Читать книгу Allein mit Shirley - Jonathan Coe - Страница 14
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ОглавлениеMeine Unterredung mit Patrick hatte viel länger gedauert als erwartet, und als ich vor dem Vanity House stand, war ich fast zu spät. Ich hatte unterwegs etwas essen wollen, aber die Zeit war zu knapp, und so mußte ich mich mit Schokolade begnügen. Ich versuchte einen von diesen neuen Schokoriegeln namens Twirls: Spiralen aus geraspelter Schokolade, umhüllt von einer dicken, cremigen, kalorienstrotzenden Glasur. Er schmeckte eigentlich gar nicht mal schlecht, auch wenn es ein bißchen unverschämt war, ihn als »neu« zu bezeichnen, denn das Konzept ging eindeutig auf den Ripple zurück. Allerdings hatte dieser hier eine irgendwie festere Konsistenz und wirkte robuster und gehaltvoller. Ich kaufte noch eine Packung Maltesers, brach sie aber nicht an.
Ich freute mich auf meinen Besuch bei Peacock Press; unter anderem aus einem Grund, der vielleicht lächerlich erscheint. Die erste Lektorin dieses Verlags, mit der ich über das Buch gesprochen hatte – sie war es eigentlich gewesen, die mit dem Vorschlag an mich herangetreten war, ein Buch über die Winshaws zu schreiben –, war eine Frau namens Alice Hastings gewesen, und wir waren auf Anhieb blendend miteinander zurechtgekommen. Ich sollte lieber gleich hinzufügen, daß sie auch jung und wunderschön war und daß ein großer Teil meiner Begeisterung für das Projekt sich auf die Verheißung gründete, mich öfter mit ihr treffen zu können. Dazu kam es allerdings nicht. Nach dieser ersten Begegnung wurde ich an Mrs. Tonks weitergereicht, eine keineswegs unfreundliche Frau in mittleren Jahren und ohne erkennbaren Dialekt, die von da an das ganze Projekt begleitete. Sie nahm ihre Pflichten ernst und tat ihr Bestes, um mir das Gefühl zu geben, daß ich gut betreut wurde. Zum Beispiel schickte sie mir jedes Jahr zu Weihnachten ein Paket mit ihren Lieblingsbüchern aus der Jahresproduktion, eingepackt in Geschenkpapier. So kam es, daß sich in meiner Bibliothek so erlesene Titel fanden wie Große Installateure Albaniens, Kulturgeschichte des Mundgeruchs oder Reverend J. W. Pottages bahnbrechendes Werk Was wissen Sie über Plinthen? sowie schlicht unvergeßliche Memoiren – der Name des Autors ist mir momentan entfallen – mit dem Titel Ein Leben in der Verpackungsbranche – Eine fragmentarische Autobiographie – Band IX: Die Styroporjahre. Ich wußte diese Großzügigkeit zwar zu schätzen, aber sie entschädigte mich dennoch nicht wirklich dafür, daß ich Alice nie mehr begegnete, und bei meinen seltenen Besuchen im Verlag (ich war nur drei- oder viermal dort gewesen) fragte ich immer ausdrücklich nach ihr. Aber zu meinem Pech war sie entweder gerade zum Mittagessen gegangen oder im Urlaub oder hatte eine Besprechung mit einem Autor. Selbst heute, acht Jahre nach unserer ersten Begegnung, verspürte ich beim Betreten des Gebäudes absurderweise noch immer den süßen Schmerz der Sehnsucht nach ihr, und die Aussicht, sie vielleicht zu sehen oder sogar ein paar Worte mit ihr zu wechseln, machte meinen Gang federnder und meine Handbewegung schwungvoller, als ich im Aufzug auf den Knopf zum achten Stock drückte.
Heute hatte selbst Mrs. Tonks’ verbindliche Tüchtigkeit etwas Aufmunterndes: Nach meinem Gespräch mit Patrick würden die Verhandlungen mit ihr herrlich unkompliziert sein. Das jedenfalls war meine Erwartung, als der Aufzug hinaufglitt und ich in den Spiegel sah und mir einen Schokoladenfleck von der Unterlippe wischte.
