Читать книгу Die Kinder der Schiffbrüchigen - Jonas Nowotny - Страница 3
ОглавлениеKapitel 1
Für
J-N. und L.
Mein Herz schlägt für Euch!
Oliver hatte Glück: Mit blauen Bändern und Heliumballons geschmückt lag die MS Anetta noch am Kai. Über dem einsamen Rettungsboot am Heck wehte eine Flagge in den Regenbogenfarben. Oliver kettete seine Vespa an eine Kastanie und nahm eilig die Treppen hinunter zur Anlegestelle. Er musste aufs Schiff. Nur wie ihm das gelingen sollte, wusste er nicht.
An der Anlegestelle hob er seine Canon und zoomte sich das Gesehen auf der Anetta heran. Festlich gekleidete Menschen amüsierten sich mit Sektgläsern in den Händen und fröhlichen Gesichtern auf den Freidecks. Oliver interessierte sich nur für die Frauen unter den Passagieren. Würde er sie erkennen, wenn er sie sah? Als ein bärtiger Mann in Kapitänsuniform seine Aufmerksamkeit erregte, drückte er den Auslöser. Noch auf dem Steg steckte sich der Bärtige in der hohlen Hand eine Zigarette an. Er inhalierte und blickte nervös auf die Armbanduhr. Schnell stieß er den Rauch wieder aus. Oliver stand keine zehn Meter von ihm entfernt, trotzdem zoomte er näher an ihn heran. Der Fotoapparat klickte, als der Kapitän direkt in die Linse schaute. Ein verärgertes Rucken lief durch das schwarzbärtige Gesicht. An der Zigarette ziehend, schritt er auf den Fotografen zu.
Oliver fühlte sich ertappt und senkte die Kamera.
»Da sind sie ja endlich! Wir warten schon eine halbe Stunde!«
»Äh ...«, machte Oliver. »Ich fürchte, Sie verwechseln ...«
»Sie sind doch der Eventfotograf«, unterbrach ihn der Bärtige, »Ihre Kamera sieht mir jedenfalls ziemlich professionell aus!«
Oliver schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich habe das Schiff nur aus Motivgründen fotografiert.«
Der Kapitän zog an der Zigarette und musterte ihn aus den Augenwinkeln. Ein Blick, der Oliver unangenehm wurde.
»Ich geh dann mal weiter«, sagte er und warf einen letzten flüchtigen Blick auf das geschmückte Schiff.
»Warten Sie«, bat der Kapitän, nun stahl sich etwas Freundlichkeit in sein Gesicht, »mit Ihrer Kamera lassen sich doch sicher tolle Fotos schießen?«
Oliver nickte vorsichtig. Er wusste nicht worauf die Frage abzielte. Der Bärtige schnippte die Zigarette weg.
»Wollen Sie nicht an Bord kommen und ein paar Bilder machen?«
»Wie bitte?« Oliver furchte die Stirn.
»Entschuldigen Sie, ich bin immer sehr direkt.« Er streckte Oliver seine Bärentatzen entgegen. »Claus Thalberg. Mir gehört das Schiff.« Kraftvoll drückte er Olivers Hand. »Wir begehen heute die Namensfeier meines Enkels Louis. Leider, so scheint es, ...«, er steckte sich eine neue Zigarette in den Mund, »leider hat uns der Fotograf versetzt. Alle Gäste sind schon an Bord und ich will jetzt ablegen.« Thalberg hielt die Zigarette ans Feuerzeug. »Wollen Sie nicht einfach aufs Schiff kommen und für die Erinnerungsfotos sorgen? Natürlich nur, wenn Sie Zeit haben.«
Oliver zögerte, obwohl er sofort begriff, welche Chance sich ihm gerade bot. Der Kapitän zog aus der Innentasche seiner Uniform ein Portemonnaie. »Sie sollen ja nicht umsonst arbeiten«, sagte er und streckte ihm zwei Fünfzig-Euro-Scheine entgegen. »Die Abzüge bezahle ich dann selbstverständlich extra. Essen und Trinken Sie, soviel Sie wollen.«
Oliver jauchzte innerlich auf. Konnte es wahr sein, dass ihn heute das Glück verfolgte? Dieser unerwartete Job auf dem Schiff würde ihm ermöglichen, sich ihr unauffällig zu nähern. Er konnte sie beobachten, ohne sie gleich, wie es in ihrer Wohnung der Fall gewesen wäre, mit den Tatsachen zu konfrontieren.
