Читать книгу Allein mit Shirley - Jonathan Coe - Страница 11
ОглавлениеIm Sommer 1969, kurz bevor sie nach Oxford gehen wollten, lud Hugo Beamish seinen besten Freund Roddy Winshaw für ein paar Wochen in das riesige, vollgestopfte und ein bißchen schmutzige Haus seiner Familie im Nordwesten Londons ein. Hilary war ebenfalls eingeladen. Sie war fünfzehn.
Sie fand es dort schauderhaft langweilig. Es war vielleicht um eine Winzigkeit besser, als den Sommer (schon wieder!) mit ihren Eltern in der Toskana zu verbringen, aber Hugos Eltern – seine Mutter war Schriftstellerin, sein Vater arbeitete bei der BBC – entpuppten sich als fast genauso dämlich wie ihre eigenen, und seine Schwester Alicia war eine Trantüte mit Raffgebiß und entsetzlich vielen Sommersprossen.
Alan Beamish war ein warmherziger Mensch und merkte ziemlich bald, daß Hilary ihren Aufenthalt nicht sehr genoß. Eines Abends, als sie am Eßtisch saßen und Roddy und Hugo ihre Karrierevorstellungen erörterten, sah er, daß sie in ihren kalten Nudeln herumstocherte, und fragte sie unvermittelt: »Und was möchtest du in zehn Jahren sein?«
»Ach, ich weiß nicht.« Hilary hatte über diese Frage noch nicht sehr eingehend nachgedacht. Sie hatte (natürlich mit Recht) angenommen, daß ihr früher oder später irgendein lukrativer Traumjob in den Schoß fallen würde. Außerdem mißfiel ihr der Gedanke, ihre Pläne und Hoffnungen vor diesen Menschen auszubreiten. »Vielleicht gehe ich zum Fernsehen«, improvisierte sie lahm.
»Du weißt doch sicher, daß Alan Produzent ist«, sagte Mrs. Beamish. Das hatte Hilary nicht gewußt. Sie hatte gedacht, er sei Buchhalter oder bestenfalls irgendein Techniker. Trotzdem war sie völlig unbeeindruckt. Alan dagegen beschloß, Hilary von nun an unter seine Fittiche zu nehmen.
»Weißt du, was das Geheimnis des Fernsehgeschäfts ist?« fragte er sie eines späten Nachmittags. »Ganz einfach: Man muß fernsehen. Man muß die ganze Zeit fernsehen.«
Hilary nickte. Sie sah nie fern. Sie wußte, daß sie zu gut dafür war.
»Und jetzt sage ich dir, was wir machen werden«, verkündete Alan.
Zu Hilarys Entsetzen hatte er vor, den ganzen Abend vor dem Fernseher zu verbringen. Alan erklärte ihr jede Sendung: wie sie gemacht worden war, wieviel sie gekostet hatte, warum sie zu einer bestimmten Zeit gesendet wurde und welche Zielgruppe damit angesprochen werden sollte.
»Der Programmplatz ist das A und O«, sagte er. »Eine Sendung steht und fällt mit der Sendezeit. Wenn du das begriffen hast, bist du den anderen hoffnungsvollen Universitätsabsolventen, deinen Konkurrenten, um einiges voraus.«
Sie begannen um zehn vor sechs mit den Nachrichten auf BBC 1, gefolgt von einer Magazin-Sendung mit dem Titel Town and Around. Danach schalteten sie auf ITV um und sahen sich The Saint mit Roger Moore an.
»Diese Art von Film kriegen die Privatsender am besten hin«, sagte Alan. »Läßt sich gut ins Ausland verkaufen, sogar nach Amerika. Hohe Produktionskosten, viele Originalschauplätze, schmissige Regie. Für meinen Geschmack ein bißchen zu seicht, aber nicht zu verachten.«
Hilary gähnte. Um fünf vor halb acht sahen sie irgendeine Serie über einen schottischen Arzt und seine Haushälterin. Hilary fand den Film sehr lahm und provinziell. Alan erklärte ihr, diese Serie sei eine der beliebtesten überhaupt. Hilary hatte noch nie davon gehört.
»Morgen werden die Leute in allen Kneipen, Büros und Fabriken über diese Folge reden«, sagte er. »Das ist das Großartige am Fernsehen: Es ist eines der Dinge, die das Land zusammenhalten. Es beseitigt Klassenunterschiede und hilft, ein Gefühl für nationale Identität zu schaffen.«
Ebenso lyrisch kommentierte er die nächsten beiden Sendungen: eine Dokumentation mit dem Titel The Rise and Fall of the Third Reich und die Nachrichten um neun, die eine Viertelstunde dauerten. »Die BBC wird auf der ganzen Welt wegen der Qualität und Objektivität ihrer Nachrichtensendungen geachtet. Dank dem BBC World Service kannst du fast überall auf der Welt ein Radio einschalten und dich nicht nur mit unvoreingenommenen, gesicherten Informationen versorgen lassen, sondern auch mit Unterhaltungsprogrammen, die in Musik und Wort höchsten Ansprüchen genügen. Das ist eine unserer größten Errungenschaften der Nachkriegszeit.«
Bis dahin hatte Hilary sich bloß gelangweilt, doch von nun an ging es rapide bergab. Sie mußte sich Nearest and Dearest ansehen, eine schreckliche Comedy Show voller plumper Witze, über die das Studiopublikum idiotisch lachte, und danach eine Sendung namens It’s a Knockout, die aus einer Aneinanderreihung dümmlicher Spiele unter freiem Himmel bestand. Hilary war wütend und indigniert. Unbewußt reagierte sie ihre Erregung dadurch ab, daß sie aus einer Obstschale neben dem Sofa eine Weintraube nach der anderen nahm und sie mit spitzen Fingernägeln schälte, bevor sie sie aß. Bald lag auf ihrem Schoß ein Häufchen Weintraubenschalen.