Ich merkte jedoch, daß etwas anderes in der Luft lag, denn Mrs. Tonks ließ mich nicht wie sonst im Vorraum warten, sondern eilte mir entgegen, sobald man sie von meinem Eintreffen benachrichtigt hatte. Ihr nüchternes rundliches Gesicht war stärker gerötet als gewöhnlich, und sie fingerte an einer schweren Holzperlenkette herum, die über ihren ausladenden Busen hing.
»Mr. Owen«, sagte sie, »ich versuche schon den ganzen Morgen, Sie zu erreichen. Ich wollte Ihnen den Weg ersparen.«
»Sie haben das Manuskript noch nicht angesehen?« fragte ich und folgte ihr in ihr großes, gemütliches Zimmer, das geschmackvoll mit Bonsais und abstrakten Gemälden ausgestattet war.
»Ich wollte es heute lesen, vor Ihrem Besuch«, sagte sie und bat mich mit einer Handbewegung, Platz zu nehmen, »aber die Umstände haben es verhindert. Hier geht es drunter und drüber. Es ist etwas passiert. Ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen: Gestern nacht ist bei uns eingebrochen worden.«
Ich weiß nie, was ich auf solche Eröffnungen sagen soll. Meine Antwort war, glaube ich: »Wie furchtbar«, gefolgt von: »Ich hoffe, es ist nichts Wertvolles gestohlen worden.«
»Es ist überhaupt nichts gestohlen worden«, sagte Mrs. Tonks, »außer Ihrem Manuskript.«
Ich war sprachlos.
»Es lag in meiner obersten Schreibtischschublade«, fuhr Mrs. Tonks fort. »Der Einbrecher hat wahrscheinlich nicht lange danach suchen müssen. Wir haben die Polizei noch nicht benachrichtigt, Mr. Owen, weil wir erst mit Ihnen sprechen wollten. Könnte es einen Grund geben, warum das jetzt passiert ist, so kurz nachdem wir das Manuskript erhalten haben? Haben Sie in letzter Zeit irgend etwas getan, das jemanden darauf aufmerksam gemacht haben könnte, daß Sie die Arbeit an dem Buch wieder aufgenommen haben?«
Ich dachte kurz nach und nickte dann. Wütend (vor allem auf mich selbst) ging ich auf und ab und erzählte ihr von meiner Annonce. »Es sollte mehr oder weniger eine Kriegserklärung sein. Eine verschlüsselte Herausforderung. Tja, jemand scheint sie angenommen zu haben.«
»Sie hätten das nicht tun dürfen«, sagte Mrs. Tonks. »Sie hätten nicht unsere Adresse angeben dürfen, ohne uns zu fragen. Jedenfalls schränkt das den Kreis der Verdächtigen nicht ein. Es könnte jeder gewesen sein.«
»Nein, das glaube ich nicht«, antwortete ich, und in mir nahm ein bestimmter Verdacht Gestalt an. »Gewisse Mitglieder der Familie haben bereits gezeigt, daß sie daran interessiert sind, das Erscheinen des Buches zu verhindern, und es würde mich nicht wundern ...«
Mrs. Tonks hörte mir gar nicht zu. »Ich glaube, wir sollten das mit Mr. McGanny besprechen«, sagte sie. »Kommen Sie.«
Sie führte mich ins Vorzimmer, verschwand für einen Augenblick in einem anderen Zimmer und ließ mich mit der Sekretärin allein. Eingelullt vom leisen Klappern der Computertastatur, gab ich mich träumerischen Spekulationen darüber hin, welcher der Winshaws mein Manuskript gestohlen hatte (oder, was wahrscheinlicher war, jemanden angeheuert hatte, es zu stehlen). Der nächstliegende Kandidat war Henry – immerhin hatte er schon einmal versucht, es zu verbrennen –, doch auch von den anderen konnte ich keinen ausschließen. Wer immer dahintersteckte – sein Motiv war wohl kaum die Unterdrückung dieses Buches. Er mußte wissen, daß ich mehrere Kopien besaß, und daher nahm ich an, daß es ihm wahrscheinlich eher darum ging zu erfahren, wie weit ich mit meinen Nachforschungen gekommen war. Ich beschloß, mir über die Sache keine Sorgen zu machen, bevor ich nicht einige Fakten in Erfahrung gebracht hatte. Es war die Zeit gekommen, eine weitere, dringlichere Frage zu stellen.
Ich schlenderte zum Tisch der Empfangssekretärin und sagte betont beiläufig: »Sagen Sie ... Miss Hastings wird heute nachmittag nicht zufällig im Haus sein?«
Sie sah mich ausdruckslos und gelangweilt an. »Ich bin hier nur als Vertretung«, sagte sie.
