Читать книгу Allein mit Shirley - Jonathan Coe - Страница 12

September 1990 1

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Ich war rein zufällig dazu gekommen, ein Buch über die Winshaws zu schreiben. Die ganze Geschichte ist ziemlich kompliziert und kann wahrscheinlich noch warten. Für den Augenblick nur soviel: Wäre es im Juni 1982 während einer Bahnfahrt von London nach Sheffield nicht zu einer rein zufälligen Begegnung gekommen, dann wäre ich nie der offizielle Biograph dieser Familie geworden, und mein Leben hätte einen völlig anderen Verlauf genommen. Wenn man es recht betrachtet, ist das eine amüsante Rechtfertigung der Theorien, die ich in meinem ersten Roman Unfälle sind keine Zufälle verarbeitet habe. Allerdings bezweifle ich, daß sich viele an dieses Buch erinnern.

Alles in allem waren die achtziger Jahre keine gute Zeit für mich. Vielleicht war es ein Fehler, den Winshaw-Auftrag anzunehmen, vielleicht hätte ich weiterhin Romane schreiben sollen, in der Hoffnung, eines Tages davon leben zu können. Immerhin hatte mein zweites Buch eine gewisse Aufmerksamkeit erregt, und ich hatte mich wenigstens für einige wenige Augenblicke in Ruhm und Ehre sonnen können – zum Beispiel in der Woche, in der eine Sonntagszeitung einen Beitrag von mir gebracht hatte, und zwar unter der gewöhnlich weitaus berühmteren Autoren vorbehaltenen Rubrik: »MEINE ALLERERSTE GESCHICHTE«. (Man mußte, zusammen mit einem Kinderfoto, eine Geschichte einreichen, die man als Kind geschrieben hatte. Das wirkte ziemlich herzig. Irgendwo habe ich noch den Ausschnitt.) Meine finanzielle Situation war und blieb jedoch prekär – die Öffentlichkeit brachte den Produkten meiner Phantasie hartnäckige Gleichgültigkeit entgegen –, und so hatte ich triftige Gründe, Tabitha Winshaws eigenartig großzügiges Angebot anzunehmen.

Es ging dabei um folgendes: In der Abgeschlossenheit der Abteilung für chronisch Geistesgestörte des Hatchjaw-Bassett Institute for the Actively Insane hatte sich Tabitha Winshaw, zu jener Zeit sechsundsiebzig und dem Vernehmen nach verrückter denn je, in ihren armen und verwirrten Kopf gesetzt, es sei an der Zeit, der Welt eine Biographie ihrer illustren Familie zu präsentieren. Angesichts des erbitterten Widerstands ihrer Familie griff sie auf ihr eigenes, keineswegs unbedeutendes Vermögen zurück, legte ein Treuhandkonto an und wandte sich an Peacock Press, ein diskret operierendes privates Unternehmen, das (gegen ein geringes Entgelt) Kriegserinnerungen, Familienchroniken und Memoiren von weniger bekannten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens publizierte. Der Verlag wurde beauftragt, einen geeigneten Autor zu finden, der seine schriftstellerische Fähigkeit und Erfahrung hinlänglich unter Beweis gestellt hatte. Dieser sollte für die gesamte Dauer der Recherchen und der Abfassung des Werkes ein fünfstelliges Jahresgehalt beziehen, unter der Bedingung, daß er einen jährlichen Arbeitsbericht – oder »einen nicht unerheblichen Teil des Manuskripts« – vorlegte, den der Verlag sodann an Tabitha weiterleiten würde. Davon abgesehen, schienen Zeit und Geld keine Rolle zu spielen. Tabitha erwartete eine möglichst gute, gründlich recherchierte, unbeschönigte und aktuelle Familienchronik. Ein Abgabetermin für die Endfassung wurde nicht vereinbart.