»Das ist nicht gerade die Art von Sendung, die ich mag«, sagte Alan, »aber ich verachte sie nicht. Man muß für jeden etwas machen. Jeder hat ein Recht auf Unterhaltung.«
Schließlich schalteten sie auf BBC 2 um und sahen eine Serie namens Ooh La La eine Fernsehadaption der Farcen von Georges Feydeau. In dieser Folge spielten Donald Sin-den und Barbara Windsor die Hauptrollen. Hilary schlief mitten in der Sendung ein, und als sie aufwachte, sah sie gerade noch das Ende eines Dokumentarfilms über Astronomie, der von einem eigenartigen Mann in einem schlecht sitzenden Anzug präsentiert wurde.
»So, nun hast du einen Eindruck bekommen«, sagte Alan stolz. »Nachrichten, Unterhaltung, Komödien, Dokumentarfilme und klassisches Drama – und alles zu gleichen Teilen. In keinem anderen Land der Welt findest du ein so vielfältiges Programmangebot.« Hilary fand, daß er mit seinen grauen Haarbüscheln und der sanften, melodischen Stimme wie ein Pfaffe der übelsten Sorte wirkte. »Und das alles liegt in den Händen von Leuten wie dir: talentierten Nachwuchskräften, deren Aufgabe es in den nächsten Jahren sein wird, diese Tradition fortzusetzen.«
Am Ende der Ferien fuhren Roddy und Hilary mit dem Zug zum Sommersitz ihrer Eltern in Sussex.
»Ich fand den alten Mr. Beamish eigentlich ganz in Ordnung«, sagte Roddy und nahm eine Zigarette aus der Schachtel. »Obwohl Henry mir erzählt hat, daß er ein echter Roter ist.« Er steckte sich die Zigarette an. »Hat Gott sei Dank nicht auf Henry abgefärbt. Trotzdem – hätte ich nicht von ihm gedacht. Du vielleicht?«
Hilary sah aus dem Fenster.
Aus »DIE ZEHN VIELVERSPRECHENDSTEN NEUEN NAMEN« (Farbbericht in Tatler, Oktober 1976):
Die hübsche Hilary Winshaw, die kürzlich ihr Studium in Cambridge abgeschlossen hat, beabsichtigt, Furore zu machen, und zwar beim Fernsehen, wo sie eine Karriere als Produzentin anstrebt. Hilary hat bereits klar umrissene Vorstellungen von der Arbeit, die vor ihr liegt. »Das Fernsehen ist eines der Dinge, die das Land zusammenhalten«, sagt sie. »Es ist hervorragend geeignet, Klassenschranken abzubauen und ein Gefühl nationaler Identität zu vermitteln. Und das ist eine der Traditionen, die ich bewahren und fortsetzen will.«
Auf unserem Foto hält Hilary den Winter mit einem Nerzcape von Furs Renée, 39 Dover Street, Wi (£ 3400) auf Distanz. Darunter trägt sie einen Rollkragenpullover aus Kamelhaar und Kaschmir von Pringle, 28 Old Bond Street, Wi (£ 52.50), halblange Kamelhaarhandschuhe von Herbert Johnson Ladies Shop, 80 Grosvenor Street, Wi (£ 14.95) und halbhohe beige Stiefel mit hohen Absätzen von Midas, 36 Hans Crescent, SWi (£ 129).
Television PLC – Auszug aus dem Protokoll der Vorstandssitzung vom 14. November 1983. Vertraulich!
... Es wurde nochmals versichert, daß der Beitrag, den Miss Winshaw in den vergangenen sieben Jahren zum Erfolg der Gesellschaft geleistet habe, von niemandem unterschätzt werde. Dennoch betonte Mr. Fisher, ihre 1981 getroffene Entscheidung, die amerikanische Produktionsgesellschaft TMT zum Preis von 120 Millionen Pfund zu kaufen, sei dem Vorstand nie zur Überprüfung vorgelegt worden. Mr. Fisher bat um Stellungnahme zu folgenden vier Punkten:
1. Habe Miss Winshaw gewußt, daß TMT zum Zeitpunkt der Übernahme jährlich 32 Millionen Dollar Verlust gemacht hat?
2. Sei sie sich darüber im klaren, daß ihre wöchentlichen Flüge nach Hollywood, der Kauf einer Wohnung in Los Angeles sowie die laufenden Kosten ihrer drei Geschäftswagen laut der unabhängigen Unternehmensberatungsfirma Webster Hadfield maßgeblich dazu beitrügen, daß die Auslagen der Gesellschaft gegenwärtig um 40% zu hoch seien?
3. Sei sie sich bewußt, daß ihre Politik, billige Filme von TMT zu kaufen und herausgeschnittene Szenen wieder einfügen zu lassen (um so die Länge dieser Filme oft um bis zu dreißig Minuten zu strecken und dadurch die Kosteneffizienz dieser Einkäufe zu verbessern), wesentlich zu der kürzlich verlautbarten Einschätzung der Independent Broadcasting Authority beigetragen habe, nach der die Programmqualität der Gesellschaft nicht den von der IBA gesetzten Anforderungen entspricht?
4. Sei die in der Vorstandssitzung vom Februar 1982 beschlossene Verdoppelung von Miss Winshaws Gehalt auf jährlich 210.000 Pfund eine gerechtfertigte und adäquate Reaktion auf die von ihr nach dem Erwerb von TMT behauptete Vergrößerung ihres Arbeitspensums?
Hier bemerkte Mr. Gardner, er hätte es sich zweimal überlegt, den ihm angebotenen Posten zu übernehmen, wenn er gewußt hätte, daß er damit ein sinkendes Schiff betreten würde, und fragte, wessen Idee es überhaupt gewesen sei, dieses Weibsbild einzustellen.
Mr. Fisher antwortete, Miss Winshaw sei auf Empfehlung des hervorragenden ehemaligen BBC-Produzenten Alan Beamish eingestellt worden.
Mrs. Rawson bat in einem Antrag zur Tagesordnung, Miss Winshaw möge bitte aufhören, mit den Trauben zu spielen, da nicht ausgeschlossen sei, daß jemand sie noch essen wolle, und unter den gegebenen Umständen jedwede Verschwendung in irgendeinem Bereich des Unternehmens zu unterbleiben habe ...
