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Damals war Juri mein alles überragender Held. Meine Eltern schnitten alle Fotos von ihm aus, und ich befestigte sie mit Reißnägeln an einer Wand in meinem Zimmer. Inzwischen ist sie neu tapeziert worden, aber früher konnte man, noch viele Jahre nachdem die Bilder abgenommen worden waren, die Löcher sehen, welche die Reißnägel hinterlassen haben: winzige Punkte, die in einem willkürlichen, phantastischen Muster über die Wand verteilt waren wie Sterne. Ich wußte, daß Gagarin kürzlich in London gewesen war. Ich hatte im Fernsehen gesehen, wie er durch von winkenden Menschen gesäumte Straßen gefahren war. Ich hatte gehört, daß er die Ausstellung im Earl’s Court besucht hatte, und das Wissen, daß er Hunderten von Kindern die Hand geschüttelt hatte, machte mich gelb vor Neid auf diese Glückspilze. Trotzdem war ich nicht auf den Gedanken gekommen, meine Eltern zu fragen, ob sie mit mir dorthin fahren würden. Eine Fahrt nach London wäre für meine Familie ein ebenso kühnes, ehrgeiziges Unterfangen gewesen wie eine Reise zum Mond.

Doch dann kam mein neunter Geburtstag, und mein Vater schlug zwar keine Reise zum Mond vor, aber immerhin einen kleinen Flug durch die Stratosphäre in Form eines Ausflugs nach Weston-super-Mare. Man versprach mir einen Besuch der kürzlich eröffneten Modelleisenbahn und des Aquariums und sagte, wenn das Wetter schön sei, würden wir ins Freibad gehen. Es war Mitte September, der 17. September 1961, um genau zu sein. Meine Großeltern waren ebenfalls eingeladen, und damit meine ich die Eltern meiner Mutter, denn mit denen meines Vaters hatten wir nichts zu tun. Ich wußte zwar, daß sie noch lebten, doch so weit ich zurückdenken konnte, hatten wir nie etwas von ihnen gehört. Möglicherweise hielt mein Vater Kontakt mit ihnen, ohne daß wir es merkten, auch wenn ich das bezweifle. Er zeigte seine Gefühle nie offen, und selbst heute könnte ich nicht sagen, ob er seine Eltern sehr vermißte oder nicht. Jedenfalls kam er mit Grandma und Grandpa ganz gut zurecht und hatte sich im Lauf der Jahre ein dickes Fell gegen Grandpas gutmütige, aber unablässige Sticheleien zugelegt. Ich glaube, meine Mutter hatte ihre Eltern zu diesem Ausflug eingeladen, wahrscheinlich ohne meinen Vater zu fragen. Trotzdem gab es deswegen keine Unstimmigkeiten. Meine Eltern stritten sich nie. Mein Vater murmelte bloß, er hoffe, sie würden hinten sitzen.

Doch natürlich mußten die Frauen hinten sitzen, und ich zwischen ihnen. Grandpa saß auf dem Beifahrersitz, auf dem Schoß einen Straßenatlas und auf dem Gesicht ein versonnenes, heiteres Lächeln – ein sicheres Zeichen dafür, daß mein Vater sich auf einen harten Tag gefaßt machen mußte. Sie hatten sich bereits darüber gestritten, mit welchem Wagen wir fahren sollten. Der Volkswagen meiner Großeltern war alt und unzuverlässig, aber mein Großvater ließ keine Gelegenheit aus, sich über die britischen Wagen lustig zu machen, die mein Vater, der in einem kleinen Zuliefererbetrieb arbeitete, aus Loyalität zu seinen Arbeitgebern und zu seinem Land kaufte.

»Daumen drücken«, rief Grandpa, als mein Vater den Zündschlüssel drehte, und als der Wagen beim ersten Versuch ansprang, sagte er: »Es geschehen noch Zeichen und Wunder.«

Ich hatte zum Geburtstag ein Reiseschachspiel bekommen, und Grandma und ich machten, um uns die Zeit zu vertreiben, ein paar Spiele. Keiner von uns beiden kannte die Regeln auch nur entfernt, aber das wollten wir nicht zugeben, und so behalfen wir uns mit einer Improvisation, die eine Mischung aus Dame und Tischfußball war, Meine Mutter war so nachdenklich und in sich gekehrt wie immer und sah nur aus dem Fenster; vielleicht hörte sie auch dem Gespräch der beiden Männer auf den Vordersitzen zu.

