Читать книгу Die Kinder der Schiffbrüchigen - Jonas Nowotny - Страница 6
ОглавлениеKapitel 4
»Alexander schickt mich. Du sollst das Kuchenbuffet eröffnen.« Rüdiger hatte den Kopf durch die schwere Mahagonitür der Lounge gesteckt.
»Louis ist erst vor einer Minute eingeschlafen. Ich kann jetzt nicht«, flüsterte Christian.
»Wenn ich ohne dich nach oben komme, schimpft Alex mich aus. Er sagt, er hat das Babyphone eingesteckt«, gab Rüdiger zurück.
»Echt?«, murmelte Christian, »das ist mir nicht aufgefallen.« Er nahm den Babyzeugrucksack und fand das Babyphone tatsächlich im vorderen Fach. Er stellte den Sender unweit von Louis' Wagen ab. Plötzlich klingelte ein Handy. Christian fand es auf der Couch. Es war das Gerät seiner Mutter. »Marquart« stand auf dem Display. Nicht einmal am Wochenende lässt die alte Dame einen in Ruhe, schoss es Christian durch den Kopf. Er konnte nicht verstehen, warum Renate bei ihr im Haushalt schuftete, neben ihrem Hauptberuf in der Bäckerei. So schlecht konnte es seinen Eltern finanziell doch nicht gehen. Christian drückte den Anruf weg und küsste seinen Sohn auf die Stirn.
»Bis später.« Er folgte Rüdiger aus der Lounge, die Mahagonitür schloss er nur halb.
***
Christian war kein großer Redner und deshalb erleichtert, dass Alexander diesen Part übernahm. Die Gäste versammelten sich auf dem Freideck. Sein Mann prostete in die Runde. Die etwa fünfzig Gäste grüßten zurück. Oliver stand am Rand und knipste Bilder.
»Blut ist dicker als Wasser, warnten uns die Leute, als wir von unseren Adoptionswünschen zu erzählen anfingen«, begann Alexander, während er seinen Blick auf den Boden gerichtet hielt, »wir haben uns aber keine Angst einjagen lassen. Es braucht mehr als einen gemeinsamen Genpool. Davon sind wir überzeugt. Geteilte Erfahrungen, Erlebnisse, zum Beispiel dieses Fest heute, und Liebe – das ist es, was eine Familie wirklich ausmacht. Nicht das Blut.« Alexander biss sich auf die Unterlippe und streifte mit einem Blick die Gesichter der Gäste.
»Lasst uns auf die erste gemeinsame Feier anstoßen!« Er hob das Glas. »Prost!«
»Prost!«, grüßten die Anwesenden zurück.
»Das Buffet ist eröffnet!«, rief Christian fröhlich, um nicht völlig unbeteiligt zu bleiben.
»Endlich! Mir hängt der Magen schon in den Kniekehlen«, kommentierte Rüdiger. Verfressen wie eh und je, dachte Christian unwillkürlich. Und doch: Die Furchen um Rüdigers Mund waren tiefer geworden. Die Krankheit hatte begonnen, sein Äußeres zu zeichnen, unauswischbar, wie ein Tattoo. Christian beobachtete Rüdiger, wie er sich in den Oberdecksalon begab. Durch die Glasfront sah er ihn einen Kuchenteller vom Stapel nehmen und ihn mit Kuchenstücken beladen.
Der Salon füllte sich.
»Willst du nicht mit reinkommen?«, fragte Alexander und küsste Christian auf die Stirn.
Christian seufzte. »Nein. Ich mag's nicht, wenn so viele Leute aufeinander sind. Ich glaube, ich warte, bis der Trubel sich gelegt hat.«
Alexander nickte. »Ich kann dir aber nicht versprechen, dass dann noch was von der Käsesahne da ist.« Alexander lachte und umarmte seinen Mann. Eine Möwe zog kreischend über das Paar hinweg, im Babyphone knackte es. Christian sog Alexanders Duft ein und hielt ihn fest. Er liebte die Momente, in denen er sich an seinen Mann stützen konnte.
Plötzlich schrie jemand auf. »Raus hier!«
Die Gastgeber blickten sich fragend an.