Um 16.37 Uhr wurde mit 11:1 Stimmen beschlossen, daß Miss Winshaws Vertrag mit sofortiger Wirkung aufgelöst werden und sie selbst eine Abfindung erhalten solle, deren Höhe einer realistischen Einschätzung der gegenwärtigen finanziellen Situation der Gesellschaft Rechnung zu tragen habe.
Die Sitzung wurde um 16.41 vertagt.
Aus dem »Diary« des Guardian vom 26. November 1983:
Stirnrunzeln allenthalben über Hilary Winshaws kürzlich bekannt gewordenen Abschied vom Fernsehen. Stirnrunzeln nicht so sehr über die Tatsache, daß sie gefeuert wurde (was Branchenkenner bereits seit einiger Zeit erwartet hatten), sondern vielmehr über die Höhe der Abfindung: Es heißt, sie habe die hübsche Summe von £ 320.000 erhalten. Ein wahrhaft goldener Händedruck angesichts der Tatsache, daß sie es geschafft hat, eine einst finanzstarke Fernsehgesellschaft innerhalb weniger Jahre beinahe in den Ruin zu wirtschaften.
Sollte diese ungewöhnliche Großzügigkeit etwas mit der Tatsache zu tun haben, daß ihr Cousin Thomas Winshaw Vorstandsvorsitzender von Stewards ist, jener Bank, die große Anteile dieser Gesellschaft hält? Und kann man glauben, daß Miss Winshaw in Kürze eine gut dotierte Stelle bei einer gewissen Tageszeitung antreten wird, deren Eigentümer rein zufällig einer der besten Großkunden von Stewards ist? Wir werden dranbleiben, wie man so sagt ...
Hilarys Ruf war ihr vorausgeeilt: An ihrem ersten Tag in der Redaktion wurde sie von ihren neuen Kolleginnen und Kollegen nicht gerade begeistert willkommen geheißen. Ihr könnt mich mal dachte sie. Sie würde ohnehin bloß ein oder zwei Tage die Woche dasein. Wenn überhaupt.
In der hintersten Ecke des Großraumbüros hatte sie einen eigenen, mit einem Namensschild versehenen Schreibtisch, der bis auf eine Schreibmaschine und einen Stapel von Konkurrenzzeitungen leer war. Der Titel ihrer Kolumne sollte IM KLARTEXT lauten. Man hatte ihr fast eine ganze Seite gegeben, die sie mit einem längeren Kommentar und zwei oder drei im Plauderton gehaltenen Beiträgen füllen sollte.
Es war März 1984. Sie nahm die oberste Zeitung und überflog die Schlagzeilen. Nach einigen Minuten legte sie sie beiseite und tippte die Überschrift »POLITIK DER HABGIER«. Darunter schrieb sie:
Die meisten von uns, die wir im Zuge der Rezession dabei sind, unsere Gürtel enger zu schnallen, werden mir wohl zustimmen, wenn ich sage, daß dies kaum der richtige Augenblick ist, um an die Tür der Regierung zu klopfen und mehr Geld zu verlangen.
Und die meisten von uns, die wir uns noch gut an jenen gräßlichen Streikwinter erinnern, werden mir zustimmen, wenn ich sage, daß eine neue Streikwelle so ziemlich das letzte ist, was dieses Land braucht.
Aber da haben wir die Rechnung ohne den Neo-Marxisten Arthur Scargill und seine gierige Bergarbeitergewerkschaft gemacht!
Mr. Scargill droht bereits mit »flächendeckenden Aktivitäten« – die jeder normale Mensch als Passivitäten bezeichnen würde –, wenn er und seine Genossen nicht sofort höhere Löhne und Sondervergütungen bekommen.
Und dazu kann ich nur sagen: Schämen Sie sich, Mr. Scargill! Gerade jetzt, wo wir uns alle ins Zeug legen, um dieses Land wieder auf die Beine zu bringen, wollen Sie uns in die finsteren Zeiten von Unruhen und Streiks zurückwerfen?
Wie können Sie es wagen, Egoismus und Habgier über nationale Interessen zu stellen!
Hilary sah auf die Uhr. Für ihren ersten Artikel hatte sie etwas weniger als zwölf Minuten gebraucht – nicht schlecht für eine Anfängerin. Sie brachte die Kolumne zum stellvertretenden Chefredakteur, der erst einmal die Überschrift strich und ihr das Blatt nach kurzer, gelangweilter Lektüre zurückschob. »Die wollen nicht mehr Geld«, sagte er.
»Wie bitte?«
»Die Bergleute. Das ist nicht der Grund, warum sie streiken.«
Hilary runzelte die Stirn. »Sind Sie sicher?«
»Ganz sicher.«
»Aber ich dachte, bei allen Streiks geht es um Geld.«
»Bei diesem geht es um Zechenstillegungen. Das National Coal Board will noch dieses Jahr zwanzig Zechen schließen. Die Bergleute streiken, weil sie nicht arbeitslos werden wollen.«
Hilary nahm den Artikel. Sie machte noch immer ein zweifelndes Gesicht. »Wenn das so ist, sollte ich wohl hier und da etwas ändern.«
»Hier und da.«
An ihrem Schreibtisch nahm sie sich weitere Zeitungen vor und befaßte sich eingehender mit den entsprechenden Artikeln. Dafür brauchte sie eine knappe halbe Stunde. Nachdem sie sich auf diese Weise umfassend informiert hatte, schrieb sie ihre zweite Version, diesmal in siebeneinhalb Minuten.
Man sagt, wenn es etwas gibt, das die Schotten können, dann ist es mit Geld umgehen. Und Ian McGregor, der Vorsitzende des National Goal Bord, ist ein gewiefter Schotte alten Schlages, der auf lebenslange Erfahrungen als Geschäftsmann zurückgreifen kann.
Mr. Arthur Scargill hingegen hat einen ganz anderen Hintergrund: Er ist schon immer ein Gewerkschaftsdemagoge gewesen, ein überzeugter Marxist, ein allgegenwärtiger Unruhestifter, dessen kleine, starre Augen streitlüstern funkeln.