»Was ist los?« fragte Grandpa. »Versuchst du, Benzin zu sparen, oder was?«

Mein Vater reagierte nicht.

»Hier darfst du siebzig fahren«, fuhr Grandpa fort. »Ich hab vorhin das Schild gesehen.«

»Wir wollen nicht zu früh da sein. Schließlich sind wir nicht in Eile.«

»Tja, wahrscheinlich fängt diese Rostlaube an zu klappern, wenn du schneller als sechzig fährst. Außerdem wollen wir ja heil ankommen, nicht? Paß aber auf – ich glaube, der Radfahrer hinter uns will überholen.«

»Sieh mal, Michael: Kühe«, sagte meine Mutter, um mich abzulenken.

»Wo?«

»Auf der Wiese da.«

»Der Junge weiß, wie Kühe aussehen«, sagte Grandpa. »Laß ihn in Frieden. Hört ihr auch dieses Rasseln?«

Niemand hörte ein Rasseln.

»Ich höre es ganz genau. Wahrscheinlich geht gerade ein Lager oder so kaputt.« Er wandte sich an meinen Vater. »Welches Teil von diesem Wagen hast du noch mal entworfen, Ted? War es nicht der Aschenbecher?«

»Die Lenksäule«, sagte mein Vater.

»Sieh mal, Michael: Schafe.«

Wir parkten an der Promenade. Die Federwölkchen am Himmel erinnerten mich an Zuckerwatte, und die anschließende Assoziationskette führte mich zwangsläufig zu einem Verkaufsstand am Pier, wo meine Großeltern mir einen riesigen rosigen Ball dieser pappsüßen Ambrosia kauften sowie eine Zuckerstange, die ich für später aufhob. Normalerweise hätte mein Vater eine Bemerkung über die psychologisch wie zahnmedizinisch fatalen Folgen eines solchen Geschenkes gemacht, doch weil ich Geburtstag hatte, ließ er es durchgehen. Ich setzte mich auf eine niedrige Mauer mit Blick auf das Meer, machte mich über die Zuckerwatte her und genoß den köstlichen Widerspruch zwischen ihrer unvorstellbaren Süße und dem leichten Prickeln der einzelnen Fasern, bis ich drei Viertel des Balls vertilgt hatte und mir ein bißchen übel wurde. Es war nicht viel los auf der Promenade. Eingehüllt in mein Glück saß ich da und achtete nicht sonderlich auf die Passanten, doch ich erinnere mich dunkel an gutbürgerliche Ehepaare, die untergehakt vorbeispazierten, und einige ältere Leute, die zielstrebiger ausschritten und sich zum Kirchgang feingemacht hatten.

»Ich hoffe, es war kein Fehler, an einem Sonntag hierherzukommen«, flüsterte meine Mutter. »Es wäre doch schade, wenn alles geschlossen hätte.«

Grandpa bedachte meinen Vater mit einem vielsagenden Augenzwinkern; es brachte maliziöse Sympathie zum Ausdruck und gab gleichzeitig zu verstehen, daß er derlei Situationen kannte. »Da hat sie dir mal wieder schön was eingebrockt«, bemerkte er.

»So, du Geburtstagskind«, sagte meine Mutter und wischte mir den Mund mit einem Papiertaschentuch ab, »was willst du als erstes machen?«

Als erstes gingen wir ins Aquarium. Es war wahrscheinlich ein sehr schönes Aquarium, und doch kann ich mich nur ganz schwach daran erinnern. Seltsam, daß meine Familie sich so bemühte, mir dieses Amüsement zu bieten, während es doch ihre dahingesagten Worte, ihre unbedachten Gesten und Betonungen waren, die in meinem Gedächtnis haften blieben wie Fliegen auf einem Streifen Fliegenpapier. Immerhin weiß ich noch, daß der Himmel sich bereits bezog, als wir hinausfuhren, und daß der frische Meereswind es meiner Mutter schwermachte, das Picknick auf der Grünfläche am Strand zu genießen. Wir hatten die Liegestühle im Halbkreis aufgestellt, und in Gedanken sehe ich noch, wie meine Mutter aufspringt und davonfliegenden Papiertüten nachrennt oder belegte Brote austeilt und dabei mit dem wild flatternden Butterbrotpapier kämpft. Es blieb eine Menge Essen übrig, und sie bot die Reste schließlich dem Mann an, der das Geld für die Liegestühle kassieren wollte. (Wie alle Menschen ihrer Generation konnten meine Eltern sich scheinbar mühelos mit jedem beliebigen Fremden unterhalten, Ich dachte immer, daß mir diese Gabe einfach zufliegen würde – vielleicht, wenn ich meine kindliche oder jugendliche Schüchternheit abgeschüttelt hätte –, aber das geschah nie, und heute weiß ich, daß diese Leichtigkeit, die sie, wo sie auch waren, im Umgang mit anderen Menschen an den Tag legten, mehr mit jener Zeit als mit einer besonderen Reife zu tun hatte.)