In diesem Augenblick erschien Mrs. Tonks und winkte mir, ihr zu folgen. Ich hatte Mr. McGanny, den Verleger, nie kennengelernt und wußte nicht, was ich erwarten sollte. Die Üppigkeit seines Büros überraschte mich jedenfalls: Es war mit Ledersesseln eingerichtet und hatte ein riesiges Fenster, das auf den angrenzenden Park ging. Was McGanny betraf, so schätzte ich ihn auf Mitte Fünfzig. Sein Gesicht erinnerte mich an ein Pferd – ein Vollblut vielleicht, aber etwas zu hager und mit einem Schuß Gerissenheit –, und statt des schottischen Dialekts, mit dem ich gerechnet hatte, sprach er ein gedehntes, gewähltes Englisch, wie man es auf teuren Internaten und in Oxford oder Cambridge lernt.
»Setzen Sie sich, Owen, setzen Sie sich.« Er sah mich über den Schreibtisch hinweg an. Mrs. Tonks stand am Fenster. »Das sind ja böse Nachrichten. Was halten Sie davon?«
»Ich habe den Eindruck, daß die Art meiner Nachforschungen bei einigen Mitgliedern der Familie Winshaw auf Widerstand stößt, und könnte mir vorstellen, daß sie sich vielleicht ein Urteil über das, was ich bisher zusammengetragen habe, bilden wollten.«
»Hmmm. Trotzdem, muß ich sagen, ist das eine verdammt hinterhältige Art, sich ein Urteil zu bilden.« Er beugte sich vor. »Ich will offen sein, Owen. Ich mag keine Widerstände.«
»Ich verstehe.«
»Aber jede Medaille hat zwei Seiten. Ich habe Sie nicht mit diesem Buch beauftragt, und es ist mir vollkommen gleichgültig, was darin steht. Das ist Miss Winshaws Angelegenheit. Sie hat sich vorbehalten zu entscheiden, was hineingehört und was letztlich dabei herauskommt, und mir scheint, diese Regelung läßt Ihnen einen ansehnlichen Spielraum, da wir alle wissen – ich will um diesen Punkt nicht lange herumreden –, daß sie in geistiger Hinsicht, gelinde gesagt, eher ein Blindband ist.«
»Ganz recht.«
»Ich will offen sein, Owen. Soviel ich weiß, haben Miss Winshaws Vertreter eine recht angenehme finanzielle Vereinbarung mit Ihnen getroffen.«
»So könnte man es ausdrücken.«
»Dann kann ich Ihnen ja sagen, daß dasselbe auch für meine Wenigkeit gilt. Das heißt natürlich: für den Verlag.« Er hüstelte. »Damit will ich sagen: Es besteht kein Grund zur Eile. Überhaupt kein Grund. Je länger die Arbeit an Ihrem Buch dauert, desto besser, könnte man sagen.« Er hüstelte wieder. »Und aus demselben Grund hoffe ich, daß Sie nicht in Erwägung ziehen, die Arbeit abzubrechen, nur weil gewisse interessierte Kreise versuchen, Sie ein wenig einzuschüchtern.«
Der Summer der Gegensprechanlage ertönte. McGanny drückte auf einen Knopf. »Ja?«
»Ich habe Oberstleutnant Fortescue endlich erreicht, Sir«, sagte die Sekretärin. »Er sagt, er ist sich ganz sicher, daß er den Scheck letzte Woche abgeschickt hat.«
»Hm! Schicken Sie ihm den üblichen Brief. Und stören Sie mich nur, wenn es wirklich wichtig ist.«
»Und dann hat Ihre Tochter angerufen, Sir.«
»Ich verstehe – wollte wahrscheinlich die Verabredung zum Essen absagen, weil sie sich lieber mit irgendeinem neuen Freund trifft.«
»Nicht ganz, Sir. Sie hat gesagt, daß ihr Vorsprechtermin heute nachmittag abgesagt worden ist und sie früher kommt. Sie ist jetzt schon unterwegs hierher.«
»Oh. Na gut. Danke.« McGanny war kurz in Gedanken versunken. Dann stand er abrupt auf. »Gut, Owen, ich glaube, es ist alles gesagt, was es im Augenblick zu sagen gibt. Wir sind beide vielbeschäftigte Leute. Mrs. Tonks natürlich ebenfalls. Es hat keinen Sinn, Zeit zu vergeuden, wenn es Arbeit zu tun gibt.«
»Ich werde Sie zum Aufzug bringen«, sagte Mrs. Tonks und nahm meinen Arm.