Und jetzt frage ich Sie: Wem von diesen beiden würden Sie die Zukunft der britischen Bergbauindustrie anvertrauen?
Denn das ist doch die eigentliche Frage bei diesen Streiks. Trotz Mr. Scargills Brandreden über Arbeitsplätze, Familien und das, was er »die Allgemeinheit« nennt, geht es in Wirklichkeit um nichts von alledem. In Wirklichkeit geht es um Leistung. Wenn ein Betrieb seine Kosten nicht decken kann, muß er schließen. Das ist eine der ersten – und einfachsten – Lektionen, die jeder Geschäftsmann lernt.
Leider scheint der gute Mr. Scargill das noch nicht begriffen zu haben.
Und das ist dann auch der Grund, warum ich dafür bin, daß sich Mr. McGregor, der gewitzte Mann aus dem Norden, um die Finanzen dieser Industrie kümmern sollte – und zwar pronto!
Der stellvertretende Chefredakteur las den Artikel zweimal durch. Als er aufsah, spielte ein ganz zartes Lächeln um seine Lippen.
»Mir scheint, auf diesem Gebiet werden Sie es noch ziemlich weit bringen«, sagte er.
Hilary hatte den Posten gegen Anraten von Peter Eaves, dem Chefredakteur der Zeitung, bekommen, der sie mehrere Wochen lang vollkommen ignorierte. Eines Montagabends jedoch waren beide zufällig zur selben Zeit im Büro: Hilary tippte ein Interview, das sie mit einer alten Freundin aus Cambridger Tagen gemacht hatte, einer Schauspielerin, die kürzlich ein Buch über ihre Teddybärsammlung geschrieben hatte, während Eaves und sein Stellvertreter über die Aufmachung der nächsten Ausgabe sprachen. Als Hilary auf dem Weg zur Kaffeemaschine an ihrem Tisch vorbeikam, blieb sie stehen und warf einen kritischen Blick auf den Entwurf.
»So ein Aufmacher würde mich nicht reizen, die Zeitung zu kaufen«, sagte sie.
Sie nahmen keine Notiz von ihr.
»Ich meine, das ist doch stinklangweilig. Wer will denn noch eine Gewerkschaftsstory lesen?«
Soeben war eine Meldung über ein überraschendes Gerichtsurteil gekommen. Im März hatte Außenminister Geoffrey Howe alle Beschäftigten des Government Communications Headquarters in Cheltenham angewiesen, eine etwaige Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft niederzulegen, da sich diese nicht mit den nationalen Interessen vereinbaren lasse. Die Gewerkschaften waren dagegen vor Gericht gegangen, und dieses hatte ihnen heute zur allgemeinen Verblüffung recht gegeben. Der Spruch des Gerichts lautete, die Maßnahme der Regierung laufe »dem natürlichen Recht zuwider«. Auf dem Entwurf für die Titelseite standen nebeneinander die Fotos von Mrs. Thatcher und dem Ehrenwerten Mr. Glidewell und darüber die Schlagzeile UNNATÜRLICH und, kleiner gesetzt, »Regierungsangestellte erringen Sieg«.
»Ich glaube, wir können uns darauf einigen«, sagte Eaves gemessen, »daß das die Nachricht des Tages ist. Also verschonen Sie uns mit Ihren Ansichten.«
»Nein, im Ernst«, sagte Hilary. »Wer will denn wissen, ob ein paar Angestellte im öffentlichen Dienst in der Gewerkschaft sein dürfen oder nicht? Ich meine – was soll’s? Und außerdem: Warum sollten wir eine Story bringen, die der Regierung schadet?«
»Mir ist egal, wem wir schaden«, antwortete Eaves, »solange wir Zeitungen verkaufen.«
»Tja, so werden Sie jedenfalls nicht viele verkaufen.« Sie sah auf ihre Uhr. »In zwanzig Minuten mache ich Ihnen eine bessere Titelseite. Vielleicht sogar schneller.«
»Wie war das?«
»Ich schreibe Ihnen den Artikel und besorge ein Foto.«
Hilary ging zurück zu ihrem Tisch und wählte die Privatnummer ihrer Cambridger Freundin. Nach dem Interview hatten sie sich unter anderem über eine gemeinsame Bekannte – ebenfalls Schauspielerin – unterhalten, die gerade ihr drittes Kind bekommen hatte. Sie sah nicht mehr ganz taufrisch aus, aber das hatte sie offenbar nicht daran gehindert, in einem Fernsehfilm, der in ein paar Monaten gesendet werden sollte, nackt aufzutreten. Hilarys Freundin, deren Lebensgefährte zufällig der Cutter des Films war, hatte ganz nebenbei erwähnt, sie sei im Besitz einiger hochinteressanter Szenen.
»Sei ein Schatz und schick mir ein paar Standfotos, ja?« sagte Hilary. »Wir werden uns einen kleinen Spaß erlauben.« Dann setzte sie sich an die Schreibmaschine und schrieb:
DRALLER DREIER IM SPÄTPROGRAMM
Die alte Tante BBC wird uns im kommenden Herbst mit einem heißen Leckerbissen überraschen: einem Lustspiel, das so gewagt ist, daß es erst ausgestrahlt wird, wenn unsere Kleinen längst unschuldige Träume träumen.
Die Hauptdarstellerin in diesem erregenden Film ist –, deren drei kleine Kinder sicher überrascht sein werden, ihre Mama in einem spektakulären Dreier mit dem amerikanischen Herzensbrecher – – zu sehen.
Für den Rest brauchte sie nicht lange. Hilarys Story war der Aufmacher. Die Meldung über das Gerichtsurteil zugunsten der Gewerkschaften wurde in eine Ecke am Fuß der Seite verbannt.
Später am Abend führte Peter Eaves seine neue Mitarbeiterin zum Essen aus.