Die Geschichte, wie es dazu kam, daß mir dieser Job angeboten wurde, ist, wie gesagt, lang und verwickelt und muß noch warten; doch sobald das Angebot gemacht war, zögerte ich nicht lange, es anzunehmen. Die Aussicht auf ein regelmäßiges Einkommen war an sich schon unwiderstehlich, und hinzu kam, daß ich es, um die Wahrheit zu sagen, nicht sehr eilig hatte, einen neuen Roman zu beginnen. Das Arrangement erschien mir geradezu perfekt. Ich kaufte mir eine Wohnung in Battersea (damals waren Eigentumswohnungen noch erschwinglich) und machte mich mit einigem Eifer an die Arbeit. Beflügelt von der Neuheit dieses Projektes, schrieb ich innerhalb weniger Jahre zwei Drittel des Buches. Ich tauchte tief in die Geschichte der Winshaws ein und zeichnete alle Fakten, auf die ich stieß, mit absoluter Freimütigkeit auf. Von Anfang an war mir klar, daß die Familie, mit der ich es zu tun hatte, im Grunde aus Kriminellen bestand, deren Reichtum und Ansehen sich auf alle Arten von Betrug, Urkundenfälschung, Raub, Diebstahl, Gaunerei, Falschspielerei, Plünderung, Brandschatzung, widerrechtliche Aneignung, Unterschlagung, Schwindel und Kaperei gründete. Dabei waren die Machenschaften der Winshaws nie offen kriminell gewesen oder von der besseren Gesellschaft so bezeichnet worden. Soweit ich feststellen konnte, war nur ein einziges Mitglied der Familie je von einem Gericht verurteilt worden. (Damit meine ich natürlich Matthews Großonkel Joshua Winshaw, den unbestritten fähigsten Taschendieb und Einbrecher seiner Zeit. Ich brauche hier wohl kaum an seine spektakulärste Tat zu erinnern: seinen Besuch des Sitzes einer rivalisierenden Familie, der Kenways of Britteridge, bei dem es Joshua im Verlauf einer Führung und in Gesellschaft von siebzehn Touristen gelang, völlig unbemerkt eine Standuhr aus der Zeit Louis’ XV. im Wert von mehreren zehntausend Pfund zu entwenden.) Doch da die Winshaws seit dem 17. Jahrhundert, als Alexander Winshaw beschloß, sich einen ansehnlichen Anteil am lukrativen Sklavenhandel zu sichern, jeden Penny ihres Vermögens auf die eine oder andere Weise der schamlosen Ausbeutung von Menschen verdankten, die schwächer waren als sie, fand ich die Bezeichnung »kriminell« recht treffend und hatte das Gefühl, daß ich, ohne dabei meinen Auftrag zu verletzen, der Öffentlichkeit einen Gefallen tat, wenn ich sie auf diesen Umstand hinwies.

Irgendwann Mitte der achtziger Jahre merkte ich jedoch, daß ich fast alle Begeisterung für dieses Projekt verloren hatte. Schuld daran war zum Teil der Tod meines Vaters. Ich hatte meine Eltern in den vergangenen Jahren selten gesehen, doch seit meiner Kindheit – einer ruhigen, glücklichen, sorglosen Kindheit – war zwischen uns eine innige Zuneigung entstanden, die unsere räumliche Trennung unerheblich erscheinen ließ. Mein Vater war erst einundsechzig, als er starb, und sein Tod traf mich sehr. Ich blieb mehrere Monate in den Midlands und tat mein möglichstes, um meine Mutter zu trösten, und als ich schließlich nach London zurückkehrte und mich wieder den Winshaws zuwandte, geschah dies mit einem deutlichen Gefühl der Unlust.