»Ich … ich habe heute frei. Warum also nicht.« Er nahm die Geldscheine. »Erwarten Sie aber nicht zu viel von meinen Fotos. Ich bin kein Profifotograf.«
»Ausgezeichnet!«, entgegnete Thalberg lachend und schlang den kräftigen Arm um Olivers Schulter, als sei er ein neuer Matrose. Zufrieden blies er Rauchwölkchen in den Himmel.
Die Stufen zum Freideck nahm Oliver mit einem Schmunzeln um den Mund. Er dachte: Hier bin ich! Ihr habt mich nicht eingeladen, aber hier bin ich!
Thalberg führte ihn zum Anlass des Festes: Louis Thalberg. Mit wachen, neugierigen Augen blickte das Baby aus dem Kinderwagen. Olivers Miene gefror: Der Säugling war schwarz. Das hatte er nicht erwartet.
»Das hier sind Louis‘ Eltern«, stellte der Kapitän seinen Sohn Alexander und einen weiteren jungen Herren vor.
Oliver sortierte seine Gedanken. Sein Blick wechselte von einem Mann zum anderen. Beide steckten in sommerlichen Anzügen. Der im beigen war also dieser Christian, dessen Namen er vorhin beim Hausmeister erfahren hatte, als er um ihren Wohnblock geschlichen war. Alexander trug Dunkelblau und musterte Oliver freundlich.
»Und das ist Herr ...«, fuhr der Kapitän seine Vorstellungsrunde fort und fischte in Olivers Augen nach einem Namen.
»Wagner. Oliver Wagner«, antwortete Oliver. Er wischte die schweißnasse Hand an seiner Stoffhose ab, ehe er sie Alexander entgegenstreckte. »Ich bin hier heute für die Fotos zuständig.«
Alexander nahm die Hand. »Sehr erfreut.«
»Und wo ist … wo ist seine Mama?«, fragte Oliver, während er jetzt Christian die Hand reichte.
»Sie schütteln ihr gerade die Hand«, antwortete Christian. »Wir«, er legte Alexander demonstrativ den Arm um den Hals, »sind Louis' Eltern.«
Oliver nickte. Es war nicht nur die Nachmittagssonne, die ihm weiter den Schweiß auf die Stirn trieb.
»Ach so. Ach so ist das«, stammelte er.
»So ist das«, lachte der Kapitän. »Dann sind wir ja jetzt vollzählig und ich kann endlich ablegen.« Thalberg salutierte und ging.
Oliver bemerkte Christians misstrauisch taxierenden Blick auf sich ruhen. Mit Christian hatte er keinen guten Start, so viel war sicher. Schützend hob er sich die Kamera vor das Gesicht. »Cheese.« Das Kommando wirkte: Die beiden Männer prosteten gestellt lächelnd in die Linse.
»Es tut mir Leid, falls ich eben in ein Fettnäpfchen getreten bin.« Oliver senkte die Kamera. »Ich wusste nicht, dass ...«, er zögerte. Auf keinen Fall sollte er nochmal jemanden brüskieren. Er begann den Satz neu. »Ihr habt das Baby adoptiert?«
Alexander nickte.
»Cool.« Oliver räusperte sich. »Wirklich. Geht das denn heutzutage? Ich meine … äh … zwei Männer und so?«
»Nicht in Deutschland«, erklärte Christian schnippisch, »Louis ist aus den USA. Da funktioniert das«.
»Verstehe«, sagte Oliver, »wie lange musstet ihr in den USA leben, bis die Adoption abgeschlossen war?«
»Gar nicht«, gab Christian zurück. Ihn nervte die Unterhaltung sichtlich. »Wir haben die ganze Zeit in Deutschland gelebt.«
»Wie geht das denn? Musstet ihr nicht überprüft werden, ehe sie euch ein Kind geben?« Oliver war ehrlich an dem Prozedere interessiert, als beträfe ihn das Thema persönlich. Und das tat es auch, das wurde ihm in diesem Moment bewusst.
»Selbstverständlich brauchten wir einen Sozialbericht«, sagte Christian. »Wir wurden insgesamt acht Mal von der amerikanischen Sozialarbeiterin besucht, ehe wir Louis zugesprochen bekamen. Nur das deutsche Jugendamt, das haben wir nicht gefragt.«
»Und das lässt sich das Amt so gefallen?« Oliver war verblüfft. »Eine Adoption quasi durch die Hintertür, da sollte man meinen, das Amt wäre ...« Er unterbrach sich selbst, weil Christians Blick sich verfinsterte.