Aus »Jennifers Tagebuch«, Harpers & Queen, Dezember 1984:
TRAUMHOCHZEIT
Am Samstag nachmittag war ich in St. Paul’s in Knightsbridge, und zwar auf der Hochzeit von Peter Eaves, dem bekannten Chefredakteur, und Hilary Winshaw, Tochter von Mr. und Mrs. Mortimer Winshaw. Die Braut sah zauberhaft aus in ihrem pergamentfarbenen Seidenkleid und dem Tüllschleier, der von einem mit Perlen und Brillanten besetzten Diadem gehalten wurde, und ihre Brautjungfern trugen hinreißende pfirsichfarbene Seidenkleider ...
Der Empfang im Savoy endete mit einem überaus spektakulären Höhepunkt. Die Gäste wurden auf die Terrasse am Fluß gebeten, wo der Bräutigam die Braut mit einem entzückenden Hochzeitsgeschenk überraschte: einem viersitzigen, mit einer riesigen rosafarbenen Schleife verziertem Wasserflugzeug. Das glückliche Brautpaar stieg ein und entschwand auf der Themse – ein wahrlich stilvoller Start in die Flitterwochen.
Die Regierung hat ihr Weißbuch über die Zukunft des Fernsehens veröffentlicht, und schon sind die zarten Seelchen in den Chefetagen der Fernsehanstalten in hellem Aufruhr.
Sie wollen uns weismachen, daß uns eine Lockerung der Bestimmungen »amerikanische Zustände« bescheren würde (wobei ich mich frage, was daran so schlimm wäre). Dahinter steckt nichts weiter als die schlichte Tatsache, daß es ein Wort gibt, bei dem dieser Bande von Linksliberalen in Hampstead das Herz in die Hose rutscht.
E s ist das Wort »Ents cheidungsfreiheit«.
Und warum fürchten sie es so? Weil sie wissen, daß die meisten von uns, wenn wir die Wahl hätten, sich niemals für den öden Mischmasch aus überkandidelten Fernsehspielen und linkem Agitprop »entscheiden« würden, den diese Fernsehmafia uns zumutet.
Wann werden diese selbsternannten Kulturhüter begreifen, daß wir am Ende eines anstrengenden Arbeitstages ein bißchen Unterhaltung und Entspannung wollen? Daß wir nicht von einem weltfremden, bärtigen Kritiker »gebildet« werden wollen, der uns einen dreistündigen Film über einen einbeinigen Possenreißer aus Bulgarien »näherbringen« will?
Ich kann nur sagen, es ist höchste Zeit für eine Lockerung der Bestimmungen, wenn das bedeutet, daß wir Zuschauer mehr Entscheidungsfreiheit bekommen und Publikumslieblinge wie Brucie, Noel und Tarby öfter zu sehen kriegen.
Aber bis es soweit ist, wollen wir eines nicht vergessen: Wenn in der Glotze wieder mal nichts anderes kommt als ein langweiliger Dokumentarfilm über peruanische Landarbeiter oder irgendein vollkommen unverständlicher »künstlerischer« Film (mit Untertiteln, versteht sich), dann gibt es eine Entscheidung, die uns niemand nehmen kann.
Die Entscheidung, mit einem kleinen Knopfdruck den Apparat abzustellen und zum nächsten Videoverleih zu gehen!
»IM KLARTEXT«, November 1988
»Was für einen Mist siehst du dir da an?«
»Du kommst ein bißchen spät, findest du nicht?«
»Zufällig hatte ich noch zu arbeiten.«
»Ach Gott, nicht schon wieder.«
»Wie war das?«
»Deine Ausreden sind so verdammt durchsichtig, Schatz.«
»Was ist das für ein Mist in der Glotze?«
»Ich weiß nicht – irgendeine Gameshow. Eine von diesen herzigen, volksnahen Unterhaltungssendungen, die du letztens in deiner Kolumne gepriesen hast.«
»Ich verstehe nicht, wie man sich diese Scheiße ansehen kann. Kein Wunder, daß deine bescheuerten Leser so auf deine Zeitung stehen. Du bist nicht viel besser als sie.«
»Höre ich da eine Spur von postkoitaler Gereiztheit heraus?«
»Jetzt geht das schon wieder los!«
»Ich verstehe nicht, warum du dich von Nigel bespringen läßt, wenn du doch nur schlechte Laune davon kriegst.«
»Der Gedanke daran macht dich richtig an, hab ich recht?«
»Der Gedanke daran macht wahrscheinlich jeden in der Zeitung an – schließlich bist du ja nicht gerade diskret.«
»Und das sagst ausgerechnet du? Du findest es wohl diskret, dir in deinem Büro von einer Volontärin einen blasen zu lassen und vorher noch nicht mal die Tür zuzumachen!«
»Lieber süßer Schatz, tu mir einen Gefallen, ja? Verpiß dich und schieß dir eine Kugel durch den Kopf!«
Aus Hello Juni 1990:
Hilary Winshaw und Sir Peter Eaves Die jungen Eltern sind überglücklich über die kleine Josephine: »Wir konnten uns gar nicht vorstellen, daß unsere Liebe noch größer werden könnte.«
Mutterliebe leuchtet in Hilary Winshaws Augen, als sie im Wintergarten ihres gemütlichen Hauses in South Kensington ihre strahlende, gerade einen Monat alte Tochter Josephine hoch in die Luft hebt. Die glücklichen Eltern mußten geraume Zeit auf ihr erstes Kind warten – Hilary und Sir Peter haben vor sechs Jahren geheiratet, nachdem sie sich in der Redaktion der Zeitung kennengelernt hatten, deren Chefredakteur er ist und für die sie eine beliebte wöchentliche Kolumne schreibt –; aber wie Hilary Hello! in diesem Exklusivinterview erklärt, hat sich das lange Warten auf Josephine gelohnt.
Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie Ihre kleine Tochter zum erstenmal sahen?
Total erschöpft! Ich glaube, es war eine ziemlich leichte Geburt, und trotzdem, ich habe keine große Sehnsucht danach, das so bald noch mal durchzumachen. Aber ein Blick auf Josephine, und ich wußte, es hat sich gelohnt. Es war ein überwältigendes Gefühl.