»Feuer!«, brüllte Rüdiger. Die Menschen, die sich eben noch in den Salon gedrängt hatten, drängten zurück aufs Freideck. Blitzschnell füllte der Saal sich mit weißgrauem Rauch.
»Louis!« Christian geriet sofort in Panik. »Ich muss runter zu Louis!« Er schob sich an den Gästen vorbei in den verrauchten Salon. Es vergingen nur Sekunden, ehe er hustend zurück auf Deck stürzte. »Da kommen wir nicht durch«, keuchte er. Auf der Anetta wurde das Treiben panisch. Die Partygäste schrien durcheinander.
»Feuerwehr, ruft doch jemand die Feuerwehr!«, schrie Renate. Horst schwankte neben ihr; seine Pupillen hetzten durch die Augenhöhlen, als suchten sie einen Fluchtweg. Christian blickte über die Reling. Der schmale Sims oberhalb der Fenster des Unterdecks schien ihm die einzige Möglichkeit.
»Ich geh da drüber«, erklärte er knapp. Alexander schüttelte den Kopf. »Das ist viel zu schmal, du kannst dich nirgends halten! Du fällst ins Wasser!«
Christian kniff die Augen zusammen. »Ich muss es wenigstens versuchen. Louis erstickt!«
»Die Lounge ist abgeschlossen. Vielleicht ist noch gar kein Rauch drin!«
Das Babyphone knarzte und übertrug Louis' Weinen. Christian warf Alexander einen eindringlichen Blick zu.
»Nein, ich hab die Tür nur angelehnt«, erklärte er. Dann überkletterte er die Reling. Sofort rutschten seine Lackschuhe auf dem schmalen Vorsprung ab.
»Komm sofort wieder rüber«, befahl Alexander. »Selbst wenn du nicht im Neckar landest – was bringt es dir, wenn du es auf das Vordeck schaffst? Die Fenster sind sicherungsverglast! Da kommst du von außen nicht rein! Wir müssen Louis von innen retten!«
Christian spürte, dass er Recht hatte. Er ließ sich von Alexander und Rüdiger zurück an Bord ziehen.
»Was war das denn für eine Aktion? Wolltest wohl aufs Rettungsboot flitzen?«, fragte Rüdiger.
»Louis ist noch unten in der Lounge«, keuchte Christian.
»Scheiße!«
»Hat dein Vater mitbekommen, dass es brennt?«, fragte er Alex. »Wir sind noch immer mitten auf dem Fluss! Er muss anlegen, damit wir von Bord kommen!«
Alexander wählte die Nummer seines Vaters auf dem Handy. Louis' Schreien klang herzzerreißend durch das Babyphone. Wie Nebel stand der weiße Rauch auf dem Freideck. Hustend zog Christian sein Sakko aus und ließ es zu Boden fallen. Dann knöpfte er sein Hemd auf.
»Was hast du vor?«, fragte Alexander.
»Ich muss zu ihm runter!«, sagte Christian und schlüpfte zurück in sein Sakko. Das Hemd band er sich um Nase und Mund. Wie ein Soldat robbte er durch den Salon. Trotz des Babyphone in seiner Hand kam er schneller voran als vermutet. Louis' Klagen im Babyphone war verstummt.
»Halte durch, Louis! Halte durch!« Christian erlaubte sich nicht zu atmen. Nur alle paar Sekunden schnappte er Luft. Er erreichte die Treppe aufs Hauptdeck. Seine Augen brannten und tränten. Er schloss sie und tastete sich, die Beine voran, die zehn Stufen hinunter. Christian erwartete Hitze, doch das Feuer schien kalt zu brennen. Wie war das möglich? Vielleicht hatte er neben dem Zeitgefühl auch sein Schmerzempfinden verloren.
»Louis? ... Louis?« Christian kniete auf dem Flur des Vorraums. Durch die herabgelassenen Rollläden an den Ausgängen herrschte Dunkelheit. Wenn er sie öffnete, konnte der Rauch abziehen. Doch er wusste, dass es ohne Schlüssel nicht ging.
