Читать книгу Allein mit Shirley - Jonathan Coe - Страница 9

August 1990

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Kenneth sagte: »Sie wissen nicht zufällig, wo mein Zimmer ist, Miss?«

Shirley schüttelte betrübt den Kopf und sagte: »Nein, leider nicht.«

Kenneth sagte: »Tja.« Er hielt inne. »Entschuldigen Sie. Dann werde ich mal gehen.«

Shirley zögerte kurz und rang sich dann zu einem Entschluß durch. »Nein, warten Sie.« Sie machte eine rasche Geste. »Drehen Sie sich mal kurz um.«

Kenneth drehte sich um und stellte fest, daß er vor einem Spiegel stand, in dem er sich selbst und dahinter Shirley sehen konnte. Sie kehrte ihm den Rücken zu und zog sich das Unterkleid über den Kopf.

Er sagte: »M-Moment mal, Miss.«

Die Hand zwischen meinen Schenkeln begann sich zu regen.

Eilig kippte Kenneth den drehbar aufgehängten Spiegel.

Shirley wandte sich zu ihm um und sagte: »Sie gefallen mir.« Sie hatte das Unterkleid ausgezogen und war dabei, den Verschluß ihres BHs zu öffnen.

Meine Hand strich sacht über den rauhen Stoff der Jeans.

Shirley verschwand hinter Kenneths Kopf.

Kenneth sagte: »Na ja, ein ... ein schönes Gesicht ist nicht alles.«

Er hielt den Spiegel gekippt und versuchte, nicht hineinzusehen, konnte aber nicht widerstehen, hin und wieder einen Blick darauf zu werfen, und jedesmal sah sein Gesicht aus, als litte er körperliche Schmerzen. Shirley zog ihr Nachthemd an.

Kenneth sagte: »Nicht alles, was glänzt, ist Gold.«

Shirley tauchte hinter seinem Kopf auf. Sie trug jetzt ein knielanges Nachthemd und sagte: »Sie dürfen sich wieder umdrehen.«

Er tat es und sah sie an. Der Anblick schien ihm zu gefallen.

»Donnerwetter! Reizend!«

Shirley strich sich verlegen das Haar aus der Stirn.

Meine Hand kam zur Ruhe. Ich wollte die Pausetaste drücken, überlegte es mir aber anders.

Kenneth begann auf und ab zu gehen und sagte mit gespieltem männlichen Mut: »Nach all dem, was heute abend hier passiert ist, fürchten Sie sich wohl ziemlich.

Shirley sagte: »Eigentlich nicht.« Sie setzte sich auf das schwere, eichene Doppelbett.

Kenneth machte ein paar eilige Schritte auf sie zu. »Ich schon«, sagte er.

Shirley sagte: »Mir kommt da ein Gedanke.« Sie beugte sich vor. Kenneth drehte sich um und ging wieder auf und ab. Er sagte, wie zu sich selbst: »Ja, mir kommt auch der eine oder andere Gedanke.«

Shirley sagte: »Setzen Sie sich.« Sie klopfte neben sich auf die Matratze. »Na los.« Ein Orchester begann zu spielen, aber das merkten die beiden nicht. Kenneth setzte sich neben sie. Sie sagte: »Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen.«

Kenneth sagte: »Ach, ja?«

Shirley rückte näher an ihn heran. Sie sagte: »Warum bleiben Sie nicht heute nacht hier? Ich möchte nicht gern allein sein. Wir könnten uns doch Gesellschaft leisten.«

Während sie das sagte, beugte Kenneth sich zu ihr. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würden sie sich gleich küssen.

Ich sah wie gebannt zu.

Kenneth wandte sich ab. Er sagte: »Ja, das ist ... eine sehr gute Idee, Miss, aber ... Na ja ...« Er stand auf und ging wieder auf und ab. »Ich ... wir kennen uns doch gar nicht ...« Er ging zur Tür. Shirleys Antwort war nicht zu verstehen. Sie nahm die Tagesdecke vom Bett und schüttelte die Kissen auf. Das sah man wieder nur indirekt, diesmal in einem mannshohen Spiegel gegenüber dem Bett. Sie merkte nicht, daß Kenneth an der Tür stand. Er warf einen letzten Blick zurück und schlich hinaus.

Sie war noch immer mit dem Bett beschäftigt und sagte: »Ich werde es mir im ...« Sie drehte sich um und sah, daß er nicht mehr da war. »... Sessel bequem machen.«

Ich drückte auf die Rücklauftaste.

Einen Augenblick lang erstarrte Shirley: Ihr Mund stand offen, ihr Körper zitterte. Dann drehte sie sich um und strich die Decke glatt, Kenneth ging rückwärts ins Zimmer, Shirley schien etwas zu sagen und setzte sich auf das Bett, Kenneth schien etwas zu sagen und setzte sich neben sie, sie sprachen miteinander, er erhob sich, ging rückwärts auf und ab und machte ein paar rasche Schritte von ihr weg, sie strich sich das Haar in die Stirn, er wandte den Blick von ihr ab, sie verschwand hinter seinem Kopf und begann ihr Nachthemd auszuziehen, Kenneth verzog mehrmals das Gesicht und bewegte den Spiegel auf und ab, Shirley zog ihren BH an, tauchte hinter Kenneths Kopf auf, hob ihr Unterkleid über den Kopf und sagte etwas, Kenneth kippte hastig den Spiegel, sagte etwas und sah in den Spiegel, und Shirley zog sich mit windenden Bewegungen das Unterkleid an.

Ich drückte die Pausetaste.

Kenneths Gesicht und Shirleys Gestalt waren im Spiegel zu sehen. Sie zitterten. Ich drückte nochmals die Pausetaste. Die beiden bewegten sich. Ich drückte noch ein paar Male. Sie zuckten. Shirley bewegte die Arme. Ein bißchen. Noch ein bißchen. Sie wand sich. Sie zog das Unterkleid aus. Sie zog es über den Kopf. Kenneth sah zu. Er wußte, daß sich das nicht gehörte. Shirley hatte das Unterkleid fast ausgezogen. Sie hatte die Arme über den Kopf gehoben.