»Ich denke, das Thema Behörden lassen wir heute lieber«, schlug Alexander ruhig vor, »da liegt das eine oder andere im Argen.«
»Genau«, gab Oliver retour und wich einen Schritt zurück. »Ich mische mich dann mal unter die Leute und mach ein paar Fotos.« Er nickte den beiden Männern freundlich zu und schnappte sich zur Nervenberuhigung ein Glas von den Tablett, das ein Kellner eben an ihm vorbeitrug. Wow, dachte er, nachdem er den Sekt auf Ex geleert hatte, was für eine kaputte Familie: Zwei Homos und ein schwarzes Baby! Außerdem irritierte ihn der Familienname Thalberg. Hatte der Hausmeister nicht von einer Feier der Benschs gesprochen? Oliver ließ Revue passieren, was er bisher wusste: Der Kapitän, Claus Thalberg, war der Großvater des adoptierten Babys Louis und Vater von Alexander Thalberg. Der Christian ... Christian! Oliver schluckte; kalt traf ihn die Erkenntnis. Er zoomte auf Christian. Die Kamera klickte drei Mal. Wenn Christian ihr Sohn war, dann ...
»Na, auch heimlich in den Typen verliebt?«, unterbrach jemand seine Gedanken. Oliver senkte die Kamera. »Wie bitte?«
Er musterte den hochgewachsenen, auffallend schlanken Mann, der sich neben ihn gesellt hatte. Sein Krawattenknopf saß passgenau am ordentlich aufgestellten Hemdkragen. Nur die rote Schleife wollte nicht recht zu dem braunen Anzug passen.
»Leidensgenosse Rüdiger«, stellte sich der Fremde vor.
»Leidensgenosse?«, erwiderte Oliver, »ich glaube nicht, dass ...«
»Ach, zier dich nicht.« Der Schlanke grinste. »So oft, wie du die jetzt fotografiert hast. In welchen der beiden bist du denn verknallt?«
Ein scheues Lächeln huschte Oliver über die Lippen. Hielt Rüdiger ihn für schwul?
»Ich bin der Eventfotograf«, antwortete Oliver schnell. In das Gesicht des Unbekannten stieg ungesunde Röte. Verlegen nippte er am Orangensaft. »Entschuldigen Sie.«
Oliver schmunzelte. »Und zu welchem Teil der Familie gehörst du?«
Rüdiger seufzte. »Der Dunkelblonde ist mein Ex. Schau dir nur die Grübchen an, wenn er lächelt!« Er verschränkte die Arme und seine Stimme wurde ernst. »Zwei Jahre waren wir zusammen, bis ich Idiot dienstlich ein Jahr nach Australien musste und prophylaktisch mit ihm Schluss gemacht hab. Ich wollte ungebunden sein in Down Under.« Wieder nippte er an seinem Orangensaft. »Lass uns Freunde bleiben, hab ich zu ihm gesagt. Und als ich zurückkam, war er mit dem anderen verlobt.« Er deutete auf Alexander. »Freunde sind wir tatsächlich geblieben.« Oliver beobachtete Christian und wartete auf ein grübchendurchzogenes Lächeln, aber es erschien keines. Stattdessen erklang jetzt die Schiffsglocke, ein Dieselmotor röhrte und durch das Schiff zog ein Ruck. Thalberg hatte Fahrt aufgenommen. Die Anetta entfernte sich rasch vom Ufer.
»Achtung!«, raunte Rüdiger ihm zu, »Catrin im Anmarsch! Das kann interessant werden. Vielleicht sollte der Bildberichterstatter näher treten.«
»Who the fuck is Catrin«, murmelte Oliver und beobachtete die ganz in Schwarz gekleidete Frau, die jetzt auf das Elternpaar zuging. Sie trug ein kleines Mädchen im Arm; ein weiteres hatte sich scheu an ihr Kleid geklammert. Am anderen Arm baumelte lässig ein Weidenkorb.
»Alex' Schwester und ihr Mann«, erklärte Rüdiger und deutete mit dem Kinn auf den farblosen Mann, der Catrin folgte. Auch er trug ein Mädchen im Arm. Oliver traf ein Blick aus Catrins nussbraunen Augen. Sie strahlten aus einem blassen, aber porzellanpüppchenschönen Gesicht zu ihm her. Für ein paar Sekunden stockte ihm der Atem.