»Lecker, der Schinken«, sagte der Mann. »Ich tu allerdings ganz gern ein bißchen Senf drauf.«

»Wir auch«, sagte Grandpa, »aber Seine Hochwohlgeboren mag das nicht.«

»Sie verwöhnt ihn«, sagte Grandma und lächelte in meine Richtung. »Sie verwöhnt ihn nach Strich und Faden.«

Ich tat, als hätte ich das nicht gehört, und starrte so angestrengt auf das letzte Stück selbstgebackenen Schokoladenkuchen, daß meine Mutter es mir wortlos zuschob und dabei gespielt verschwörerisch den Finger an die Lippen legte. Es war mein drittes Stück. Sie nahm beim Backen nie Blockschokolade, sondern immer nur echte Vollmilchschokolade.

Ich hatte das Gefühl, nicht mehr lange auf den versprochenen Sprung ins Wasser warten zu können, aber meine Mutter sagte, ich müsse das Essen erst verdauen. In der Hoffnung, mich meine Ungeduld vergessen zu machen, ging mein Vater mit mir zum Meer. Es war Ebbe, und die weite Schlickfläche erstreckte sich fast bis zum Horizont. Ein paar kleine Kinder watschelten entschlossen umher wie Nachwuchsentdecker, in der einen Hand ein Muschelnetz, an der anderen ein wenig begeistertes Elternteil. Wir spazierten etwa eine halbe Stunde lang ziellos umher und durften dann endlich ins Freibad gehen. Es waren nicht viele Leute da. Ein paar lagen in Liegestühlen am Beckenrand, und die wenigen, die schwammen, taten das unter ausgiebigem Prusten und Spritzen. Es herrschte ein Durcheinander aus verschiedenen Melodien: Aus den großen Lautsprechern sickerte seichte Orchestermusik und vermischte sich mit Transistorradioklängen von Cliff Richard bis zu Kenny Ball and his Jazzmen. Das Wasser glitzerte und schimmerte unwiderstehlich. Ich verstand nicht, warum die Leute flach auf dem Rücken lagen und Radio hörten, wenn direkt vor ihrer Nase eine solche Herrlichkeit, ein solches Glück lockte. Mein Vater und ich traten gleichzeitig aus den Umkleidekabinen. Damals fand ich, daß er der bei weitem stärkste und bestaussehende Mann im ganzen Freibad war, doch wenn ich heute daran zurückdenke, sehe ich, daß unsere mageren weißen Körper gleichermaßen zart und kindlich waren. Ich rannte voraus zum Beckenrand und genoß den kurzen, aber unendlich kostbaren Augenblick der Vorfreude. Ich sprang ins Wasser, und dann schrie ich.

Das Becken war nicht beheizt. Wie waren wir nur auf den Gedanken gekommen, es würde beheizt sein? Ein Speer aus Eis durchfuhr mich, und der Schock ließ mich erstarren, doch meine erste Reaktion – nicht nur auf das körperliche Gefühl, sondern auch auf die schlimmere Qual einer in Aussicht gestellten, aber dann doch verweigerten Freude – war, in Tränen auszubrechen. Wie lange ich weinte, weiß ich nicht. Mein Vater muß mich aus dem Becken gezogen haben, meine Mutter muß von der Zuschauergalerie, wo sie mit meinen Großeltern Platz genommen hatte, herbeigeeilt sein. Sie nahm mich in die Arme, und alle sahen mich an, und doch war ich untröstlich. Später sagten sie mir, es habe ausgesehen, als wollte ich nie mehr aufhören zu weinen. Irgendwie schafften sie es, mich wieder anzuziehen und nach draußen zu bugsieren, wo inzwischen drohend schwarze Regenwolken am Himmel hingen.