Die Hand zwischen meinen Schenkeln begann sich zu regen.

Kenneth bewegte ganz langsam die Lippen. Er kippte den Spiegel nach unten, so daß er Shirley nicht mehr sehen konnte, und hielt ihn in dieser Position.

Shirley drehte sich zu ihm um und bewegte die Lippen. Es waren nur zwei Worte, doch sie brauchte sehr lange dafür. Dann fuhr sie fort, ihr Unterkleid auszuziehen. Sie tat es mit sieben zuckenden Bewegungen. Sie legte die Hände auf den Rücken. Sie fingerte am Verschluß ihres BHs herum.

Meine Hand strich sacht über den rauhen Stoff der Jeans.

Shirley drehte sich um. Sie begann einen Schritt zu machen. Sie verschwand hinter Kenneths Kopf.

Es klopfte an der Tür.

»Scheiße!« sagte ich und sprang auf. Ich schaltete den Videorecorder aus. Das Schwarzweißbild verschwand, ein farbiges erschien, und der Ton war wieder da: eine sehr tiefe und laute Stimme. Auf dem Bildschirm war ein Mann zu sehen. Er hatte die Arme um ein Kind gelegt. Irgendeine Reportage. Ich stellte das Gerät leiser und vergewisserte mich, daß mein Hosenschlitz geschlossen war. Ich sah mich um. Das Zimmer war sehr unordentlich. Ich beschloß, daß es zu spät war, daran etwas zu ändern, und ging zur Tür. Es war Donnerstag abend, Viertel nach neun. Wer konnte das sein?

Ich öffnete die Tür einen Spaltbreit. Es war eine Frau.

Sie hatte durchdringende, sehr intelligente blaue Augen – Augen, die meinen Blick festgehalten hätten, wenn ich mich nicht auf die Betrachtung ihres blassen, leicht sommersprossigen Gesichts und des vollen kupferroten Haars konzentriert hätte. Sie lächelte mich an, nicht übertrieben, aber gerade genug, um schöne, regelmäßige Zähne sehen zu lassen und mir das Gefühl zu geben, daß ich ihr Lächeln erwidern mußte, ganz gleich, wie schwierig mir das auch erscheinen mochte. Es gelang mir, etwas auf mein Gesicht zu zaubern, das wohl wie ein nicht sehr vertrauenerweckendes halbes Grinsen aussah. Ich fand es ungewöhnlich und erregend, daß eine Frau vor meiner Tür stand, doch meine Freude wurde nicht nur durch den etwas ungünstigen Zeitpunkt ihres Besuches getrübt, sondern auch durch das unangenehme, hartnäckige Gefühl, daß ich sie schon einmal gesehen hatte und daher wissen mußte, wer sie war und wie sie hieß. In der linken Hand hielt sie einen in der Mitte gefalteten DIN-A4-Bogen, und mit der rechten machte sie fahrige Bewegungen, als suchte sie eine Tasche, in der sie sie verstecken konnte.

»Hallo«, sagte sie.

»Hallo.«

»Ich hoffe, ich störe Sie nicht.«

»Ganz und gar nicht. Ich sitze vor dem Fernseher.«

»Ich wollte Sie bloß ... Wir kennen uns nicht besonders gut, aber ich wollte Sie trotzdem fragen, ob Sie mir einen Gefallen tun könnten. Wenn es Ihnen recht ist.«

»Warum nicht? Kommen Sie doch herein.«

»Danke.«

Als sie eintrat, versuchte ich mich zu erinnern, wie lange es her war, daß mich irgend jemand besucht hatte. Mein letzter Gast war wahrscheinlich meine Mutter gewesen, vor zwei oder drei Jahren. Seitdem hatte ich weder Staub gewischt noch gesaugt. Und was meinte sie mit: »Wir kennen uns nicht besonders gut«? Eine sonderbare Bemerkung.

»Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?« fragte ich.

Sie sah mich irritiert an; erst jetzt bemerkte ich, daß sie gar keinen Mantel trug, sondern bloß Jeans und eine Baumwollbluse. Ich fand das etwas verwirrend, was ich jedoch zu verbergen suchte, indem ich in ihr nervöses Lachen einstimmte. Immerhin war es draußen warm und noch einigermaßen hell.

»Also«, sagte ich, als wir uns gesetzt hatten, »was kann ich für Sie tun?«

»Tja, das ist so«, sagte sie, doch kaum hatte sie mit ihrer Erklärung begonnen, wurde meine Aufmerksamkeit von den Leberflecken auf ihren Handrücken gefesselt, und ich versuchte zu erraten, wie alt sie sein mochte, denn ihr Gesicht und besonders die Augen hatten noch jenen frischen, fragenden, jugendlichen Ausdruck, und wenn es allein danach gegangen wäre, hätte ich sie auf höchstens Anfang Dreißig geschätzt, doch jetzt fragte ich mich, ob sie nicht eher so alt wie ich oder sogar älter war – Anfang bis Mitte Vierzig etwa –, und ich wollte mich gerade entscheiden, als ich merkte, daß sie schwieg und auf meine Antwort wartete und daß ich überhaupt nicht zugehört hatte.

Es entstand eine lange, peinliche Pause. Ich stand auf, steckte die Hände in die Taschen und ging zum Fenster. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich nach ein paar Sekunden umzudrehen und so höflich wie möglich zu sagen: »Könnten Sie das noch mal wiederholen?«

Sie war aus der Fassung gebracht, bemühte sich aber, es sich nicht anmerken zu lassen. »Na klar«, sagte sie und fing noch einmal von vorn an, nur daß ich diesmal, von meinem Platz am Fenster aus, den Fernseher im Blickfeld hatte und gar nicht anders konnte, als den gebräunten, dunkelhaarigen, lächelnden Mann zu sehen, der seinen Arm um einen kleinen Jungen gelegt hatte und dem sehr viel an der Zuneigung dieses kleinen Jungen zu liegen schien, welcher jedoch stocksteif dastand, starr vor sich hinsah und sich dem onkelhaften Mann mit dem Dauerlächeln und dem dicken schwarzen Schnurrbart zu entziehen schien, und diese Szene war so fesselnd und wirkte so unnatürlich, so aufgeladen mit unterschwelliger Spannung, daß ich ganz vergaß, der Frau zuzuhören, und mir erst, als sie fast fertig war, bewußt wurde, daß ich noch immer keine Ahnung hatte, was sie eigentlich von mir wollte.