»Catrin!«, rief Alexander mit sektgelöster Stimme, »mit euch hab ich nicht wirklich gerechnet!«
»Mama und Papa haben drauf bestanden«, antwortete Catrin trocken und stellte den Weidenkorb neben sich auf die Schiffsdielen.
Alexander schien das Gesagte nicht zu enttäuschen. Er wandte sich lächelnd dem Mädchen auf ihrem Arm zu.
»Schön, dass du da bist, Maria.« Speckbäckig sabberte die Kleine auf ihr weißes Kleidchen. Alexander streichelte sie über die Wange und begrüßte die beiden älteren Mädchen. »Gut Euch zu sehen.« Zuletzt reichte er Björn, Catrins Ehemann, die Hand.
»Lasst uns anstoßen!«, sagte Alexander.
»Du weißt, dass wir nicht trinken«, entgegnete Catrin. Die Kälte ihrer Stimme wehte zu Oliver herüber. Er wischte sich eine wohlige Gänsehaut vom Arm.
»Wir haben für den Fall der Fälle auch Kindersekt«, mischte sich nun Christian ein, der sich zuvor, der Begrüßung entziehend, etwas abseits gestellt hatte. Catrin brachte ein steifes Lächeln zustande. »Also gut.« Sie linste in den Kinderwagen. »Der Junge schläft friedlich, als ginge ihn die ganze Chose hier nichts an«, sagte sie.
Alexander überging die Bemerkung. Er schnitt Oliver eine Grimasse, während er sich am Verschluss des alkoholfreien Sekts abmühte. Oliver drückte auf den Auslöser.
Catrin reichte ein Glas an Björn. »Bekomme ich auch einen?«, fragte Rebecca, Catrins Älteste. »Aber natürlich!«, antwortete Alexander und gab der Achtjährigen den nächsten Sekt.
»Du auch einen, Ruth?«, erkundigte sich Christian, während er bereits einen Kinderbecher füllte, »der schmeckt ganz lecker! Den trinke ich auch immer!«
Statt ihrem Onkel zu antworten, vergrub Ruth ihr Gesicht im Baumwollrock der Mutter.
»Sie darf bei mir nippen«, sagte Catrin, nahm den Becher und trank hastig, ohne jemandem zuzuprosten. »Übrigens, Becky«, fuhr sie fort, als sie den Becher absetzte, »magst du Louis nicht unser Geschenk geben?«
Das Mädchen nickte. Entgegen Olivers Erwartung befand sich das Geschenk nicht in Catrins Weidenkorb. Becky nahm einen violetten Rucksack vom Rücken und zerrte ein schmal geschnürtes Päckchen heraus.
»Das Geschenkpapier habe ich selbst bemalt«, erklärte sie stolz und überreichte Alexander das zerknitterte Paket.
»Vielen Dank. Ich bin vorsichtig beim Auspacken.« Mit einem Messer, das auf dem Partytisch lag, schnitt er die bunten Schnüre durch und löste mit spitzen Fingern den Klebestreifen.
»Schau mal, Christian, das Geschenkpapier hat Becky selbst gemalt«, sagte Alexander zu Christian, als habe dieser das Bisherige nicht mitbekommen. Er strich das Papier über seinem Knie sorgfältig glatt. Rote Herzen und gelbe Sterne umrandeten drei Strichmännchen.
»Das bist du, Onkel Chris, und der kleine Louis«, erklärte Rebecca strahlend.
»Habe ich sofort erkannt«, behauptete Alexander und drückte seiner Nichte einen Kuss auf die Stirn. Becky kicherte.
»Wollen wir uns jetzt Louis‘ Geschenk vornehmen?«, fragte Alexander. Becky nickte. »Ich tippe auf Strampler«, sagte Alexander und faltete den weißen Stoff auseinander. Dann hielt er einen Moment inne, suchte Blickkontakt zu Catrin. »Du kannst es wirklich nicht lassen, oder?«, fragte er matt. Oliver sah ihn um Fassung ringen und drückte rasch den Auslöser, als Alexander das Kleidungsstück hochhob, damit auch Christian den roten Schriftzug lesen konnte.
»Jesus loves me«, las Rebecca vor, »Das bedeutet: Jesus liebt mich.«
»Danke für die Übersetzung, mein Schatz«, erwiderte Alexander leise und schaute in Richtung seiner Schwester.