»So eine Unverschämtheit«, schimpfte Grandma. Sie hatte einem der Bademeister die Meinung gesagt, und das war etwas, das man niemandem wünschte. »Die müssen doch ein Schild aufhängen. Oder ein Thermometer, auf dem man die Wassertemperatur ablesen kann. Wir sollten einen Beschwerdebrief schreiben.«

»Mein armes Lämmchen«, sagte meine Mutter. Ich schluchzte noch ein bißchen. »Ted, lauf doch schnell zum Wagen und bring die Regenschirme, sonst holen wir uns noch den Tod. Wir warten hier auf dich.«

»Hier« war das Wartehäuschen einer Bushaltestelle an der Promenade. Wir vier saßen da und lauschten dem Regen, der auf das Glasdach trommelte. Grandpa murmelte: »Was für ein Schlamassel!«, ein sicheres Zeichen dafür, daß der Tag seines Erachtens dabei war, im Sturzflug in die Katastrophe abzuschmieren – was das Stichwort für mich war, mit verdoppelter Energie weiterzuheulen.

Als mein Vater mit zwei Regenschirmen und einer klein zusammengefalteten Plastikhaube zurückkehrte, sah meine Mutter ihn in stummer Panik an, doch er hatte inzwischen offenbar gründlich nachgedacht und einen klugen Einfall45

gehabt: »Sehen wir doch mal nach, ob etwas im Kino läuft.«

Das nächstgelegene und größte war das Odeon und zeigte Die nackte Geisel mit Maureen O’Hara und George Nader. Meine Eltern warfen einen Blick auf das Plakat und gingen eilig weiter. Ich folgte ihnen nur widerwillig. Der Titel verhieß exotische und verbotene Genüsse, und im Schaukasten stand unter dem Plakat ein auffälliges Schild, das mich neugierig machte: WÄHREND DER LETZTEN DREIZEHN MINUTEN DIESES FILMS WIRD NIEMAND EINGELASSEN. KEINE AUSNAHMEN! ACHTEN SIE AUF DAS ROTE BLINKLICHT! Grandpa packte mich an der Hand und zerrte mich weiter.

»Und was ist mit dem hier?« fragte mein Vater.

Wir standen vor einem kleinen, weniger imposanten Gebäude, in dem sich »Westons einziges unabhängiges Kino« befand. Meine Mutter und Grandma verbeugten sich vor dem Schaukasten und musterten die Standfotos. Grandma spitzte zweifelnd die Lippen, und meine Mutter hatte die Stirn in leichte Falten gelegt. »Eine Leiche auf Urlaub? Meinst du, das ist etwas Passendes?«

»Sid James und Kenneth Connor. Müßte komisch sein.«

Das kam von Grandpa. Seine Aufmerksamkeit galt jedoch, wie ich bemerkte, mehr dem Foto einer wunderschönen blonden Schauspielerin namens Shirley Eaton, die die weibliche Hauptrolle spielte.

»Prädikat wertvoll«, steuerte mein Vater bei.

Und ich rief: »Mum! Mum!«

Ihr Blick folgte meinem Zeigefinger. Ich hatte einen Hinweis entdeckt, wonach ein Vorfilm über das russische Raumfahrtprogramm gezeigt wurde. Er hieß Mit Gagarin zu den Sternen. Das Schild verkündete prahlerisch, dieser Film sei IN FARBE doch einen solchen zusätzlichen Anreiz brauchte ich gar nicht. Ich begann sogleich, große Augen zu machen und zu bitten und zu betteln, merkte aber, daß das eigentlich gar nicht nötig war, denn meine Eltern hatten sich bereits entschieden. Wir reihten uns in die Schlange an der Kasse ein. Aufgeregt hielt ich mich an der Hand meines Vaters fest, und als die Kartenverkäuferin sich auf ihrem hohen Stuhl im Kassenhäuschen vorbeugte, mich zweifelnd musterte und fragte: »Sind Sie sicher, daß er alt genug ist?«, war mir, als stürzte ich in dasselbe Unglück, dasselbe Gefühl der Übelkeit, das ich nach meinem Sprung in das ungeheizte Schwimmbecken empfunden hatte. Doch Grandpa ließ sich nicht beeindrucken. »Geben Sie uns die Karten«, sagte er, »und kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram.« Hinter uns wurde gekichert. Wir traten in den dunklen, muffigen Saal, und ich sank selig in die Polster meines Sitzes. Links von mir saß Grandma, rechts mein Vater.