Es entstand eine weitere Pause, länger und peinlicher als die erste. Ich durchdachte sorgfältig meinen nächsten Zug und schlenderte dann langsam und nonchalant zum anderen Ende des Raums, lehnte mich lässig an den Eßtisch und sah sie an. Und dann sagte ich: »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir das noch einmal zu erklären?«

Sie musterte mich einige Sekunden lang. »Ich hoffe, Sie nehmen mir meine Frage nicht übel, Michael«, sagte sie. »Geht es Ihnen nicht gut?«

Das war eine nach landläufigen Maßstäben berechtigte Frage, doch ich fühlte mich außerstande, eine ehrliche Antwort zu geben.» Mein Konzentrationsvermögen«, sagte ich. »Auch nicht mehr das, was es mal war. Wahrscheinlich zuviel Fernsehen. Wenn Sie bloß ... nur noch einmal ... Diesmal höre ich zu. Wirklich.«

Einen Augenblick lang stand es auf der Kippe. Ich wäre nicht überrascht gewesen, wenn sie einfach aufgestanden und hinausgegangen wäre. Sie sah auf das Blatt Papier in ihrer Hand und schien zu überlegen, ob sie die Sache nicht lieber vergessen sollte, anstatt sich der offensichtlich undankbaren Aufgabe zu widmen, mit ein paar klaren, simplen Sätzen zu mir durchzudringen. Doch dann holte sie tief Luft und begann noch einmal – langsam, laut und deutlich. Es war meine letzte Chance.

Und diesmal hätte ich ihr wirklich zugehört, denn sie hatte unter anderem meine Neugier erregt, aber meine Gedanken rasten im Kreis, weil sie mich mit meinem Namen, mit meinem Vornamen Michael angesprochen hatte, als sie gesagt hatte: »Ich hoffe, Sie nehmen mir meine Frage nicht übel, Michael«, und ich kann Ihnen nicht sagen, wann mich jemand das letztemal mit meinem Vornamen angesprochen hatte – jedenfalls nicht in der Zeit seit dem Besuch meiner Mutter, und der war zwei oder drei Jahre her –, und das Komische war, daß ich, wenn sie meinen Namen kannte, ihren Namen höchstwahrscheinlich auch kannte oder gekannt hatte oder kennen sollte, denn das bedeutete, daß wir einander irgendwann einmal vorgestellt worden waren, und ich war so damit beschäftigt, einen Namen zu diesem Gesicht zu finden und es in einen Kontext zu stellen, in dem es mir begegnet sein konnte, daß ich völlig vergaß, auf ihre langsamen, lauten und deutlichen Worte zu achten, und daher wußte ich, als sie geendet hatte, daß nun etwas Größeres, etwas viel Größeres und viel, viel Unangenehmeres auf uns zukam als eine weitere lange und peinliche Pause.

»Sie haben wieder nicht zugehört, stimmt’s?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Langsam habe ich das Gefühl«, sagte sie und stand auf, »daß ich hier meine Zeit verschwende.«

Sie starrte mich vorwurfsvoll an, und da ich ohnehin nicht mehr viel zu verlieren hatte, starrte ich zurück.

»Darf ich Sie mal was fragen?«

Sie zuckte die Schultern. »Nur zu.«

»Wer sind Sie?«

Ihre Augen weiteten sich, und ich hatte das Gefühl, als wäre sie einen Schritt zurückgetreten, obwohl sie sich, soweit ich sehen konnte, gar nicht bewegt hatte.

»Wie bitte?«

»Ich weiß nicht, wer Sie sind.«

Sie schenkte mir ein ungläubiges, trauriges Lächeln.

»Ich bin Fiona.«

»Fiona.« Der Name verschwand dumpf rumpelnd in meinen Gehirnwindungen, rief dort aber kein Echo hervor. »Sollte ich Sie kennen?«

»Ich bin Ihre Nachbarin«, sagte Fiona. »Ich wohne gegenüber von Ihnen. Ich hab mich Ihnen vor ein paar Wochen vorgestellt. Wir begegnen uns drei–, viermal die Woche auf der Treppe und grüßen uns.«

Ich kniff die Augen zusammen, trat näher und musterte sie ziemlich unhöflich. Mit gewaltiger Anstrengung bemühte ich all mein Erinnerungsvermögen. Fiona ... Noch immer glaubte ich, den Namen nie gehört zu haben, jedenfalls nicht in letzter Zeit, und wenn mir irgend etwas an ihr entfernt bekannt vorkam, so lag der Ursprung dieses Gefühls im dunkeln und gemahnte weniger an alltägliche Begegnungen auf der Treppe als vielmehr an den Eindruck, den man hat, wenn man das Foto eines längst verstorbenen Vorfahren sieht, in dessen sepiabraunen Gesichtszügen man einen Hauch von Familienähnlichkeit zu entdecken meint. Fiona ...

»Als Sie sich mir vorgestellt haben«, fragte ich, »habe ich da etwas gesagt?«

»Nein, nicht viel. Ich fand Sie ziemlich unfreundlich. Aber ich gebe nicht so leicht auf – darum hab ich’s noch mal versucht.«

»Danke«, sagte ich und ließ mich in einen Sessel sinken. »Danke.«

Fiona blieb an der Tür stehen. »Ich gehe dann wohl besser.«

»Nein ... Bitte bleiben Sie noch. Vielleicht kriegen wir das noch hin. Setzen Sie sich doch.«

Fiona zögerte. Bevor sie sich mir gegenüber auf das Sofa setzte, öffnete sie die Wohnungstür und ließ sie einen Spaltbreit offen. Ich tat, als hätte ich das nicht bemerkt. Sie hockte steif auf der Sofakante und faltete gefaßt die Hände.

