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Schon zweimal hatte das Schicksal die Winshaws heimgesucht, doch noch nie hatte es so hart zugeschlagen.

Die erste dieser Tragödien ereignete sich in der Nacht des 30. November 1942, als der damals erst zweiunddreißigjährige Godfrey Winshaw bei einem Flug in geheimer Mission über Berlin abgeschossen wurde. Die Nachricht erreichte Winshaw Towers in den frühen Morgenstunden des folgenden Tages und hatte zur Folge, daß Godfreys ältere Schwester Tabitha den Verstand verlor, den sie bis heute nicht wiedergefunden hat. So groß war ihre geistige Verwirrung, daß man sie für außerstande hielt, dem Gottesdienst für ihren Bruder beizuwohnen.

Es ist eine Ironie des Schicksals, daß ebendiese Tabitha Winshaw – eine inzwischen einundachtzigjährige Frau, die heute ebensowenig bei klarem Verstand ist wie in den vergangenen fünfundvierzig Jahren – die Mentorin und Sponsorin des Buches ist, das Sie, geneigter Leser, in Ihren Händen halten. Tabitha Winshaws Zustand einigermaßen objektiv zu beschreiben ist nicht unproblematisch. Dennoch muß man Tatsachen Rechnung tragen, und Tatsache ist: Seit der Nachricht von Godfreys tragischem Tod ist Tabitha das Opfer einer grotesken Wahnvorstellung. Sie ist, kurz gesagt, davon überzeugt (sofern das Wort »Überzeugung« in diesem Fall angemessen ist), daß Godfrey nicht etwa deutschem Flakfeuer, sondern vielmehr den Ränken seines eigenen Bruders Lawrence zum Opfer gefallen ist.

Ich will nicht unnötig bei dem schweren Schicksal verweilen, welches einer bedauernswerten und seelisch labilen Frau vom Leben zugeteilt wurde, doch erfordert diese Angelegenheit insofern eine Erläuterung, als sie einen nicht unerheblichen Einfluß auf den weiteren Verlauf der Geschichte der Winshaws hat und daher in eine Art Zusammenhang gestellt werden muß. Ich werde versuchen, mich kurz zu fassen. Der Leser sollte wissen, daß Tabitha beim Tode ihres Bruders sechsunddreißig Jahre alt und nicht nur noch immer unverheiratet war, sondern auch keinerlei Neigung zeigte, in den Stand der Ehe zu treten. Es war einigen Familienmitgliedern nicht entgangen, daß ihr Verhältnis zum anderen Geschlecht sich bestenfalls mit dem Wort »Gleichgültigkeit« und schlimmstenfalls mit dem Wort »Abscheu« umschreiben ließ. So groß das Desinteresse war, mit dem sie den Annäherungsversuchen gelegentlicher Verehrer begegnete, so leidenschaftlich war die Liebe und Hingabe, die sie Godfrey entgegenbrachte, der, wie die wenigen erhaltenen Dokumente und Fotografien belegen, der bei weitem lebenslustigste, stattlichste, dynamischste und ganz allgemein gewinnendste der fünf Geschwister war. Da man wußte, wie stark Tabithas Gefühle für ihn waren, glaubte die Familie Grund zu einer gewissen Besorgnis zu haben, als Godfrey im Sommer 1940 seine Verlobung bekanntgab, doch anstelle der von manchen befürchteten blindwütigen Eifersucht entwickelte sich zwischen ihr und ihrer zukünftigen Schwägerin eine herzliche, innige Freundschaft, und so wurde die Hochzeit mit Mildred Ashby im Dezember desselben Jahres zu einem in jeder Hinsicht geglückten Ereignis.

Für Lawrence hingegen, ihren ältesten Bruder, hegte Tabitha weiterhin entschieden feindschaftliche Gefühle. Die Ursachen für die Antipathie zwischen diesen beiden unglücklichen Geschwistern liegen im dunkeln. Höchstwahrscheinlich wurzelte sie in unterschiedlichen Temperamenten. Lawrence war, wie sein Vater Matthew, ein zurückhaltender und manchmal ungeduldiger Mann und verfolgte seine nationalen und internationalen Geschäftsinteressen mit einer zielstrebigen Entschlossenheit, die für viele an Rücksichtslosigkeit grenzte. Das Reich weiblicher Feinsinnigkeit und zarter Gefühle, das Tabitha bewohnte, war ihm vollkommen fremd; er hielt sie für flatterhaft, überspannt, neurotisch und »nicht ganz dicht« – ein Urteil, das, aus heutiger Sicht, traurig prophetisch anmutet. (Es sei jedoch gesagt, daß er damals mit seiner Meinung nicht allein stand.) Kurz gesagt: Die beiden gingen sich nach Möglichkeit aus dem Weg, und wie gut sie daran taten, läßt sich an den unglücklichen Ereignissen ablesen, die auf Godfreys Tod folgten.

