen Gang des Amtes entlang. Er und Frau Bonetti fanden keinen Draht zueinander. Bei jedem Besuch stand ihr die Lustlosigkeit ins aufgedunsene Gesicht geschrieben und trieb ihn regelmäßig zur Raserei. Ihre dicklichen Wangen hingen schlaff herunter und hoben sich, zumindest in seiner Gegenwart, nie für ein freundliches Lächeln – selbst dann nicht, wenn Louis sie vergnügt und zahnlos sabbernd angrinste. Aus unerklärlichen Gründen schien er Frau Bonetti zu mögen. Seufzend drückte Christian die Klinke der bekannten Tür.
»Guten Tag, Frau Bonetti. Sie haben uns angeschrieben«, begann Christian und lächelte zum Trotz besonders nett.
»Was han i ihna denn gschriba?« Immer wenn die dicke Frau mit italienischem Namen am Revers in breitestem Schwäbisch loslegte, war Christian irritiert.
»Die Fiktionsbescheinigung für unseren Sohn ist abgelaufen«, half er ihr. Bei dem Wort »unseren« malte er mit seinen Zeigefingern Gänsefüßchen in die Luft. Damit imitiere er die Anführungszeichen, die die Damen vom Ausländeramt in ihre Briefe druckten, wenn von Louis als ihrem Sohn die Rede war. Christian legte Louis‘ Pass auf den Tresen. »Wir wollten doch erst die amerikanischen Dokumente abwarten. Sie sind heute gekommen. Jetzt können wir uns die Verlängerung des Aufenthaltstitels sparen.«
Frau Bonetti nahm den Ausweis. »Aah! Si sen des.
Ja, wir sind das, dachte Christian. Die zwei Homos mit dem schwarzen Baby.
»Han Se gar net gleich kennt. Sonscht sen Se jo immer mit dem kloine Bobbele do. Wo isch er denn hait?«
»Im Krankenhaus. Rauchvergiftung«, gab Christian trocken zurück. Die buschigen Augenbrauen der Sachbearbeiterin schnellten nach oben.
»Was isch denn passiert?«
Christian deutete auf die Zeitung, die auf dem Schreibtisch lag. »RAUCHANSCHLAG AUF FERIENSCHIFF«, zitierte er die Schlagzeile.
»Aah! Sie sen des.«
Christian zuckte ein bitteres Lächeln im Mundwinkel. Wortlos legte er das orangenfarbene Kuvert auf den Tresen.
»Was hen Se denn do?«
Christian griff in den Umschlag und zog die Papiere heraus.
»Das ist das Adoptionsurteil, nach dem mein Mann und ich die rechtlichen Väter sind. Und das ist Louis‘ Geburtsurkunde.«
Frau Bonetti betrachtete die Papiere skeptisch. »Des isch jo elles uff Englisch.«
»Naja, viel Text hat so eine Geburtsurkunde ja nicht. Und die sagt ausdrücklich, dass ich der Vater bin. Sehen Sie: Parents Name, Christian Thalberg. Parent bedeutet auf Deutsch Eltern.«
»Verkaufet Se me net fir bleed! A bissle Englisch ko i au. Aber Amtssproch isch und bleibt aber nun mol Deitsch.«
»Okay! Ich übersetze es Ihnen schnell.«
»Nix do. Des muss scho a vereidigter Übersetza übersetza. Sie kennet mir jo viel verzela.« Frau Bonetti grinste feist.
»Und was machen wir jetzt? Fakt ist, dass Louis nun amtlich mein Sohn und damit Deutscher ist. Die Ausländerakte kann geschlossen werden, denke ich …«
»Net so schnell! Höret Se: Au wenn Se mir jetzertle des Urteil uff Daitsch vorlegat, ko i jo net prüfa, ob des elles stemmt und mit rechte Dinge zugange isch on der Louis au tatsächlich Ihr Sohn isch.« Auch Frau Bonetti zeichnete Luftgänsefüßchen. »Der Louis brauchtn daitsche Pass, damit i di Akte zua macha ko. Ohn den Pass krieget Se net bei mir, sondern uff de Stadt.«
Christian schnaufte. »Gut, dann kläre ich das jetzt auf der Stadt.« Er klaubte die Dokumente zusammen und verabschiedete sich.