»Was haben Sie mir gerade erklären wollen?« fragte ich.

»Soll ich das alles noch mal erzählen?«

»Ganz kurz. Mit ein paar Worten.«

»Ich wollte Sie fragen, ob Sie mich unterstützen wollen. Für einen guten Zweck; ich mache bei einer Fahrradtour mit, um Geld für das Krankenhaus zu sammeln.« Sie reichte mir den DIN-A4-Bogen, der halb voller Unterschriften war.

Ein paar Zeilen am oberen Blattrand erklärten, worum es ging und wofür das gesammelte Geld bestimmt war. Ich las sie durch und sagte: »Vierzig Meilen klingt ziemlich weit. Sie müssen ganz schön fit sein.«

»Na ja, ich hab so was noch nie gemacht. Ich dachte, es würde mir guttun.«

Ich faltete das Blatt Papier zusammen, legte es beiseite und dachte einen Augenblick nach. Ich spürte eine ganz neue Energie in mir aufsteigen, und die Versuchung, in ein – völlig unpassendes – Lachen auszubrechen, war recht groß. »Wissen Sie, was das Komische daran ist?« fragte ich. »Soll ich es Ihnen sagen?«

»Bitte.«

»Das ist mein längstes Gespräch – mein längster Wortwechsel – seit ungefähr zwei Jahren. Seit mehr als zwei Jahren, glaube ich. Das längste.«

Fiona lachte ungläubig. »Aber wir haben doch kaum etwas gesagt.«

»Trotzdem.«

Wieder lachte sie. »Aber das ist doch absurd. Haben Sie auf einer einsamen Insel gelebt?«

»Nein. Ich hab hier gelebt.«

Verwirrtes Kopfschütteln. »Aber wie kommt das dann?«

»Ich weiß nicht. Ich wollte einfach nicht. Es war keine bewußte Entscheidung oder so – es hat sich eben nie ergeben. Sie würden staunen, wie leicht das ist. Früher mußte man mit den Leuten reden, beim Einkaufen und so. Heute kann man alle Einkäufe im Supermarkt erledigen, Geld holt man sich am Automaten, und das ist es dann auch schon.«

Mir kam ein Gedanke. Ich stand auf, ging zum Telefon und nahm den Hörer ab. Es funktionierte noch.

»Klingt meine Stimme irgendwie seltsam? Wie hört sie sich an?«

»Gut. Ganz normal.«

»Und was ist mit der Wohnung? Riecht es hier?«

»Es ist ein bißchen ... muffig, ja.«

Ich griff zur Fernbedienung und wollte den Fernseher ausschalten. Der Junge mit dem starren, ausdruckslosen Blick, der sich so stocksteif gehalten hatte wie Fiona auf ihrer Sofakante, war verschwunden, doch der onkelhafte Mann mit dem breiten Grinsen und dem dicken schwarzen Schnurrbart war immer noch zu sehen, diesmal in voller Uniform und umgeben von Männern gleichen Alters, gleicher Haltung und gleicher Nationalität. Ich sah ihm ein paar Sekunden lang zu und spürte, wie eine weitere Erinnerung Gestalt annahm.

»Ich weiß, wer das ist«, sagte ich und schnippte mit den Fingern. »Das ist ... Wie heißt er noch mal ... Der Präsident des Irak ...«

»Michael, jeder weiß, wer das ist. Das ist Saddam Hussein.«

»Richtig, Saddam.« Bevor ich den Fernseher ausschaltete, fragte ich: »Und der Junge, den er die ganze Zeit an sich gedrückt hat?«

»Sehen Sie keine Nachrichten? Das war eine der Geiseln. Er führt sie im Fernsehen vor wie Zuchtvieh.«

Darauf konnte ich mir keinen Reim machen, aber ich merkte schon, daß dies nicht der rechte Zeitpunkt für lange Erklärungen war. Ich schaltete den Apparat aus und sagte: »Entschuldigen Sie – Sie müssen mich für sehr unhöflich halten.« Ich lauschte meiner Stimme mit Interesse. »Möchten Sie etwas trinken? Ich habe Wein und Orangensaft und Bier und Limonade und vielleicht auch noch einen Schluck Whisky.«

Fiona zögerte.

»Wir können die Tür offen lassen, wenn Sie wollen. Das stört mich ganz und gar nicht.«

Sie lächelte, lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Hm, na gut. Also etwas zu trinken.«

»Wein?«

»Lieber einen Orangensaft. Ich werde diese Halsschmerzen einfach nicht los.«

Meine kleine Küche war schon immer der sauberste Raum in meiner Wohnung. Ich unternahm nichts gegen Staub, weil er bei oberflächlicher Betrachtung nicht weiter auffällt und man leicht darüber hinwegsehen kann, doch den Anblick von Schmierflecken und getrockneten Essensresten auf den strahlendweißen Oberflächen konnte ich nicht ertragen. Als ich in die Küche ging und die beiden 100-Watt-Strahler einschaltete, die mit ihrem reinweißen Licht auch den letzten blitzenden Winkel erkundeten, fand ich daher mein Selbstvertrauen wieder. Draußen wurde es langsam dunkel, und als ich vor der Spüle stand, sah ich die Reflexion meines Gesichtes, die wie ein Geist vor dem Fenster im vierten Stock hing. Das war also der Mensch, mit dem Fiona in den vergangenen Minuten gesprochen hatte. Ich betrachtete ihn eingehend und versuche mir vorzustellen, welchen Eindruck er wohl auf sie gemacht hatte. Die Augen waren blutunterlaufen und verquollen von zu viel Fernsehen und zu wenig Schlaf; an den Mundwinkeln begannen sich tiefe Falten einzugraben, die allerdings zum Teil von den Stoppeln eines Zweitagebartes verdeckt wurden; die Kinnpartie wirkte zwar noch einigermaßen fest, doch schon in drei oder vier Jahren würde sich dort wahrscheinlich der Ansatz eines Doppelkinns zeigen; das blonde Haar hatte graue Strähnen und mußte dringend geschnitten werden; die Reste eines zaghaft angedeuteten Scheitels waren so kläglich, daß es verzeihlich gewesen wäre, wenn der Betrachter sie gar nicht erst bemerkt hätte. Es war kein freundliches Gesicht. Die dunklen, samtig blauen Augen mochten einst optimistisch in die Welt geblickt haben, doch jetzt wirkten sie wachsam und auf der Hut. Trotzdem war es ein ehrliches Gesicht. Es war ein Gesicht, dem man trauen konnte.