Unmittelbar vor seiner tödlichen Mission hatte Godfrey Winshaw einige Tage Urlaub in der friedlichen Atmosphäre von Winshaw Towers verbracht. Mildred hielt sich natürlich ebenfalls dort auf; sie war zu diesem Zeitpunkt seit mehreren Monaten mit ihrem ersten und einzigen Kind (einem Sohn, wie sich erweisen sollte) schwanger, und vermutlich war es die Aussicht, diese beiden Verwandten zu sehen, die Tabitha bewegte, ihr eigenes stattliches Anwesen zu verlassen und den Fuß über die Schwelle ihres verhaßten Bruders zu setzen. Obgleich Matthew Winshaw und seine Gemahlin noch lebten und sich bester Gesundheit erfreuten, beschränkte sich ihr Wirkungskreis mittlerweile hauptsächlich auf eine Reihe von Zimmern in einem abgeschlossenen Flügel von Winshaw Towers, und Lawrence hatte die Stelle des Hausherren eingenommen. Es wäre jedoch irreführend zu behaupten, er und seine Frau Beatrice seien gute Gastgeber gewesen. Lawrence wurde wie üblich stark von seinen Geschäften in Anspruch genommen, was bedeutete, daß er in seinem Arbeitszimmer stundenlange Telefongespräche führen und einmal sogar über Nacht nach London fahren mußte. (Dabei ließ er seine Gäste allein, ohne seine Abwesenheit zu erklären oder sich zu entschuldigen.) Beatrice machte keine Anstalten, die Verwandten ihres Bruders willkommen zu heißen, sondern zog sich unter dem Vorwand hartnäckiger Migräneanfälle regelmäßig in ihr Schlafgemach zurück und überließ die Gäste für den größten Teil ihres Aufenthaltes sich selbst. So waren Godfrey, Mildred und Tabitha auf sich allein gestellt – was ihren Wünschen vielleicht entgegenkam – und verlebten einige schöne Tage. Sie wandelten durch den Park und verbrachten angenehme Stunden in den weitläufigen Räumlichkeiten von Winshaw Towers.

Am Nachmittag des Tages, an dem Godfrey zum Luftwaffenstützpunkt Hucknall aufbrechen mußte – die erste Station bei einem Auftrag, von dem seine Frau und seine Schwester nur eine unbestimmte Vorstellung hatten –, führte er mit Lawrence im braunen Studierzimmer ein langes Gespräch. Worüber sie sprachen, wird für immer ein Geheimnis bleiben. Nach seiner Abreise beschlich beide Frauen ein Gefühl der Unruhe. Bei Mildred äußerte sich die natürliche Sorge einer Ehefrau und zukünftigen Mutter, deren Mann sich auf eine wichtige Mission mit ungewissem Ausgang begibt, bei Tabitha dagegen eine heftige, zügellose Erregung, die sich in einer gesteigerten Feindseligkeit gegenüber Lawrence manifestierte.

Wie irrational sie in dieser Hinsicht war, wird bereits an einem dummen Mißverständnis deutlich, zu dem es nur einige Tage zuvor gekommen war. Eines Abends zu später Stunde war sie, ohne anzuklopfen, in das Arbeitszimmer ihres Bruders getreten, wo er eines seiner geschäftlichen Telefonate führte, und hatte ihm einen Zettel entrissen, auf dem er – in ihrer Version dieses Zwischenfalls – geheime Anweisungen seines Gesprächspartners notiert hatte. Sie ging so weit zu behaupten, Lawrence habe, als sie ihn unterbrochen habe, »ein schuldbewußtes Gesicht« gemacht und versucht, den Zettel mit Gewalt wieder an sich zu bringen. Sie hatte das Stück Papier jedoch mit kindischem Trotz an sich gepreßt und es bei ihren persönlichen Papieren verwahrt. Später, als sie ihre wahnhafte Anschuldigung gegen Lawrence vorbrachte, drohte sie, das Schriftstück »als Beweis« vorzulegen. Glücklicherweise hatte der hervorragende Dr. Quince, seit Jahrzehnten bewährter Hausarzt der Winshaws, zu diesem Zeitpunkt bereits seine Diagnose gestellt, aus der hervorging, daß man gegenüber allen Behauptungen von seiten Tabithas in Zukunft größte Skepsis würde walten lassen müssen. Die Geschichte scheint das Urteil des Doktors übrigens zu bestätigen, denn als kürzlich einige Schriftstücke aus Tabithas Besitz in die Hände des Verfassers gelangten, war darunter auch die umstrittene Notiz. Sie ist inzwischen vergilbt und besteht aus einer von Lawrence eilig hingekritzelten Anweisung an den Butler, ihm in seinem Schlafzimmer einen abendlichen Imbiß zu servieren.