Hatten Sie die Hoffnung auf ein Kind schon aufgegeben? Ich glaube, diese Hoffnung hat man immer. Wir sind nie zu einem Arzt gegangen – das war vielleicht dumm, aber wenn man einen Partner hat, bei dem man fühlt, daß er genau der richtige ist, und wenn man so glücklich ist wie Peter und ich, dann glaubt man eben einfach daran, daß der Traum eines Tages in Erfüllung geht. In dieser Hinsicht sind wir beide unverbesserliche Romantiker.
Und hat Josephine Ihre Liebe füreinander noch verstärkt? Ja, natürlich. Ich zögere ein bißchen, das zu sagen, denn, ehrlich gesagt, fällt es mir immer noch schwer, das zu glauben. Wir konnten uns gar nicht vorstellen, daß unsere Liebe noch größer werden könnte.
Die Kleine hat Ihre Augen, und wie mir scheint hat sie auch schon die Winshaw-Nase. Finden Sie, daß sie auch Ähnlichkeit mit Sir Peter hat?
Nein, eigentlich noch nicht. Ich glaube, bei den meisten Babys kommt das erst später – bei unserem wird es wohl nicht anders sein.
S ie sind jetzt Mutter . Werden Sie in Ihre m Beruf eine Pause e inlegen?
Ich glaube nicht. Selbstverständlich möchte ich so viel Zeit wie möglich mit meinem Baby verbringen – und mit meinem Mutterschaftsurlaub ist Peter natürlich sehr großzügig. Es ist schon eine große Hilfe, wenn man mit dem Chef verheiratet ist. Aber ich möchte meine Leser nicht enttäuschen. Sie sind so treu, so herzlich. Ich habe sehr viele Briefe und Glückwunschkarten bekommen – das bestärkt einen im Glauben an die Menschheit.
Als eifrige Leserin Ihrer Kolumne muß ich sagen, daß ich überrascht bin, keine Handwerker in Ihrem Haus zu sehen. Ich weiß, ich schreibe ziemlich oft darüber, nicht? Dabei haben wir in letzter Zeit eine ganze Menge umbauen lassen. Dieser Wintergarten zum Beispiel ist neu, und der Anbau mit dem Schwimmbad ebenfalls. Das hat länger gedauert, als wir geplant hatten, weil die Nachbarn sich so angestellt haben. Sie sind sogar vor Gericht gegangen, wegen des Lärms – das muß man sich mal vorstellen. Aber inzwischen sind sie ausgezogen, so daß diese Sache nun ein gutes Ende gefunden hat.
Wie ich gehört habe, dürfen wir uns darauf freuen, demnächst ein weiteres Ihrer zahlreichen Talente kennenzulernen. Ja, im Augenblick arbeite ich an meinem ersten Roman. Die Rechte sind versteigert worden, und ich kann zu meiner Freude sagen, daß das Buch im kommenden Frühjahr erscheinen wird.
Verraten Sie uns, worum es darin geht?
Also, ehrlich gesagt, habe ich noch nicht angefangen zu schreiben, aber es wird ein sehr spannendes Buch, mit viel Atmosphäre und Romantik. Das Schönste daran ist natürlich, daß ich zu Hause arbeiten kann – wir haben ein süßes kleines Arbeitszimmer mit Blick auf den Garten eingerichtet, so daß ich immer in Josephines Nähe sein kann. Und das ist auch gut so, denn im Augenblick könnte ich es nicht ertragen, auch nur eine Minute von ihr getrennt zu sein!
Hilary starrte böse ihre Tochter an, die das Gesicht verzog und für den nächsten Schrei Luft holte. »Was hat es denn jetzt schon wieder?« fragte sie.
»Wahrscheinlich nur Blähungen«, sagte das Kindermädchen.
Hilary fächelte sich mit der Speisekarte Luft zu. »Können Sie es nicht für eine Weile rausbringen? Es blamiert uns ja vor allen Leuten.«
Als das Kindermädchen mit dem Baby gegangen war, wandte Hilary sich wieder ihrem Begleiter zu. »Entschuldigen Sie, Simon. Wo waren wir stehengeblieben?«
»Wir müssen noch einen Titel finden. Am besten nur ein Wort. Lust oder Rache oder Verlangen oder so.«
»Können wir das nicht den Marketingleuten überlassen? Ich finde es schon schwer genug, dieses verdammte Ding zu schreiben.«
Simon nickte. Er war ein großer, gutaussehender Mann, hinter dessen etwas ausdruckslosem Äußeren sich ein kühl rechnender Verstand verbarg. Er hatte erstklassige Referenzen vorgelegt; Hilary hatte ihn unter sieben oder acht Bewerbern als ihren Agenten ausgewählt.
»Es tut mir leid, daß die Auktion ein bißchen enttäuschend war«, sagte er, »aber die Verlage sind im Augenblick ziemlich vorsichtig. Noch vor ein paar Jahren wäre eine sechsstellige Summe überhaupt kein Problem gewesen. Jedenfalls haben Sie gar nicht mal schlecht abgeschnitten. Kürzlich habe ich gelesen, daß dieselben Leute einem jungen Schriftsteller 75.000 Pfund für seinen ersten Roman gezahlt haben.«
»Trotzdem – hätten Sie sie nicht noch ein bißchen höher treiben können?«
»Nein, das war aussichtslos. Bei 85.000 war Schluß, das hab ich deutlich gemerkt.«
»Schon gut. Ich bin sicher, Sie haben Ihr Bestes getan.«
Sie bestellten sich Austern als Vorspeise und danach frischen Hummer. Als die Bedienung gehen wollte, sagte Simon: »Sollten wir nicht auch etwas für ... wie heißt sie noch mal ... Maria bestellen?«
»Für wen?«
»Ihr Kindermädchen.«
»Ach, so. Ja. Wahrscheinlich haben Sie recht.«
Sie winkte die Bedienung noch einmal an ihren Tisch und bestellte einen Hamburger.
»Was bekommt Josephine eigentlich zu essen?« fragte Simon.