Und dahinter? Ich spähte ins Zwielicht. Es war nicht viel zu sehen. Auf der anderen Seite des Innenhofs waren hier und da Lichter angegangen, und aus offenen Fenstern drangen leise Klänge von Fernsehern und Stereoanlagen. Es war ein schwüler Augustabend, typisch für einen Sommer, der sich einen bösartigen Spaß daraus zu machen schien, die Londoner bis an die Grenze der Belastbarkeit zu treiben und Tag und Nacht mit drückender Hitze zu quälen. Auf der Grünfläche im Hof bemerkte ich einen Schatten. Zwei Schatten, von denen der eine sehr klein war: Eine alte Frau, die ihren Hund ausführte und wahrscheinlich ihre Mühe hatte, Schritt zu halten, während er sie, angespannt und erregt über all die geheimen nächtlichen Freuden, im Zickzack von Busch zu Busch zerrte. Ich lauschte auf sein Scharren und Rascheln. Abgesehen vom gelegentlichen Heulen der Sirenen waren das die einzigen Geräusche, die sich aus dem dumpfen, monotonen Summen der Großstadt heraushoben.

Ich trat vom Fenster zurück, nahm eine Packung Orangensaft aus dem Kühlschrank und drückte drei oder vier Eiswürfel in ein Glas. Ich goß den Orangensaft darüber und hörte mit Vergnügen, wie das Eis knisternd und klingelnd zum Rand des Glases stieg. Dann schenkte ich mir ein Glas Bier ein und trug die Drinks ins Wohnzimmer.

Auf der Schwelle blieb ich kurz stehen und versuchte, den Raum mit derselben Objektivität zu mustern wie zuvor mein Spiegelbild und mir vorzustellen, welchen Eindruck er auf Fiona gemacht haben mochte. Sie sah mich an, so daß ich nicht viel Zeit hatte, doch auch bei oberflächlicher Betrachtung stachen einige Einzelheiten ins Auge: Die Vorhänge, die ich schon bei meinem Einzug vorgefunden hatte, und die Bilder, die ich vor vielen Jahren gekauft hatte, entsprachen überhaupt nicht meinem gegenwärtigen Geschmack; auf dem Tisch, dem Fernseher, dem Kaminsims und den Fensterbrettern waren Zeitungen, Zeitschriften und Videokassetten gestapelt, so daß kein Platz war für einige ausgesuchte Objekte, die dem Zimmer Persönlichkeit und Stil gegeben hätten; meine ebenfalls vor vielen Jahren selbst zusammengezimmerten Bücherregale enthielten kaum noch Bücher (die waren in Kisten verpackt, die ich in einem zweiten, unbenutzten Zimmer aufgetürmt hatte), sondern waren kreuz und quer mit weiteren, teils gekauften, teils selbst aufgenommenen Videokassetten vollgestopft. Ich fand, daß der Raum dem Gesicht, das sich im Küchenfenster gespiegelt hatte, nicht unähnlich war: Er hätte freundlich sein können, schien sich jedoch zumindest vorerst durch eine Mischung aus Nachlässigkeit und Verwahrlosung in etwas Unansehnliches und fast unheimlich Neutrales verwandelt zu haben.

Das erste, was Fiona, nachdem wir uns ein bißchen unterhalten hatten, über meine Wohnung sagte, war, daß sie das Gefühl habe, hier fehlten ein paar Pflanzen. Sie sang ein Loblied auf Alpenveilchen und Hibiskus. Sie wurde lyrisch, als sie die Vorzüge von Zinerarien und Tüpfelfarnen pries. In letzter Zeit, sagte sie, sei sie ganz verrückt nach Zinerarien. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, mir eine Topfpflanze zu kaufen, und versuchte mir vorzustellen, wie es wohl wäre, dieses Zimmer nicht nur mit verstaubten Zeitschriften und Videokassetten, sondern auch mit einem lebendigen, sich entfaltenden Organismus zu teilen. Ich schenkte mir noch ein Bier ein und ihr noch einen Orangensaft, und diesmal bat sie mich, einen Schuß Wodka hineinzugeben. Ich merkte, daß sie eine freundliche, warmherzige Frau war, denn als ich mich neben sie auf das Sofa setzte, um das Sponsorenformular auszufüllen, hatte sie anscheinend nichts dagegen, daß unsere Beine sich gelegentlich berührten. Sie zuckte nicht zurück, und als ich den Betrag eintrug und unterschrieb, spürte ich, daß ihr Oberschenkel an meinem lag, und fragte mich, wie es dazu gekommen war und ob Fiona vielleicht näher an mich herangerückt war. Bald wurde deutlich, daß sie es nicht sehr eilig hatte und sich aus irgendeinem Grund ganz gern mit mir unterhielt – mit mir, der ich so wenig zu geben hatte –, und daraus konnte ich nur schließen, daß sie selbst sich auf eine stille, tapfere, verwegene Art nach Gesellschaft gesehnt haben mußte, denn obwohl ich an jenem Abend ein schlechter Gastgeber war und mein Benehmen sie zunächst verängstigt haben mußte, machte sie keine Anstalten zu gehen und wurde immer entspannter und gesprächiger. Ich weiß nicht mehr, wie lange sie blieb und worüber wir sprachen, aber ich weiß noch, daß ich sie anfangs genoß, diese ungewohnte Tätigkeit des Zuhörens und Sprechens, und erst eine ganze Weile und einige Drinks später begann ich mich wieder müde und unbehaglich zu fühlen. Ich weiß nicht einmal, warum das so war, denn eigentlich machte es mir immer noch Spaß, mich mit ihr zu unterhalten. Trotzdem verspürte ich einen plötzlichen starken Drang, allein zu sein. Fiona sprach weiter, und vielleicht antwortete ich sogar, aber meine Aufmerksamkeit war abgeschweift, und ich erlangte sie erst wieder, als sie etwas sagte, das mich sehr erstaunte.