»Es war mir ein Vergnügen, Sie endlich kennenzulernen, Owen«, rief McGanny mir nach, als sie mich zur Tür schob. »Halten Sie die Ohren und so weiter steif.«
Bevor ich darauf antworten konnte, hatte Mrs. Tonks mich schon hinausgezerrt.
»Wie kommen Sie nach Hause?« fragte sie und überraschte mich, indem sie mit mir in den Aufzug stieg und mich nach unten begleitete. »Mit dem Taxi?«
»Tja, darüber habe ich noch gar nicht ...«
»Ich kümmere mich darum«, sagte sie – und richtig: Sie trat mit mir auf die Straße, und es dauerte nicht einmal eine Minute, da hatte sie ein Taxi herbeigewinkt.
»Das wäre wirklich nicht nötig gewesen«, sagte ich und öffnete die Tür. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie ebenfalls eingestiegen wäre.
»Keine Ursache. Wir verwöhnen unsere Autoren gern. Besonders« (dies mit einem albernen Lächeln) »die wichtigen.«
Das Taxi fuhr los und mußte nach ein paar Metern an einer Ampel anhalten. Während wir standen, bemerkte ich ein anderes Taxi, das aus der entgegengesetzten Richtung kam und vor dem Vanity House anhielt. Eine Frau stieg aus. Ich drehte mich um, denn ich nahm an, daß es McGannys Tochter war, und ich war neugierig, wie sie wohl aussah. Doch zu meiner großen Überraschung und – absurderweise – Freude war es niemand anders als Alice Hastings.
»Alice!« rief ich durch das Fenster. »Alice, hallo!«
Sie beugte sich hinunter, um den Fahrer zu bezahlen, und hörte mich nicht. Dann schaltete die Ampel auf Grün, und wir fuhren weiter. Ich mußte mich mit dem Wissen zufriedengeben, daß sie noch für den Verlag arbeitete und sich, soweit ich das beurteilen konnte, in den Jahren seit unserer Begegnung nicht sehr verändert hatte.
Nach einigen Minuten schob der Fahrer das Fenster in der Trennwand zurück und sagte: »’Tschuldigung, aber Sie kennen nicht zufällig jemanden, der Lust haben könnte, Sie zu verfolgen, oder?«
»Mich zu verfolgen? Warum?«
»Weil uns ein blauer 2CV verfolgt. Ein paar Wagen hinter uns.«
Ich drehte mich um.
»Ist natürlich schwer zu sagen, bei dem Verkehr, aber ich bin ein paar Abkürzungen gefahren, und er ist immer noch da, und darum hab ich gedacht ...«
»Es ist nicht ausgeschlossen«, sagte ich und versuchte, den Fahrer des Citroëns zu erkennen.
»Na, ich werd mal ein bißchen auf die Tube drücken, dann sehen wir ja, was passiert.« Er sagte nichts mehr, bis wir fast in Battersea waren. »Wir haben ihn abgehängt. Muß ich mir eingebildet haben.«
Ich seufzte erleichtert und lehnte mich zurück. Es war ein langer Tag gewesen, und ich wünschte mir nichts weiter, als den Abend vor dem Fernseher und dem Videorecorder zu verbringen. Von Menschen hatte ich für eine Weile genug. Sie waren so anstrengend. Ich wollte nicht einmal Fiona sehen.
Der Taxifahrer reichte mir das Wechselgeld durch das Fenster, als ein blauer Citroën vorbeiknatterte.
»Jetzt bin ich aber platt«, sagte der Fahrer. »Wir sind wirklich verfolgt worden. Sie sollten ein bißchen aufpassen - ich glaube, da sitzt Ihnen einer im Nacken.«
»Da könnten Sie recht haben«, murmelte ich, als der Citroën am Ende des Wohnblocks abbog und verschwand. »Da könnten Sie sehr recht haben.«
Und dennoch drängte sich mir ein Gedanke auf: Dieser alte, verbeulte Citroën? Konnte selbst Henry Winshaw so verschlagen sein?