»Es geht mi jo nix oh«, unkte ihm Frau Bonetti hinterher, »aber ih denk jo, dass Se sich au bei d Stadt die Zähn ausbeißet. Ohne Oakennung tun di au nix.«
Christian lächelte müde und zog die Tür hinter sich eine Spur lauter zu als beabsichtigt. Genervt überquerte er die Straße, die Ausländer- und Passamt voneinander trennte. Christian war sich sicher, dass in diesem Moment beim Passamt das Telefon klingelte und sein Kommen durch Frau Bonetti angekündigt wurde.
***
Missmutig zog Christian sich eine Nummer am Automaten. Vor Ihnen warten 1 Personen. Er setzte sich auf einen unbequemen Plastikstuhl und schaute sich um. Viel mehr als einen traurigen Ficus Benjamini und blanke weiße Wände gab es nicht zu sehen. Er vermutete, dass die Kargheit berechnende Absicht war. Die Kontrastarmut sollte einen stumpfsinnig machen und den Effekt verstärken, den die plötzliche Buntheit in Frau Mäxles Zimmer auf die Netzhäute des Besuchers hatte. Ihr Büro war mit Ansichtskarten aus aller Herren Länder tapeziert. Christian vermutete, dass sie von dankbaren Bürgern stammten, denen sie großmütig einen Pass ausgestellt hatte. Christian malte sich aus, wie einfach es auch in diesem Fall sein könnte: Er legte das amerikanische Adoptionsurteil und die Geburtsurkunde vor. Dann füllte er einen Antrag auf einen deutschen Kinderausweis aus. Louis bekam den Pass, war Deutscher und durfte im Land bleiben. Das war der Weg, den schon ein paar Heteropaare vor ihm gegangen waren.
Die Anzeigetafel an der Wand signalisierte, dass Frau Mäxle nun Zeit für ihn hatte. Er betrat das Büro. Rein optisch betrachtet waren sie und Frau Bonetti Zwillinge. Frau Mäxles übertrieben freundliches »Herr Thalberg!« verriet ihm, dass die Ausweisgöttin auf sein Kommen schon vorbereitet war.
»Wie geht‘s Ihnen denn? Heute ohne den kleinen Louis?« Ihre Freundlichkeit klebte.
Christian ignorierte die Frage und kam direkt zur Sache: »Ich brauche einen Kinderausweis für ihn. Wir haben jetzt alle notwendigen Papiere beisammen.« Christian reichte Frau Mäxle Urteil und Geburtsurkunde.
»Schön. Das freut mich.« Frau Mäxle musterte die Dokumente und gab sich plötzlich pikiert. »Oh, das sind ja nur die amerikanischen Originale. Wir brauchen selbstverständlich davon beglaubigte Übersetzungen und eine Anerkennung der amerikanischen Entscheidung durch ein deutsches Vormundschaftsgericht.«
Christian holte tief Luft. »Das überrascht mich jetzt. Wir … wir kennen Paare, allerdings Mann und Frau«, Christian setzte ein vielsagendes Lächeln auf, »die brauchten weder Übersetzung noch Anerkennung.«
»Es hat selbstverständlich nichts damit zu tun, dass Sie und ihr ... äh ... Ehemann ... äh ... ich meine, ihr Lebenspartner …« Frau Mäxle schloss die Augen, senkte den Kopf, atmete tief ein und aus und sprach dann flüssig: »In Deutschland können eingetragene Lebenspartner nicht gemeinsam adoptieren, wie Sie bestimmt wissen, Herr Thalberg.« Christian nickte unwillig. »Und jetzt legen Sie mir einfach ein amerikanisches Urteil und eine Geburtsurkunde vor, wonach Sie und ihr Lebenspartner Väter von Louis sind. Wie soll ich von meinem Schreibtisch aus denn prüfen, ob das alles statthaft ist?«
Christian schluckte und wägte seine Worte ab. »Mich wundert nur eins: Wenn Sie und das Ausländeramt davon ausgehen, dass unser Kind illegal adoptiert wurde, warum verlangen und akzeptieren Sie seit Monaten Unterschriften von uns unter Ihren Papieren?«
»Da gebe ich Ihnen Recht, Herr Thalberg. Eigentlich hätte das Jugendamt einen Verfahrenspfleger einsetzen müssen, der Louis‘ Vormundschaft bis zur deutschen gerichtlichen Anerkennung übernimmt.« Sie schaute Christian ernst über ihren Brillenrand an. »Warum das Ausländeramt darauf nicht bestanden hat, ist mir schleierhaft.« Frau Mäxle schob ihre Brille die Nase hoch. Ihr pinkfarbener Seidenschal saß satt um ihren Hals.