»Sie können mich nicht abschalten«, sagte sie.

»Wie bitte?«

»Sie können mich nicht abschalten.«

Sie nickte in Richtung meiner Hände. Ich hatte mich wieder ihr gegenüber in den Sessel gesetzt und, ohne mir dessen bewußt zu sein, die Fernbedienung des Videorecorders in die Hand genommen. Sie war auf Fiona gerichtet, und mein Zeigefinger lag auf der Pausetaste.

»Ich glaube, ich sollte jetzt lieber gehen«, sagte sie und stand auf.

Als sie, ihr Formular in der Hand, zur Tür ging, machte ich einen Versuch, die Situation zu retten, indem ich hervorstieß: »Ich glaube, ich werde mir so eine Pflanze besorgen. Da sieht das Zimmer bestimmt gleich ganz anders aus.«

Sie drehte sich um. »Auf meinem Weg zur Arbeit ist eine kleine Gärtnerei«, sagte sie leise. »Wenn Sie wollen, bringe ich Ihnen morgen eine mit.«

»Danke. Das wäre sehr nett.«

Und dann war sie weg. Sie schloß die Tür hinter sich, und einige Sekunden lang hatte ich ein eigenartiges Gefühl: Ich fühlte mich einsam. Diese Einsamkeit war jedoch mit Erleichterung vermischt, und die hatte binnen kurzem die Oberhand gewonnen und füllte mich aus, beruhigte mich und führte mich sanft zu meinem Sessel und meinen beiden Freunden, meinen vertrauten Gefährten: den Fernbedienungen für den Fernseher und den Videorecorder, die auf den Armlehnen lagen. Ich schaltete die Apparate ein und drückte die Starttaste. Kenneth sagte: »Na ja, ein ... ein schönes Gesicht ist nicht alles.«

Am nächsten Morgen erwachte ich mit dem Gefühl, daß etwas Kleines, aber Bedeutsames geschehen war. Für eine Analyse war es noch zu früh – im Augenblick brannte ich nur darauf, aus dem deutlichsten Symptom Nutzen zu ziehen: einer gewaltigen geistigen und körperlichen Energie, wie ich sie in letzter Zeit nicht erlebt hatte. Ein paar unangenehme Aufgaben waren vor einigen Monaten dräuend und drückend an meinem geistigen Horizont aufgezogen und harrten ihrer Erledigung, doch heute hatte ich den Eindruck, daß sie keine Bürde mehr waren, sondern harmlos, ja einladend vor mir lagen – Trittsteine auf dem Weg in eine bessere Zukunft. Ich verschwendete keine Zeit damit, im Bett liegen zu bleiben, sondern stand auf und duschte, frühstückte, wusch ab und saugte die ganze Wohnung. Anschließend machte ich mich mit einem Staubtuch an die Arbeit. Die Staubschichten waren so dick, daß ich das Tuch alle paar Sekunden vor dem Fenster ausschütteln mußte. Danach ließ mein Eifer nach, und ich begann etwas planlos, Verschiedenes aufzuräumen und zu ordnen. Ich wollte mich unter anderem davon überzeugen, daß bestimmte Unterlagen dort waren, wo ich sie vor Monaten abgelegt hatte, denn ich hatte vor, mich am Nachmittag mit ihnen zu beschäftigen. Nach etwa einer halben Stunde tauchten sie auf, und ich legte sie in einem Stapel auf meinen frisch aufgeräumten Schreibtisch.

Es war zweifellos ein außergewöhnlicher Tag, und um das zu unterstreichen, schritt ich zu einer weiteren außergewöhnlichen Tat: Ich machte einen Spaziergang.