»Der Kleine soll wissen, dass er trotzdem nicht verloren sein muss«, erklärte sie unschuldig. Alexander presste die Lippen aufeinander und nickte langsam, als begreife er endlich, welch schlechter Mensch er war.
»Trotzdem?«, mischte Christian sich ein. Das Wort zuckte wie ein Blitz zwischen ihm und Catrin. »Trotzdem Louis zwei Väter hat, oder was?«, präzisierte er. Catrin versteckte ihr Grinsen hinter einem Nippen am Kindersekt.
»Und ich dachte, ihr seid gekommen, weil ihr unsere Familie endlich akzeptiert!«, fuhr Christian fort.
»Um Himmelswillen! Wie naiv du doch bist!« Catrin lachte abschätzig und wiegte Maria im Arm. »Ich bin hier, weil mein Vater es wünscht und ich ihn nicht vergrämen will. Ich werde nie akzeptieren können, was vor Gott eine Sünde ist.« Sie schüttelte den Kopf, als käme sie nicht über die Blauäugigkeit ihres Schwagers hinweg. »Wenn jemand bei einem Manne liegt«, fuhr sie fort, »wie bei einer Frau, haben sie getan, was ein Gräuel ist. Drittes ...«
»Drittes Buch Mose, Vers 20, 13«, unterbrach Christian ihren Vortrag, »und sollen beide des Todes sterben; Blutschuld lastet auf ihnen. Ich hab den Scheiß auch gelesen, Catrin.« Er nahm das Messer vom Partytischchen. »Und? Was schlägst du jetzt vor?«, forderte er Catrin heraus, »soll ich mir gleich hier die Pulsadern aufschneiden oder mich lieber später vor einen Zug legen? Was verlangt die Bibel? Steinigen?« Christian drückte sich die Klinge an den Unterarm, Oliver den Auslöser seiner Kamera.
»Lästere du nur!«, raunte Catrin. Verstohlen schaute sie sich um, als würde ihr die Unterhaltung unangenehm. Als sie jedoch bemerkte, dass sich die übrigen Partygäste nur füreinander interessierten, setzte sie nach: »Du wirst deine Strafe bekommen, wenn ihr Euer Leben zum Zorn Gottes fortführt. Und jetzt zieht ihr noch ein unschuldiges Kind in das Ganze hinein.«
Christian lachte. »Vielleicht sollte ich mir besser die Kehle durchschneiden?« Er ließ die Klinge vor seinem Hals tanzen.
»Du bist peinlich«, zischte Alexander und wand Christian das Messer aus der Hand.
»Peinlich? Ich?« Christian stemmte die Hände in die Hüften. »Deine Schwester ist es doch, die ...«
Alexander zog Christian an sich und schloss ihm mit einem Kuss den Mund.
»Isch do... wa...«, versuchte Christian weiterzusprechen. Für alle sichtbar schob Alexander ihm seine Zunge in den Mund.
»Ekelhaft!« Catrin drehte sich weg. »Lasst uns Oma suchen«, schlug sie den Kindern vor, Björn trottete stumm seiner Familie hinterher.
»Ein richtig kleiner Drache!«, lachte Rüdiger. Oliver erwiderte nichts. Stumm blickte er Catrin nach, bis sie verschwunden war. Er glaubte nicht an das Märchen von der Liebe auf den ersten Blick, denn nie zuvor hatte ihm der bloße Anblick einer Frau ein wohliges Bauchkribbeln beschert. Gern wäre er jetzt Catrin gefolgt, doch er erinnerte sich, warum er hier war. Er lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf die beiden Väter. Gerade schwankte ein Herr, dessen zotteliger Schopf schon länger keine Friseurschere begegnet war, auf die beiden zu. Sein weißes Hemd trug Schwitzflecken und ragte im Schritt aus der Hose heraus.
»Was hat Catrin denn wieder gebissen?«, lallte er, während er an einem Partytischchen Halt suchte.
Christian bedachte den Betrunkenen mit einem verächtlichen Blick und löste sich aus Alexanders Umarmung. Oliver rückte näher ans Geschehen. Eine unbestimmte Ahnung verriet ihm, er würde gleich weitere Familieninterna lernen.
Und dann sah er sie. Mit einem dunkelblauen Blazer gekleidet, bahnte sie sich vorsichtig einen Weg durch die Trauben aus Gästen.
»Da bist du, Horst!« sagte sie und stellte sich neben den schwankenden Mann. Oliver schätzte sie auf Mitte fünfzig, obwohl der Dutt, zu dem ihr graublondes Haar geknotet war, sie älter wirken ließ.