»So eine Scheiße!«, hustete Christian. Aus der Toilette sprühten Funken und es zischte, als brenne jemand Feuerwerkskörper ab. Wer zündet Toiletten an? Warum? Christian kniff die tränenden Augen zu und tastete sich in Richtung WC. Er fühlte nach dem Türgriff, fand ihn und schloss die Tür. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Rauch sich über das Oberdeck verzogen hatte. Von oben drangen panische Schreie. Christian sank auf die Knie und robbte weiter. Endlich erreichte er die Bar. Beißender Qualm ließ ihn Louis nicht klar erkennen. Atmete er noch? Vorsichtig richtete Christian sich auf, nahm das Hemd vom Gesicht und wickelte das Kind damit ein … Jetzt lief rumpelnd ein Ruck durch das Schiff und warf ihn zu Boden. Er knallte mit dem Kopf gegen einen Tisch. Benommen vergewisserte er sich, dass Louis unversehrt war. Sein Sohn atmete flach.
»Alles von Bord! Schnell!« Christian konnte die Richtung der panischen Stimmen nur ungefähr ausmachen. Sie schienen überall zu sein. Er kroch in die Richtung, wo er den Ausgang vermutete. Der Schlag gegen den Kopf hatte ihm die Orientierung genommen – oder war es der Rauch, der ihm die Besinnung raubte? Louis hustete schwach; dann ging sein Husten in ein klägliches Weinen über.
»Nur ruhig, Louis, Daddy bringt dich heil hier raus!«
Christians Stimme vermochte Louis nicht zu trösten. Das Baby begann zu schreien. »Nicht so tief einatmen, Schatz!«, flüsterte Christian. Er robbte so flach am Boden, wie es ihm mit einem Säugling im Arm möglich war. Wo war nur der verfluchte Ausgang? Ein flacher Atemzug zwang ihn wieder zum Husten. Tränen und Staub klebten ihm im Gesicht, und der Qualm verbarg den Fluchtweg. Panik überkam ihn.
»Hilfe ...«, versuchte er sich bemerkbar zu machen.
Louis' Klagen war verstummt. Der Raum drehte sich vor Christians Augen. Schwindel übermannte ihn. Wo war er? Christian taumelte. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen.
»Chris? Seid ihr hier?«, schrie Alexander.
»Hier unten«, keuchte Christian. Sofort brandete ein schmerzhafter Husten los, und Angst, ersticken zu müssen, übermannte ihn. Dann wurde ihm schwarz vor Augen. Erst, als Alexander ihn am Arm nach oben zerrte, begriff er wieder, wo er war. Louis lag wie tot in seinem Arm.
»Er atmet nicht mehr!«, keuchte Christian und sackte auf die Knie.
»Gib ihn mir!«, forderte Alexander. Christian begriff nicht sofort; in seinen Schläfen pochte Schmerz.
»Gib mir Louis!«, wiederholte Alexander und nahm ihm das Baby ab.
»Er atmet nicht … er atmet nicht«, stöhnte Christian.
»Komm!«, sagte Alexander und zog ihn auf die Beine. Er schleppte beide mit sich. Ein Schwall frischer Luft schlug ihnen befreiend ins Gesicht, als sie das Oberdeck erreichten. Christian hustete sich den Qualm aus den Lungen, seine Augen brannten.
»Atmet er? Alex, atmet er?«
Alexander zog ihn weiter. »Wir müssen runter vom Schiff, Schatz!«
Tränen trübten Christian den Blick. Wie lange war Louis dem Rauch ausgesetzt gewesen? Es mussten ein paar Minuten gewesen sein. Das Schiff legte jetzt an; die Gäste flüchteten über einen Notsteg, der wie eine Rutsche vom Oberdeck ans Ufer führte, von Bord. In der Ferne hörte er ein Martinshorn.