»Sie können uns nicht zwingen, das Anerkennungsverfahren zu beantragen«, sagte er matt. Angst, ihr unverhofftes Glück könnte sich zum Desaster entwickeln, breite sich in ihm aus. Nur pro forma hatten sie vor zweieinhalb Jahren einen gemeinsamen Adoptionsantrag gestellt. Sie wussten, dass es ihnen als Männerpaar rechtlich weder in Pennsylvanien noch in Deutschland möglich war, gemeinschaftlich ein Kind zu adoptieren. Dennoch entsprach es gängiger Praxis in Amerika und Deutschland, dass bei der Begutachtung des Adoptionsbewerbers gleichermaßen sein Partner durchleuchtet wurde. Von ihm verlangte man ebenso Gehaltsnachweise, Führungszeugnisse, Bluttestergebnisse, Röntgenaufnahmen der Lunge und die Beantwortung eines intimen Fragebogens. Der Plan der Männer war, dass er, Christian, offiziell adoptierte und dann in den Erziehungsurlaub ging. Alexander war juristisch gesehen nur der Begleiter. Überraschend wurde er doch zum Vater.
»Niemand möchte Sie zu etwas zwingen, Herr Thalberg. Sie sollten sich nur sehr genau überlegen, was Sie tun.« Frau Mäxle lächelte ihn herausfordernd an. Christian wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Vor seinem inneren Auge begann ein Film abzulaufen: »I‘ve got a big surprise!” Die Agentin der amerikanischen Adoptionsagentur klingt euphorisch. Und die Nachricht ist tatsächlich mehr als hoffnungsvoll: Gerade eben hat die Agentur die sogenannte Vermittlungszulassung für den Nachbarstaat New Jersey erhalten und will Louis‘ Adoption dort durchzuführen. Christian und Alexander schauen sich fragend an. Was bedeutet das alles? »We want you both to be fathers!«, erklärt die Agentin voll Überschwang und schildert, dass New Jersey seit kurzer Zeit Männerpaaren erlaubt, Kinder zu adoptieren. Keiner der beiden wagt in diesem Moment, Bedenken anzumelden – Bedenken, dass diese Änderung der Faktenlage in Deutschland zu Problemen führen kann. In den vergangenen Monaten hat Christian jeden Anflug von Sorge im Keim erstickt. Er will einfach daran glauben, dass er Louis‘ Pass ohne Kampf, ohne Anerkennung durch ein deutsches Vormundschaftsgericht, bekommt. Seine Angst vor dem Gericht rührt daher, dass ein entsprechendes Verfahren Besuch vom Jugendamt bedeutet. Und die Einstellung des örtlichen Jugendamtes zum Thema Homo-Adoption kennt Christian von einem Gespräch mit der Sachbearbeiterin Frau Klämmerle. »Wir haben pro Kind drei Bewerberpaare«, hatte Frau Klämmerle erklärt, »sicher verstehen Sie, dass wir Sie nicht als Elternpaar berücksichtigen können. Wir suchen immer geeignete Eltern für das Kind aus. Nicht umgekehrt.« Sie lächelte verbindlich. »Wir suchen Eltern für Kinder, nicht Kinder für Eltern, verstehen Sie?« Und ob sie verstanden hatten: Eine Adoption durch Männer würde das Amt weder befürworten noch unterstützen. Das Thema Auslandsadoption war ebenfalls innerhalb einer Minute abgehakt. »Unsere Behörde führt keine Auslandsadoptionen durch. Bitte wenden Sie sich an einen freien Träger.« Und schon hatte Frau Klämmerle sie aus dem Büro dirigiert. Der Schwung, mit dem sie die Tür schloss, signalisierte: Melden Sie sich nie wieder! Mit gesenkten Häuptern verließen die Männer das Landratsamtsgebäude. Niemand hatte damit gerechnet, offene Türen einzurennen. Doch eine gewisse Grundfreundlichkeit hatten sie erwartet …