Zwei oder drei Jahre später sollte ich die Arbeit an diesem Buch ganz einstellen, doch bevor das geschah, nahmen meine Nachforschungen eine vollkommen neue Wendung. Ich war nun bei den letzten Kapiteln angelangt und hatte die Ehre und die Pflicht, die Leistungen jener Familienmitglieder zu würdigen, die das Glück hatten, noch unter uns zu weilen, und hier stieß ich dann auf ernsthaften Widerstand – nicht nur auf den meines Gewissens, sondern auch auf den der Winshaws. Zu meinem Bedauern muß ich sagen, daß einige von ihnen auf meine Fragen mit unerklärlicher Zurückhaltung reagierten und sogar eine ganz untypische Bescheidenheit an den Tag legten, wenn ich sie bat, über Einzelheiten ihrer außergewöhnlichen Karrieren zu sprechen. Es entwickelte sich eine Art Muster, nach dem meine Gespräche mit Szenen endeten, die ich nur als unerfreulich bezeichnen kann. Thomas Winshaw warf mich hinaus, als ich ihn nach seiner Rolle in der Westland-Helicopter-Affäre fragte, die 1986 zum Rücktritt von zwei Mitgliedern des Kabinetts geführt hatte. Henry Winshaw versuchte, mein Manuskript im Kamin des Heartland Club zu verbrennen, als er entdeckte, daß ich mich darin mit kleineren Diskrepanzen zwischen seinem Bekenntnis zu einer sozialistischen Politik (auf Grund dessen er gewählt worden war) und seiner späteren Rolle als prominenter Wortführer der extremen Rechten (als der er vermutlich zu weit größerer Bekanntheit gelangte) befaßte und ihn als eine der Schlüsselfiguren hinter der heimlichen Demontage des National Health Service bezeichnete. Und noch heute frage ich mich manchmal, ob es reiner Zufall war, daß ich spätnachts auf dem Weg zu meiner Wohnung überfallen wurde, nachdem ich zwei Tage zuvor eine Unterredung mit Mark Winshaw gehabt hatte, in deren Verlauf ich ihn – vielleicht ein wenig zu intensiv – über seine Funktion als »Koordinator« bei der Vanguard Import and Export Company und die wahren Hintergründe seiner häufigen Nahostreisen in jenen blutigsten Jahren des Iran-Irak-Kriegs befragt hatte.

Je mehr ich über diese niederträchtigen, lügenhaften, räuberischen, selbstsüchtigen Winshaws erfuhr, desto weniger gefielen sie mir und desto schwerer wurde es, den neutralen Ton des offiziellen Biographen zu wahren. Und je weniger zuverlässige, überprüfbare Informationen ich bekam, desto mehr mußte ich auf meine Phantasie zurückgreifen: Ich schmückte Ereignisse aus, von denen ich nur eine vage Kenntnis hatte, spekulierte über psychologische Motive und erfand sogar ganze Gespräche. (Ja, ich erfand; ich habe keine Skrupel, dieses Wort zu gebrauchen, auch wenn ich damals fast fünf Jahre lang Skrupel hatte, auf diesen Trick zurückzugreifen.) Und so führte meine Verachtung für diese Leute zu einer Wiedergeburt des Schriftstellers in mir, und diese Wiedergeburt führte zu einer Verschiebung der Gewichte und der Perspektive, zu einer unumkehrbaren Veränderung der Zielsetzung meiner Arbeit. Sie bekam etwas von einer Entdeckungsfahrt, einer mit Entschlossenheit und ohne Furcht unternommenen Expedition in die dunkelsten und geheimsten Winkel der Geschichte dieser Familie. Bald war mir nur zu deutlich bewußt, daß ich nicht ruhen und meine Reise als beendet würde betrachten können, solange ich die Antwort auf eine entscheidende Frage nicht gefunden hatte: War Tabitha Winshaw wirklich verrückt oder enthielt ihre Behauptung, Lawrence sei auf eine geheimnisvolle, hinterhältige Weise für den Tod seines Bruders verantwortlich, ein Körnchen Wahrheit?

Es kann kaum überraschen, daß auch dies ein Thema war, bei dem die Familie größtmögliche Zurückhaltung an den Tag legte. Anfang 1987 hatte ich das Glück, in einem Hotel in Belgravia mit Mortimer und Rebecca Winshaw sprechen zu dürfen. Ich stellte fest, daß sie, trotz Rebeccas angegriffener Gesundheit, die bei weitem zugänglichsten und hilfreichsten Mitglieder der Familie waren; das wenige, was ich über die Ereignisse im Zusammenhang mit der Feier zu Mortimers fünfzigstem Geburtstag weiß, verdanke ich ihnen. Lawrence war einige Jahre zuvor gestorben, so daß sie nun, wie Rebecca einst befürchtet hatte, die Herren auf Winshaw Towers waren, auch wenn sie so wenig Zeit wie möglich dort verbrachten. Rebecca Winshaw verstarb wenige Monate nach meinem Besuch; kurz darauf zog Mortimer, ein gebrochener Mann, nach Winshaw Towers, um seine letzten Jahre auf dem Familiensitz zu verbringen, der ihm zeit seines Lebens so verhaßt gewesen war.