»Ach, irgendeinen ekligen Brei in kleinen Flaschen, die man im Supermarkt kaufen muß. Man stopft ihn oben rein, und zehn Minuten später kommt er unten wieder raus und sieht genauso aus wie vorher. Wirklich widerwärtig. Und es schreit die ganze Zeit. Also ehrlich – wenn ich dieses Buch jemals schreiben soll, werde ich wohl für ein paar Wochen wegfahren müssen, ganz egal, wohin. Vielleicht wieder nach Bali oder auf eine der Inseln am Barriere-Riff – in irgendeine öde Gegend eben. Solange dieses verdammte Baby um mich herum ist, komme ich zu nichts, zu rein gar nichts.«
Simon legte ihr mitfühlend seine Hand auf den Arm.
Beim Kaffee sagte er: »Wenn Sie diesen Roman hinter sich haben, sollten Sie vielleicht ein Buch über Mutterschaft machen. Das ist im Augenblick ein sehr beliebtes Thema.«
Gegen die meisten Frauen hatte Hilary eine Abneigung, denn in ihren Augen waren sie eher Konkurrentinnen als Verbündete. Deswegen fühlte sie sich immer so wohl im Heartland Club, jenem altmodischen, erzkonservativen, männerdominierten Etablissement, in dem ihr Cousin Henry gern Geschäfte einfädelte.
Henry hatte 1974, kurz vor der zweiten Parlamentswahl, mit der Labour Party gebrochen, und obgleich er offiziell nie der Conservative Party beigetreten war, hatte er in den achtziger Jahren zu ihren treuesten und entschiedensten Anhängern gehört. In dieser Zeit war er ins Licht der Öffentlichkeit gerückt: Sein buschiges weißes Haar und sein Bulldoggengesicht (dem er durch sein Markenzeichen, eine gepunktete Fliege, einen Hauch von Verwegenheit verlieh) tauchten ständig in Fernsehdiskussionsrunden auf, wo er, unter Betonung seiner parteilichen Ungebundenheit, blind ergeben jede zynische Kursänderung der gegenwärtigen Regierung verteidigte. Teils für diese Auftritte, teils für die – weit wichtigere – Wasserträgerarbeit, die er zehn Jahre lang in einer Reihe politisch bedeutsamer Komitees geleistet hatte, wurde er 1990 in den höheren Adelsstand erhoben. Auf dem Kopf des Briefes, mit dem Hilary zu dieser Audienz zitiert worden war, prangte bereits Henrys neuer Titel: Lord Winshaw of Micklethorpe. »Schon mal daran gedacht, wieder ins Fernsehgeschäft einzusteigen?« fragte er sie und schenkte aus einer Kristallkaraffe zwei Brandys ein.
»Natürlich. Ich hätte große Lust«, antwortete Hilary. »Abgesehen davon war ich verdammt gut.«
»Ich habe gehört, daß demnächst bei einer der ITV-Gesellschaften was frei wird. Wenn du willst, werde ich mal sehen, was ich tun kann.«
»Und als Gegenleistung ...?« fragte Hilary schelmisch, als sie sich zu beiden Seiten des Kamins setzten, in dem, da es ein warmer Abend Ende Juli war, kein Feuer brannte.
»Ach, nur eine Kleinigkeit. Wir haben uns gedacht, du und deine Kollegen von der Journaille könntet der BBC ein bißchen Feuer unterm Hintern machen. Man hat allgemein das Gefühl, daß die Lage dort außer Kontrolle gerät.«
»Und was hattet ihr euch vorgestellt? Reportagen? Oder bloß die Kolumne?«
»Ein wenig von beidem wäre vielleicht am besten. Ich finde nur, daß bald etwas geschehen muß, denn die augenblickliche Situation ist wirklich völlig untragbar. Der Laden wimmelt nur so von Marxisten. Und die machen noch nicht mal ein Hehl daraus. Ich weiß nicht, ob du in letzter Zeit die Nine O’Clock News gesehen hast – diese Burschen wahren nicht einmal mehr den Schein der Objektivität. Besonders, was den National Health Service betrifft: Die Art der Berichterstattung über unsere Reformpläne ist beklagenswert. Wirklich beklagenswert. Abend für Abend werden unzählige Wohnungen in diesem Land überschwemmt, buchstäblich überschwemmt mit regierungsfeindlicher Demagogie und Propaganda. Das ist unerträglich.« Er hob sein Glas an den vor Abscheu verzerrten Mund und nahm einen langen Schluck, worauf seine Miene sich aufhellte. »Übrigens«, sagte er, »der Premierministerin hat dein Aufmacher vom Dienstag sehr gefallen.«
»VERRÜCKTE LABOUR-LESBEN VERBIETEN KINDERKLASSIKER?«
»Genau. Sie wollte sich ausschütten vor Lachen. Und im Augenblick können wir ein bißchen Aufheiterung weiß Gott gebrauchen.« Wieder fiel ein Schatten über sein Gesicht. »Man erzählt sich, daß es einen neuen Herausforderer geben wird. Heseltine will seinen Hut in den Ring werfen. Wahnsinn. Völliger Wahnsinn.«
»Diese Position, von der du gesprochen hast ...Ach so, ja.« Henry nannte den Namen einer der größeren unabhängigen Produktionsgesellschaften. »Es hat da eine Umbesetzung gegeben, und sie haben einen neuen leitenden Direktor. Zum Glück haben wir einen von unseren Leuten auf den Posten hieven können. Er kommt aus einer Bankiersfamilie, und das heißt, daß er nicht nur mit Zahlen umgehen kann, sondern auch keinen blassen Dunst von der Materie hat. Eine seiner ersten Amtshandlungen wird sein, diesen verkalkten Marxisten Beamish rauszuschmeißen.«
»Und dann werden sie sich auf die Suche nach einem neuen Leiter der Nachrichtenredaktion machen.«
»Genau.«
Hilary verdaute diese Neuigkeit.
»Er hat mir damals meinen ersten Job gegeben. Mitte der siebziger Jahre.«
»Kann schon sein.« Henry trank sein Glas aus und griff nach der Karaffe. »Aber nicht mal deine schlimmsten Feinde können dir nachsagen, daß du sentimental bist«, sagte er trocken.