Tabithas Zustand verschlechterte sich nach Godfreys Abreise, und in der Nacht, in der er zu seinem letzten Flug aufbrach, ereignete sich ein sonderbarer Zwischenfall, ernster und grotesker als alle vorangegangenen. Ursache war eine weitere Wahnvorstellung Tabithas, nämlich daß ihr Bruder in seinem Schlafzimmer heimliche Unterredungen mit Spionen der Nazis führte. Wiederholt behauptete sie, vor der verschlossenen Schlafzimmertür gestanden und leises Stimmengemurmel in abgehacktem, befehlsgewohntem Deutsch gehört zu haben. Als schließlich selbst Mildred an der Wahrheit dieser Beobachtung zu zweifeln begann, unternahm Tabitha einen letzten Versuch, ihre Behauptung zu beweisen. Nachdem sie nachmittags den einzigen Schlüssel zum Schlafzimmer ihres Bruders an sich genommen hatte, wartete sie, bis sie überzeugt war, daß Lawrence wieder eines seiner niederträchtigen konspirativen Gespräche führte, schloß die Tür von außen ab und lief nach unten, wobei sie aus Leibeskräften schrie, sie habe ihren Bruder auf frischer Tat bei einem Verrat ertappt. Der Butler, die Dienstmädchen, das Küchenpersonal, der Chauffeur, der Kammerdiener, der Stiefeljunge und die anderen Bediensteten eilten sogleich herbei, dicht gefolgt von Mildred und Beatrice. Die ganze Gesellschaft, die sich in der großen Halle versammelt hatte, wollte sich gerade hinaufbegeben, um der Sache auf den Grund zu gehen, als Lawrence, ein Queue in der Hand, aus dem Billardsalon trat, wo er nach dem Essen einige Runden allein gespielt hatte. Selbstverständlich befand sich niemand in seinem Schlafzimmer, doch das zerstreute Tabithas Verdacht durchaus nicht; sie fuhr fort, ihren Bruder anzuschreien, und beschuldigte ihn aller möglichen Tricks und Schliche, bis man sie schließlich mit Gewalt in ihr Zimmer im Westflügel brachte, wo die für alle Eventualitäten gerüstete Schwester Gannet ihr ein Beruhigungsmittel verabreichte.

Dies war die Atmosphäre, die an jenem schrecklichen Abend in Winshaw Towers herrschte, als nächtliche Totenstille sich über das altehrwürdige Anwesen senkte, eine Stille, die um drei Uhr morgens durch das Schrillen des Telefons und die Nachricht von Godfreys furchtbarem Schicksal zerrissen wurde.

Die Leichen wurden nie geborgen – weder Godfrey noch seinem Kopiloten wurde ein christliches Begräbnis zuteil. Man hielt jedoch zwei Wochen später einen Gedenkgottesdienst in der privaten Kapelle der Winshaws ab. Seine Eltern saßen während der ganzen Zeremonie bleich und mit versteinerten Gesichtern da. Godfreys jüngerer Bruder Mortimer sowie seine Schwester Olivia und ihr Mann Walter waren aus Yorkshire angereist, um ihm die Ehre zu erweisen. Nur Tabitha fehlte. Sie war, kaum daß sie von Godfreys Tod erfahren hatte, in Raserei verfallen. Zu den Gegenständen, mit denen sie Lawrence angegriffen hatte, gehörten Kerzenleuchter, Golfschirme, Buttermesser, Rasiermesser, Reitgerten, ein Luffaschwamm, ein Golfschläger Nr. 4 und Nr. 7, eine afghanische Kriegstrompete von erheblichem historischen Wert, ein Nachttopf und eine Panzerabwehrkanone. Noch am folgenden Tag verfügte Dr. Quince ihre sofortige Einweisung in eine nahe gelegene Nervenheilanstalt.

Diese verließ sie in den folgenden neunzehn Jahren nicht ein einziges Mal. Auch trat sie nur selten mit den Mitgliedern ihrer Familie in Verbindung und zeigte keinerlei Interesse an ihren Besuchen. Ihr Geist (oder vielmehr seine kläglichen Überreste) beschäftigte sich ausschließlich mit den Umständen, die zum Tod ihres Bruders geführt hatten, und sie studierte mit zwanghaftem Eifer Bücher, wissenschaftliche Veröffentlichungen und Journale, die sich mit dem Kriegsverlauf, der Geschichte der Royal Air Force und allem, was auch nur entfernt mit der Fliegerei zu tun hatte, befaßten. (Ihr Name erscheint beispielsweise auf der Abonnentenliste von Zeitschriften wie Professional Pilot, Flypast, Jane’s Military Review und Cockpit Quarterly.) Man hielt es für das klügste, sie in der Obhut geschulter, aufopferungsvoller Pfleger zu lassen – bis zum 16. September 1961, dem Tag, an dem man ihr auf Ersuchen ihres Bruders Mortimer die Erlaubnis gab, das Heim für einen Abend zu verlassen. Diese Entscheidung war zweifellos von Mitgefühl diktiert, sollte sich aber als verhängnisvoll erweisen.

In jener Nacht wurde Winshaw Towers ein zweites Mal vom Tod heimgesucht.

Allein mit Shirley

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