Sechs Jahre später war Juri tot. Aus ungeklärten Gründen war seine MiG-15 beim Landeanflug zu steil aus tiefhängenden Wolken gekommen und zerschellt. Zu diesem Zeitpunkt war ich alt genug, um einen Teil des weitverbreiteten Mißtrauens gegenüber allem, was aus Rußland kam, übernommen zu haben. Ich hatte dunkle Andeutungen über die Machenschaften des KGB gehört, und man sagte, mein Held sei in seinem Land in Ungnade gefallen, weil er die jubelnden Menschen im Westen so für sich eingenommen hatte. Vielleicht hatte er sein Todesurteil unterschrieben, als er all den Kindern im Earl’s Court die Hände geschüttelt hatte, und dabei waren sie es gewesen, denen ich damals den Tod gewünscht hatte. Doch was auch dahintersteckte – ich habe die Unschuld, mit der ich an jenem Nachmittag diesen kunstlosen Film mit seiner pathetischen Verherrlichung Gagarins gesehen haben muß, längst verloren und kann sie mir nicht einmal mehr vorstellen. Ich wollte, es wäre nicht so. Ich wollte, Gagarin wäre ein Objekt meiner blinden Verehrung geblieben, anstatt zu einem der allgegenwärtigen, unlösbaren Geheimnisse der Erwachsenenwelt zu werden – zu einer jener Geschichten ohne richtiges Ende, mit denen ich bald nähere Bekanntschaft machen sollte.

Als das Licht zum zweitenmal erlosch und auf der Leinwand als Ankündigung des Hauptfilms die Freigabeerklärung der Filmzensur erschien, beugte sich meine Mutter zu meinem Vater und flüsterte ihm über meinen Kopf hinweg zu: »Ted, es ist beinah sechs.«

»Na und?«

»Wie lange dauert dieser Film eigentlich?«

»Weiß ich nicht. Wahrscheinlich neunzig Minuten.«

»Wir haben noch den ganzen Rückweg vor uns. Der Junge kommt viel zu spät ins Bett.«

»Das eine Mal macht das doch nichts. Schließlich hat er heute Geburtstag.«

Der Vorspann lief bereits, und ich starrte wie gebannt auf die Leinwand. Es war ein Schwarzweißfilm, und die Musik, obschon von einer gewissen munteren Heiterkeit, erfüllte mich mit dunklen Ahnungen.

»Und das Abendessen?« flüsterte meine Mutter. »Was ist mit dem Abendessen?«

»Ach, was weiß ich? Wir werden auf dem Rückweg irgendwo etwas essen.«

»Aber dann wird es ja noch später.«

»Lehn dich einfach zurück und genieß den Film.«

Ich bemerkte, daß meine Mutter sich während der nächsten Minuten mehrmals vorbeugte und auf ihre Uhr blickte. Was sie danach tat, sah ich nicht, denn ich konzentrierte mich ganz auf den Film.

Es war die Geschichte eines nervösen, schüchternen Mannes (gespielt von Kenneth Connor), der in seiner Wohnung eines späten Abends unvermutet Besuch von einem zwielichtigen48

Anwalt erhält. Dieser teilt Kenneth mit, sein reicher Onkel sei gestorben, und er müsse sich zur Testamentseröffnung sofort nach Blackshaw Towers, dem Stammsitz der Familie, begeben. Kenneth fährt mit der Eisenbahn nach Yorkshire, begleitet von seinem Freund, einem gewieften Buchmacher (Sidney James). Sie stellen fest, daß Blackshaw Towers weit entfernt vom nächsten Dorf in einem entlegenen Teil des Moors liegt, und da sie kein Taxi bekommen können, lassen sie sich von einem Leichenwagen mitnehmen und werden in dichtem Nebel irgendwo im Moor abgesetzt.

Als sie schließlich vor dem Haus stehen, hören sie entferntes Hundegeheul.