Ich betrieb meine Nachforschungen immer halbherziger, und eines Tages stellte ich sie ganz ein. Das genaue Datum habe ich vergessen, aber es war derselbe Tag, an dem meine Mutter mich besuchte. Sie kam abends an, und wir gingen in ein chinesisches Restaurant in Battersea. Noch in derselben Nacht fuhr sie wieder zurück. Danach ging ich zwei oder drei Jahre nicht mehr aus und sprach mit niemandem.

Am Samstag morgen machte ich mich wieder über das Manuskript her. Wie nicht anders zu erwarten, war es ein heilloses Durcheinander. Teils las es sich wie eine historische Abhandlung, teils wie ein Roman, und auf den letzten Seiten kam eine Feindseligkeit gegenüber den Winshaws durch, die ganz und gar unakzeptabel war. Schlimmer noch war, daß das Buch kein richtiges Ende hatte, sondern mit entnervender Abruptheit einfach abbrach. Als ich schließlich am späten Nachmittag dieses heißen, schwülen Sommertages von meinem Schreibtisch aufstand, waren die Hindernisse, die sich vor mir auftürmten, wenigstens klar und scharf umrissen. Ich würde mich entscheiden müssen, ob es ein Roman oder ein Sachbuch sein sollte, und ich würde mich erneut bemühen müssen, das Geheimnis um Tabithas Krankheit zu ergründen.

Am Montag morgen unternahm ich drei entscheidende Schritte:

– Ich machte zwei Kopien von dem Manuskript und schickte eine davon an den Lektor, der meine Romane betreut hatte.

– Ich schickte die andere Kopie an Peacock Press, in der Hoffnung, daß sie mir weitere Honorarzahlungen (die seit drei Jahren ausgeblieben waren) einbringen oder aber Tabitha so entsetzen würde, daß sie bereit war, unsere Abmachung zu widerrufen und mich aus dem Vertrag zu entlassen.

– Ich setzte unter »Verschiedenes« folgende Annonce in die größeren Tageszeitungen:

Informationen gesucht

Offizieller Biograph der Familie Winshaw aus Yorkshire sucht Informationen zu allen Aspekten der Familiengeschichte sowie Kontakt zu Personen (Zeugen, ehemaligen Hausangestellten, Betroffenen usw.), die Auskunft über die Vorfälle vom 16. September 1961 oder damit zusammenhängende Ereignisse geben können. Ernstgemeinte Zuschriften an: Mr. M. Owen, c/o The Peacock Press, Vanity House, 116 Providence Street, London W7

Im Augenblick gab es nicht mehr zu tun. Mein Energieschub war jedenfalls begrenzt gewesen, und die nächsten Tage verbrachte ich vor dem Fernseher und sah mir mal Kenneth Connor, der ängstlich vor der wunderschönen Shirley Eaton floh, und mal die Nachrichten an. Saddam Husseins Gesicht wurde mir vertraut, und ich begriff langsam, warum er in letzter Zeit so berühmt geworden war. Ich erfuhr, daß er seine Absicht bekanntgegeben hatte, Kuwait seinem eigenen Land einzuverleiben, und zwar mit der Begründung, es sei schon immer ein »integraler Bestandteil« des Irak gewesen, und daß Kuwait sich mit der Bitte um militärische Unterstützung an die Vereinten Nationen gewandt habe, worauf sowohl der amerikanische Präsident Bush als auch seine britische Freundin Mrs. Thatcher diese Unterstützung zugesagt hätten. Ich erfuhr von den amerikanischen und britischen Geiseln oder »Gästen«, die in Hotels im Irak und in Kuwait festgehalten wurden. Ich sah häufige Wiederholungen der Szene, in der Saddam Hussein seine Geiseln den Fernsehkameras vorführte und dem widerwilligen, zum Gehorsam gezwungenen Jungen den Arm um die Schulter legte.

Fiona schaute zwe- oder dreimal bei mir vorbei. Wir tranken etwas und unterhielten uns, aber irgend etwas an meinem Verhalten schien sie abzustoßen, denn sie brach jedesmal früh wieder auf, um zu Bett zu gehen. Sie sagte, sie habe Schwierigkeiten einzuschlafen.

Manchmal, wenn ich in diesen schwülen Nächten wach lag, konnte ich ihren trockenen Reizhusten hören. Die Wände in unserem Haus waren nicht sehr dick.

Allein mit Shirley

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