»Ihr habt doch nicht etwa wieder gestritten?« Ihre besorgten Augen sprangen zwischen Horst und Christian hin und her.
»Streit? Wer streitet sich denn?« Horst gab sich empört. »Sohn, sag deiner Mutter, dass ich nicht zoffen wollte.«
Christian blies die Backen auf und blickte hilfesuchend auf die Frau hinab.
»Ich hab nur wissen wolln«, lallte Horst weiter, »was deine Freundin wieder zu stänkern hatte.«
»Catrin ist hier?« Die Miene der Frau erhellte sich. »Dann will ich sie suchen und ihr hallo sagen.«
»Mama.« Christians Stimme klang flehend.
Ein warmes Ziehen durchwanderte Olivers Magen. Wenn Christian die Frau im Blazer, dessen Kragen phantasievoll mit Pailletten bestickt war, Mama nannte, bedeutete dies, dass sie die Gesuchte war: Renate Bensch.
»Kommst du, Horst?« Renate zog ihn am Ärmel. Horst riss sich von ihr los. »Lass mich und geh!«
Renate blickte ihren Sohn an und zog entschuldigend die gepolsterten Schultern hoch. Dann wandte sie sich ab und ging. Oliver klickte ihr zweimal mit der Kamera hinterher, als könne er damit die Versuchung unterdrücken, ihr zu folgen. Versonnen befühlte er das Pfand in seiner Hosentasche; warm und leicht lag es in seiner Hand. Der Betrunkene stänkerte unterdessen weiter. War er der, für den Oliver ihn halten durfte? Der Gedanke ernüchterte ihn.
»Catrin hat wohl nicht gepasst, dass ihr euren kleinen Wadenbeißer nicht ordentlich taufen lasst, was?«, riet Horst und sog an seiner Bierflasche. Schwankend linste er in den Kinderwagen, ehe er die Flasche absetzte und rülpste. »Und soll ich euch was sagen?«
»Nein, Papa«, fuhr Christian ihn an.
Horst sprach weiter: »Ich kapier‘s auch nicht. Was soll dieses bunte Treiben hier?« Horst wedelte mit der Flasche, dabei schwappte Bier heraus. Die Aufmerksamkeit der Gäste galt jetzt ungeteilt ihm. Amüsiert steckten sie die Köpfe zusammen.
»Warum gibt es keine richtige Taufe, mit Pfarrer und Weihwasser?«
Christian drückte sich die Hände vor das Gesicht, als perlten Horsts gelallte Fragen an ihm ab wie der verschüttete Alkohol.
»Papa, du machst dich hier zum Affen!«, raunte er seinem Vater zu. Horst fasste sich ans Herz, als sei Christians Vorwurf ein vergifteter Pfeil. »Ich hab nur was gefragt. Ist es nicht mehr erlaubt, seinen Sohn was zu fragen? Ein Kind gehört getauft. In einer Kirche. Frag Mutter!« Horst setzte die Flasche an.
»Im Gegensatz zu dir scheint Mutter kapiert zu haben, dass Louis nicht in unserer Familie wäre, wenn es nach dem Willen ihrer Kirche ginge, in die euer Enkel getauft werden soll!«, antwortete Christian. »Eure verlogene Kirche bekämpft das Adoptionsrecht für Schwule, als wäre es das schlimmste Übel auf dem Planeten.« Den Wutschaum um Christians Mund hielt Oliver fotografisch fest. Das Bild jedoch, das sich auf dem Bildschirm der Kamera zeigte, war verschwommen: Christian hatte sich mit den Worten »Louis braucht seine Flasche« abgewandt und war gegangen.
»Jetzt spielt er wieder die beleidigte Leberwurst«, jammerte Horst, die Flasche nur kurz von den Lippen nehmend. Alexander legte den Arm um die Schulter seines Schwiegervaters. Gerade noch für Oliver vernehmbar, raunte er ihm zu: »Wenn du uns hier die Party versaust, werfe ich dich höchstpersönlich von Bord!«
Oliver wandte sich ab. Das Beobachtete hinterließ in ihm ein unbestimmtes Gefühl. Plötzlich erfasste ihn der Gedanke, seine Pläne zu verwerfen, es einfach sein zu lassen und von Bord zu gehen. Vielleicht würde es ihm nicht gut bekommen, im Leben von Renate Bensch herumzuschnüffeln.