»Geh von Bord!«, befahl Alexander. Christian gehorchte. Wie benommen rutschte er den Steg hinunter und wurde von Rüdiger abgefangen. Der Freund führte ihn ein paar Schritte weg und setzte sich mit ihm an den Wegrand. Christian sah, wie jetzt auch Alexander mit Louis von Bord rutschte. Sofort bettete er ihn auf die Erde und legte das Ohr über seinen Mund. »Atme!«, beschwor Alexander das Baby. Ein neuer Schwall Panik stieg in Christian empor. Wie in Trance sah er, wie sein Mann die Lippen über Louis‘ Näslein und Mund legte und Luft hineinpustete, ganz so, wie sie es in den Erste-Hilfe-Kursen für Babys gelernt hatten. Nein! Nein! Lähmende Angst kroch in ihm hoch. Sie durften Louis nicht verlieren! Er liebte ihn! Er konnte nicht mehr ohne dieses kleine Geschöpf leben! Ein neuer Hustenanfall ergriff ihn, und er spürte einen stechenden Schmerz in den Lungen. Flüchtig nahm er die Anetta wahr, wie sie auf den Wellen schwankte, in einem ruhigen Schleier von Rauch stehend. Die Heliumballons ragten wie bunte Köpfe aus dem Nebel.
»Komm schon, atme, verdammt!«, fluchte Alexander leise, senkte den Mund und blies erneut Luft in die winzigen Lungen des Kindes. Das Heulen von Sirenen gellte schmerzhaft in Christians Ohr. Ein Feuerwehrauto bremste so heftig vor seinen Augen, dass der Splitt aufspritzte. Sofort sprangen drei Männer heraus und machten sich an dem Wagen zu schaffen. Hinter dem Löschwagen folgte jetzt ein Krankentransporter mit kreisendem Blaulicht. Christian stolperte auf ihn zu.
»Kommen Sie! Kommen Sie, mein Sohn erstickt!« Er zog den Arzt am Kittel aus dem Wagen und schleppte ihn zu Alexander, der noch immer versuchte, Louis frische Luft in die Lungen zu pumpen.
»Wie lange atmet er schon nicht mehr?«, fragte der Arzt.
»Fünf … vielleicht sieben Minuten«, stotterte Alexander. Christian starb beinahe an Alexanders besorgten Blick. Dann sprach Alexander jene Worte, die Christian noch lange begleiten sollten: »Wie konntest du ihn nur allein lassen.«
Jeder einzelne Buchstabe des Satzes versetzte Christian einen schmerzhaften Stich. Er wollte protestieren; schließlich hatte doch Alexander darauf bestanden, das Babyphone zu nehmen, um das Kuchenbuffet zu eröffnen. Doch er schwieg, ließ sich auf den Weg sinken und verbarg den Kopf zwischen den angewinkelten Knien. Atme, Louis, atme!, flehte er stumm.
***
Die Feuerwehrmänner kamen schon wieder von Bord, zogen sich die Gasmasken vom Gesicht.
»Da ist nur ein kleines Feuer auf dem Schiff«, erklärte der Brandmeister Richtung Thalberg gewandt.
»Aber der viele Rauch?«, antwortete dieser verdattert.
»Eine Rauchbombe. Da hat sich einer Ihrer Gäste offenbar einen schlechten Scherz erlaubt.«
»Ein Scherz?«, schrie Christian und sprang auf. Ich kann mir schon denken, wer dahinter steckt, dachte er und blickte sich suchend um. Doch er entdeckte kaum ein bekanntes Gesicht. Die zahllosen Menschen, die sich um das Geschehen versammelt hatten, waren Schaulustige.
»Er atmet!«, rief der Arzt, über Louis gebeugt.
Um Christians Herz wurde es leichter. Er ging zu Alexander.
»Machen Sie weiter!«, wies der Arzt ihn an, »ganz langsam und gleichmäßig pumpen!« Er übergab Alexander die Beatmungshilfe, die einem Blasebalg ähnelte. Christian sah den Schlauch, den sie Louis in das dünne Ärmchen gesteckt hatten …
»Er darf nicht sterben!«, keuchte Christian. Ihm wurde schwarz vor Augen. Taumelnd sackte er zu Boden. Von weit her hörte er Alexander sagen: »Er hat ordentlich Rauch abbekommen.«
Dann verdichteten die Worte sich zu einem unverständlichen Klumpen. Um Christian wurde es still.