Meine Wohnung lag auf der Rückseite eines großen Blocks am Battersea Park. Obwohl dies einer der Gründe gewesen war, warum ich sie vor sieben oder acht Jahren gekauft hatte, war ich nur selten auf den Gedanken gekommen, einen Spaziergang zu machen. Zwar war ich hin und wieder genötigt gewesen, den Park zu durchqueren, aber das hatte ich nicht zum Vergnügen und zur Entspannung getan, und auf meine Umgebung hatte ich bei diesen Gelegenheiten überhaupt nicht geachtet. Eigentlich hatte ich das auch an diesem Tag nicht vor. Hauptsächlich unternahm ich diesen Spaziergang in der Hoffnung, daß ich dabei zu einer bestimmten Entscheidung kommen würde, die ich, wie so vieles andere in meinem Leben, schon viel zu lange aufgeschoben hatte. Es schien jedoch, als wäre ich in diesem neuen, wacheren Zustand weniger als sonst in der Lage, meine Umwelt zu ignorieren, und ich stellte fest, daß dieser Park, den ich nie für einen der schönsten in London gehalten hatte, mir zu gefallen begann. Die Rasenflächen waren verdorrt, die Blumenbeete grau und ausgetrocknet, und dennoch erstaunte mich ihre Farbe. Es war, als sähe ich das alles zum erstenmal. Unter einem unglaublich hellblauen Himmel nutzten Horden von Menschen ihre Mittagspause, um sich in die pralle Sonne zu legen; hier und da schützten Kleidungsstücke in schreienden Primärfarben ihre sich rötenden Körper, während sengende Sonnenstrahlen und das dumpfe Wummern der Ghetto-Blaster ihre Hirne betäubte. Die Abfallkörbe quollen über von Flaschen, Dosen und durchsichtigen Plastikbehältern, die Sandwiches enthalten hatten. Es schien eine fröhliche, ausgelassene Stimmung zu herrschen, in die sich nur ganz leise so etwas wie Spannung und Unmut mischte – vielleicht weil die Hitze wieder einmal fast unerträglich war, vielleicht aber auch, weil alle im Grunde wußten, daß dies nicht der glücklichste Ort für ein Sonnenbad war. Ich fragte mich, wie viele sich wie ich wünschten, sie könnten auf dem Land sein, in der freien Natur, von der dieser Park nicht viel mehr war als ein blasser Abklatsch. In der Nordwestecke, nicht weit vom Fluß, hatte man versucht, einen mit einer Steinmauer eingefaßten Ziergarten anzulegen, und als ich mich für einige Minuten dort niederließ, fühlte ich mich an den Garten hinter Mr. Nuttalls Farm erinnert, in dem ich immer mit Joan gespielt hatte. Doch anstatt der magischen Stille, die für uns damals so selbstverständlich gewesen war, hörte ich hier das Rumpeln von Lastwagen und das Donnern von Flugzeugen, und es gab keine Spatzen oder Stare, die in den Bäumen saßen und uns zusahen, sondern nur balzende Stadttauben und fette schwarze Krähen, so groß wie junge Hühner.

Was die Entscheidung betraf, so hatte ich sie sehr bald getroffen. Anfang der Woche hatte ich einen Kontoauszug bekommen, und heute morgen hatte ich den Umschlag geöffnet und festgestellt, daß mein Konto, wie nicht anders zu erwarten, weit überzogen war. Es mußte etwas mit dem Manuskript geschehen, das jetzt auf meinem Schreibtisch lag. Mit etwas Glück – und vielleicht mit Hilfe eines kleinen Wunders – ließ es sich zu Geld machen, doch zuvor mußte ich es so schnell wie möglich noch einmal durchlesen und mich entscheiden, wie ich an die in Frage kommenden Verlage herantreten sollte.

Sobald ich wieder zu Hause war, machte ich mich an die Arbeit. Ich hatte etwa siebzig Seiten gelesen, als Fiona am frühen Abend mit zwei großen Papiertüten vor meiner Tür stand. Aus einer der Tüten ragten grüne Blätter.

»Donnerlittchen«, sagte sie, »Sie sehen ja ganz verändert aus.«

(Ich erinnere mich, daß sie oft veraltete Ausdrücke gebrauchte. »Donnerlittchen« war einer davon, »Herrdumeinegüte« ein anderer.)

»Tatsächlich?« sagte ich.

»Ich hab Sie in einem schlechten Moment erwischt, stimmt’s? Gestern abend, meine ich.«

»Kann sein. Heute abend fühle ich mich mehr ... auf der Höhe.«

Sie stellte die Tüten ab und sagte: »Ich hab Ihnen die hier gleich mitgebracht. Sie müssen noch umgetopft werden. Ich laß das mal eben hier und mache mich ein bißchen frisch, und dann komme ich und helfe Ihnen.«

Als sie weg war, sah ich nach, was in den Tüten war. Die eine enthielt Pflanzen, die andere ein paar mittelgroße Blumentöpfe und Untersetzer, außerdem einige Lebensmittel und eine Zeitung. Ich hatte dieses Revolverblatt lange nicht mehr gelesen, aber mir fiel ein, daß Freitag war, und ich zog die Zeitung aus der Tüte und blätterte bis zu einer bestimmten Seite in der Mitte. Als ich den gesuchten Beitrag gefunden hatte, lächelte ich in mich hinein und begann – anfangs noch ohne großes Interesse – zu lesen. Nach einigen Zeilen runzelte ich die Stirn. In meinem Gedächtnis regte sich etwas. Ich ging in das als Arbeitszimmer (also gar nicht) genutzte Zimmer und holte einen Karton mit Zeitungsausschnitten. Diese sah ich gerade durch, als Fiona zurückkehrte.

Sie trug die Tüten in die Küche und machte sich daran, die Pflanzen umzutopfen. Ich hörte sie Gegenstände hin und her schieben, und daß das Wasser lief. Irgendwann sagte sie: »Ich muß schon sagen – Ihre Küche ist wirklich sehr sauber.«

»Ich komme gleich und helfe Ihnen«, sagte ich. »Ich weiß das zu schätzen. Das Geld kriegen Sie natürlich zurück.«

»Seien Sie nicht albern.«

»Ha!« Mit diesem Triumphschrei zog ich einen Ausschnitt aus dem Karton. Damit waren wenigstens etwaige Zweifel an meinem Erinnerungsvermögen ausgeräumt. Ich legte die aktuelle Zeitung und den Ausschnitt auf den Eßtisch und las beide Artikel sorgfältig durch. Die Falten auf meiner Stirn wurden tiefer. Fiona trat mit einer der umgetopften Pflanzen ein und sagte: »Ich könnte einen Drink vertragen.«

»Entschuldigung. Natürlich. Ich hab nur gerade diese Kolumne gelesen. Was halten Sie davon?«

Als Fiona sah, daß ihre Zeitung aufgeschlagen auf dem Tisch lag, begann sie sich zu entschuldigen. »Die hab ich nicht gekauft. Jemand hat sie in der U-Bahn liegengelassen.« Sie warf einen Blick auf die Fotos von Hilary Winshaw über den Kolumnen und verzog das Gesicht. »Diese schreckliche Frau. Ich hoffe, Sie sagen jetzt nicht, daß Sie ein Fan von ihr sind.«

»Ganz und gar nicht. Aber ich habe ein professionelles Interesse an ihr. Lesen Sie. Ich hole uns was zu trinken, und dann sagen Sie mir, was Sie davon halten.«