Frau Mäxle holte Christian mit einem Räuspern in die Gegenwart zurück. »Sicher können wir Ihren Antrag zum Anerkennungsverfahren nicht erzwingen«, wiederholte sie sich und trommelte mit pink lackierten Nägeln auf den Schreibtisch. »Aber«, sie lächelte breit, »ich kann das Anerkennungsverfahren auch selbst in die Wege leiten, wenn ich über einen Ausweisantrag entscheide.«
Für einen Moment stolperte Christians Herz. Drohte sie ihm? Sichtlich mit der Wirkung ihrer Worte zufrieden, lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück. Er ächzte bedenklich unter ihrem Gewicht.
»Gut«, krächzte Christian tonlos. »Dann werde ich das mit meinem Mann besprechen.«
Frau Mäxle nickte. »Tun Sie das. Auf Wiedersehen!«
***
Christian verlor noch einmal eine gute halbe Stunde auf dem Ausländeramt. Frau Bonetti ließ ihn warten und flötete ihm entgegen: »I hans ihna jo glei gsagt, dass se die Oakennung brauchet!«
»Was würden Sie tun, wenn ich einfach keinen Pass beantrage?«
»Dann verlängret wir die Fiktionsbescheinigung net.«
»Und?«
»Ihr Sohn ...«, wieder Gänsefüßchen, »... hat dann koin Ufenthaltstitl. Er isch also illegal im Ländle. Mit elle Konsequenza.«
»Sie würden ein Baby ausweisen?« Christian furchte die Stirn. »Wohin denn? Nach Amerika? Er hat da niemanden! Wir sind seine Eltern, seine einzigen Bezugspersonen!«
Frau Bonetti zog ihre breiten Schultern empor und ließ sie wieder fallen. »Wisset Se, das entscheidet mei Chef, net i und i persönlich glaubs, Jugendamt würd scho gugga, dass der Kloine ind richtige Händ kommt. I an ihrer Stell dät jetzt gugga, dass id Oakennung krieg.« Sie nahm Louis‘ Pass und verlängerte die Fiktionsbescheinigung um weitere drei Monate. Bis dahin, befand sie, sollte es möglich sein, das gerichtliche Verfahren zumindest in Gang zu bringen.
Auf der Straße kickte Christian gegen einen Mülleimer. »So eine Scheiße!« Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar und ließ sie im Nacken ruhen. Wütend blickte er in den grauen Himmel.
»Entschuldigen Sie«, sagte eine ruhige weibliche Stimme hinter ihm. Erschrocken fuhr Christian herum.
»Sie sehen unglücklich aus«, bemerkte die Dame in brauner Strickweste, »dürfte ich Ihnen unser Magazin ans Herz legen?« Sie reichte Christian ein Heft mit der Aufschrift Embassy. Die Frau lächelte warm. »Es spendet Trost«, versicherte sie.
Die Verrückten aus Catrins Truppe werden immer aufdringlicher, dachte Christian. Er erwiderte kalt den Blick der Frau und unterdrückte den unbändigen Wunsch, ihr seine Meinung über Jesus zu erzählen. Er ließ sie in ihrem seligen Lächeln stehen. Der Wind frischte auf, in der Ferne rollte das Schwarz einer Gewitterwolke auf ihn zu. Christian sputete sich; er wollte nachhause.