Als Hilary zu ihrem Gespräch mit Alan Beamish erschien, wurde sie – wie vereinbart – nicht in sein Büro, sondern in einen unpersönlichen Konferenzraum mit Aussicht auf den Haupteingang geführt.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Ein Ärgernis. In meinem Büro wird die Decke oder so gestrichen. Ich hätte ja nichts dagegen, aber man hat es mir erst heute morgen gesagt. Möchten Sie einen Kaffee?«
Er hatte sich nicht sehr verändert. Sein Haar war grauer geworden, er bewegte sich langsamer, und seine Ähnlichkeit mit einem ältlichen Gemeindepfarrer stach noch mehr ins Auge, aber abgesehen davon kam es Hilary so vor, als wäre der ihr aufgezwungene schreckliche Fernsehabend in jenen endlos langen Ferien nicht vor zwanzig Jahren, sondern gestern gewesen.
»Ich war von Ihrem Anruf sehr überrascht«, sagte er. »Ehrlich gesagt weiß ich nicht so recht, was Sie und ich zu besprechen hätten.«
»Tja, zum Beispiel könnte ich eine Entschuldigung dafür verlangen, daß Sie mich im Independent als Barbarin bezeichnet haben.«
Alan hatte kürzlich einen Artikel mit der Überschrift »DIE BARBAREN STEHEN VOR DEN TOREN« geschrieben, in dem er Hilary (zu ihrem großen Vergnügen) als Personifizierung all dessen geschildert hatte, was er am gegenwärtigen kulturellen Klima verabscheute.
»Ich stehe zu jedem Wort in diesem Artikel«, sagte er. »Und Sie wissen sehr gut, daß Sie im Austeilen so gut sind wie im Einstecken. Im Lauf der Jahre haben Sie mich in Ihrer Kolumne oft und heftig genug angegriffen – als Figur, wohlgemerkt, und ohne meinen Namen zu nennen.«
»Tut es Ihnen nicht leid, mir so geholfen zu haben, jetzt, wo Sie sehen, was aus mir geworden ist?« fragte Hilary.
»Früher oder später hätten Sie es auch so geschafft.«
Hilary nahm ihre Kaffeetasse und setzte sich auf die Fensterbank. Der Himmel war strahlend blau.
»Ihr neuer Chef war sicher nicht sehr begeistert über diesen Artikel«, sagte sie.
»Er hat ihn mit keinem Wort erwähnt.«
»Wie ist es denn so, seit er hier ist?«
»Schwierig, wenn Sie es genau wissen wollen«, antwortete er. »Eigentlich sogar katastrophal.«
»Ach, ja? Inwiefern?«
»Kein Geld. Keine Begeisterung – jedenfalls nicht für die Sendungen, die ich machen will. Sie können sich nicht vorstellen, was für eine Einstellung die zu dieser Kuwait-Geschichte haben. Seit Monaten sage ich ihnen, daß wir eine Sendung über Saddam Hussein und sein Aufrüstungsprogramm machen sollten. Es ist völlig absurd: Jahrelang haben wir ihm Waffen verkauft, und jetzt ist er auf einmal die Bestie von Babylon, weil er sie tatsächlich einsetzt. Zu diesem Thema gäbe es doch einiges zu sagen. In den vergangenen Wochen habe ich ein paarmal mit einem unabhängigen Dokumentarfilmer gesprochen, der seit Jahren auf eigene Faust an einer Reportage zu diesem Thema arbeitet. Er hat mir einen Teil seines Materials vorgeführt – phantastisches Zeug. Aber die Herren da oben haben abgewinkt. Die wollen nichts davon wissen.«
»Zu dumm.«
Alan sah auf seine Uhr. »Also, Hilary, Sie sind bestimmt nicht gekommen, um die Aussicht auf unseren Eingangsbereich zu genießen, so schön er auch ist. Würden Sie mir bitte sagen, was Sie von mir wollen?«
»Das Foto unter Ihrem Artikel«, sagte sie gedankenverloren, »wurde das in Ihrem Büro gemacht?«
»Ja.«
»An der Wand hinter Ihnen hing ein Gemälde von Bridget Riley, nicht?«
»Stimmt.«
»Das haben Sie bei meinem Bruder gekauft.«
»Ja.«
»Viele grüne und schwarze, zur Seite geneigte Rechtecke.«
»Richtig. Warum fragen Sie?«
»Weil es so aussieht, als würde es gerade von zwei Männern in einen Lieferwagen geladen.«
»Was zum ...« Alan sprang auf und trat ans Fenster. Vor den Eingangsstufen stand ein Möbelwagen, und auf dem von der Sonne beschienenen Pflaster war die Einrichtung seines Büros aufgestapelt: Bücher, ein Drehsessel, Pflanzen, Bilder, Papier.
Hilary lächelte. »Wir dachten, das wäre die schonendste Art, es Ihnen beizubringen. So etwas sollte man immer möglichst kurz und schmerzlos hinter sich bringen.«
Irgendwie schaffte er es zu sagen: »Wir?«
»Bevor Sie gehen: Gibt es bei Ihrem Job noch irgendwas, das ich wissen sollte?« Als er nicht antwortete, öffnete sie ihren Aktenkoffer und sagte: »Hier ist Ihr Antrag auf Arbeitslosenunterstützung. Ich hab Ihnen sogar die Adresse des nächsten Sozialamts aufgeschrieben. Publikumsverkehr ist bis halb vier – Sie haben also jede Menge Zeit.« Sie hielt ihm das Formular hin, und als er es nicht nahm, legte sie es auf die Fensterbank. Ihr Lächeln wurde breiter, und sie schüttelte den Kopf. »Die Barbaren stehen nicht mehr vor den Toren, Alan. Leider haben Sie und Ihresgleichen die Tore weit geöffnet, und so sind wir einfach hineinspaziert. Jetzt haben wir die besten Plätze und können unsere Füße auf den Tisch legen. Und wir haben vor, sehr lange zu bleiben.«
Sie klappte den Aktenkoffer zu und ging zur Tür. »Und jetzt sagen Sie mir bitte, wie ich zu Ihrem Büro komme.«