Die Kolumne gab es jetzt seit sechs Jahren, und sie hatte noch immer den Titel IM KLARTEXT. Auch das Foto darüber war noch dasselbe. Jeden Freitag hatte die bedeutende Fernsehmacherin und Medienpersönlichkeit Hilary Winshaw Gelegenheit, sich über alles zu verbreiten, was ihr gerade in den unermüdlichen Sinn kam, und voller Überzeugung kommentierte sie den Wohlfahrtsstaat ebenso wie die internationale Politik oder die Saumlänge der Röcke, die Mitglieder der königlichen Familie bei gesellschaftlichen Ereignissen getragen hatten. Im Lauf der Jahre schien sie sich mit der liebenswerten Angewohnheit, ihre fast vollständige Unwissenheit auf allen Gebieten zu bekennen, einen Platz in den Herzen von Tausenden von Lesern erobert zu haben – ihre Spezialität waren äußerst dezidierte Ansichten über umstrittene Bücher oder Filme, die sie, wie sie unbekümmert gestand, aus Zeitmangel nicht gelesen oder gesehen hatte. Was die Leser sicher ebenfalls sehr für sie einnahm, war die Tatsache, daß Hilary sie großzügig in den Kreis ihrer vertrauten Freunde aufnahm, indem sie ausführlich die Einzelheiten ihres häuslichen Lebens schilderte, und zwar in einem lockeren Plauderton, der jedoch in rechtschaffene Empörung umschlug, wenn sie die Unfähigkeit der diversen Maurer, Installateure und Innenausstatter beschrieb, für die es in ihrem riesigen Haus in Chelsea immer Arbeit zu geben schien. Es ist eine interessante, aber wenig bekannte Tatsache, daß Miss Winshaw für diesen Unsinn ein Jahresgehalt bezog, das dreimal so hoch wie das eines Lehrers und viermal so hoch wie das einer Krankenschwester im staatlichen Gesundheitsdienst war. Ich kann das beweisen.

Bei den beiden Kolumnen, die ich miteinander verglich, hatte Hilary sich ein politisches Thema gewählt. Obwohl zwischen ihnen etwa vier Jahre liegen, zeige ich sie Ihnen so, wie Fiona und ich sie an jenem Tag lasen: nebeneinander.

Heute ist auf meinem Schreibtisch ein Rundschreiben von einer Gruppe gelandet, die sich KDI – Komitee für Demokratie im Irak – nennt.Das KDI behauptet, daß Saddam Hussein ein brutaler Diktator ist, der sich mit Hilfe von Einschüchterung und Folter an der Macht hält.Mein Rat an diesen Haufen von Dummköpfen lautet: Macht euch doch erst mal mit den Tatsachen vertraut!Wer hat das Wohlfahrtsprogramm ins Leben gerufen, das so entscheidende Verbesserungen im Wohnungsbau, im Erziehungswesen und in der Gesundheitsfürsorge gebracht hat?Wer hat den Irakern vor kurzem Mindestlöhne und eine staatliche Rente garantiert?Wer hat neue, bessere Bewässerungsanlagen und Kanalisationen bauen lassen, den Bauern zinsgünstige Kredite gegeben und bis zum Jahr 2000 »Gesundheit für alle« versprochen?Wer ist von keinem geringeren als Präsident Reagan von der Liste der Politiker gestrichen worden, die beschuldigt werden, den internationalen Terrorismus zu unterstützen?Und wer ist von allen politischen Führern im Nahen Osten der einzige, der nicht nur redet, sondern auch handelt, indem er britische Bauunternehmer und Industrielle ins Land holt, damit sie beim Aufbau des Irak helfen?Richtig: Es ist der »brutale Folterknecht« Saddam Hussein.Die Hysteriker vom KDI sollten sich lieber über die großmäuligen Ayatollas beklagen. Der Irak ist vielleicht kein Paradies auf Erden, aber das Leben dort ist mit Sicherheit angenehmer als es lange, lange war.Also laßt Saddam in Ruhe! Er ist ein Mann, mit dem wir gute Geschäfte machen können.Es geschieht nicht alle Tage, daß einem beim Fernsehen übel wird, aber gestern abend war es mal wieder soweit.Gibt es jemanden in diesem Land, dem es nicht den Magen umgedreht hat, als Saddam Hussein in den 9-Uhr-Nachrichten die Geiseln, die er als menschliche Schutzschilde mißbrauchen will, aufmarschieren ließ?Es war ein Bild, das ich bis an mein Lebensende nicht vergessen werde: Ein wehrloses und offensichtlich verängstigtes Kind wird von einem der tückischsten und gemeinsten Diktatoren der Welt befingert und mißhandelt.Wenn ein derartig widerwärtiger Anblick überhaupt eine positive Auswirkung haben kann, dann hoffentlich die, daß unsere Friedensapostel zur Besinnung kommen und sich eines vor Augen halten: Wir können uns nicht zurücklehnen und diesen tollwütigen Verbrecher einfach davonkommen lassen.Ich meine damit nicht nur seinen Überfall auf Kuwait. Saddam Hussein ist seit elf Jahren Präsident des Irak, und in diesen elf Jahren gab es dort nichts als Folter, Mißhandlung, Einschüchterung und Mord. Und wer das nicht glaubt, sollte sich mal die Rundschreiben des KDI (Komitee für Demokratie im Irak) ansehen.Nein, es kann keinen Zweifel geben: Die Zeit für kleinmütige Bedenken ist vorbei – jetzt muß gehandelt werden.Wir wollen beten, daß Präsident Bush und Mrs. Thatcher das begreifen. Und wir wollen beten, daß der tapfere kleine Junge, den wir gestern abend in den Nachrichten gesehen haben, seine Begegnung mit dem Schlächter von Bagdad eines Tages wird vergessen können.

Fiona sah mich an. »Ich glaube, das verstehe ich nicht«, sagte sie.

Allein mit Shirley

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