Sidney sagt: »Nicht gerade ein Ferienlager, was?«

Kenneth sagt: »Das Haus hat etwas Unheimliches.«

Das Publikum fand das offenbar erheiternd, doch ich gruselte mich inzwischen sehr. Ich hatte so etwas noch nie gesehen: Es war kein wirklicher Horrorfilm, aber die Details waren sehr überzeugend, und die düstere Atmosphäre, die dramatische Musik und das ständige Gefühl, daß gleich etwas Schreckliches passieren würde, quälten mich mit einer eigenartigen Mischung aus Angst und Erregung. Ein Teil von mir wollte hinausrennen in den letzten Rest des Tageslichts, doch ein anderer Teil war entschlossen zu bleiben, bis ich herausgefunden hatte, was dahintersteckte.

Kenneth und Sidney betreten vorsichtig die Eingangshalle von Blackshaw Towers und spüren, daß das Haus so unheimlich ist, wie es von draußen gewirkt hat. Sie werden von einem finsteren, hageren Butler namens Fisk begrüßt, der sie nach oben zu ihren Zimmern führt. Beklommen stellt Kenneth fest, daß er nicht nur weit entfernt von seinem Freund, im Ostflügel, untergebracht ist, sondern noch dazu in eben jenem Zimmer, in dem sein Onkel gestorben ist. Auf dem Flur hört man leise, unheimliche Orgelmusik. Sie gehen wieder hinunter und werden den anderen Mitgliedern von Kenneths Familie vorgestellt: seiner Cousine Janet, seinen Cousins Guy und Malcolm, seinem Onkel Edward und seiner verrückten Tante Emily, für die die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg stehengeblieben ist. Gerade als der Anwalt mit der Testamentseröffnung beginnen will, erscheint eine junge, blonde, wunderschöne Frau (gespielt von Shirley Eaton). Sie ist gekommen, weil sie Kenneths Onkel während seiner tödlichen Krankheit gepflegt hat. Da es nicht genug Stühle gibt, muß Kenneth auf Shirleys Knie sitzen. Er scheint nichts dagegen zu haben.

Das Testament wird verlesen: Keiner der Angehörigen erbt auch nur einen Penny – man hat sie zum Narren gehalten. Sie geraten in einen bitteren Streit, und als sie schließlich zu Bett gehen wollen, fällt plötzlich im ganzen Haus das Licht aus. Inzwischen tobt draußen ein furchtbares Unwetter. Fisk vermutet, daß der Generator ausgefallen ist. Kenneth und Sid bieten ihm ihre Hilfe an. In dem Schuppen, in dem der Generator steht, stellen sie fest, daß er absichtlich demoliert worden ist. Auf dem Rückweg zum Haus sehen sie zu ihrem Erstaunen Onkel Edward im strömenden Regen mitten auf dem Rasen in einem Klappsessel sitzen.

Sidney sagt: »Was macht er hier draußen?«

Kenneth lacht und sagt: »Unglaublich! Er wird sich noch den Tod ...«

Er muß heftig niesen, und Onkel Edward kippt steif aus dem Stuhl. Er ist tot.

Kenneth sagt: »Sid .. ist er ...?«

Sid sagt: »Tja, wenn er’s nicht ist, hat er einen sehr guten Schlaf.«

Ein schreckliches Donnern. Meine Mutter beugte sich zu meinem Vater. »Komm, Ted, gehen wir«, flüsterte sie.

Mein Vater lachte. »Aber warum denn?«

»Das ist nichts für Kinder.«

Kenneth sagt: »Tja, wir können ihn jedenfalls nicht hier herumliegen lassen. Wir bringen ihn am besten in den Geräteschuppen – der muß irgendwo dort drüben sein.«

Wieder gab es Heiterkeit im Publikum. Kenneth, Sid und der Butler versuchen, den Leichnam des korpulenten Onkels hochzuheben. Sidney sagt: »Hört mal, wäre es nicht einfacher, den Geräteschuppen hierherzubringen?«

Darüber mußte sogar Grandma lachen. Doch meine Mutter sah wieder auf ihre Uhr, und mein Vater, der sich vielleicht einbildete, daß ich mich fürchtete, strich mir über das Haar und legte den Arm auf die Lehne neben mir, so daß ich ihn drücken und mich daran schmiegen konnte.

Kenneth und Sid gehen ins Haus und sagen den anderen, Onkel Edward sei ermordet worden. Sid will die Polizei anrufen, merkt aber, daß die Leitung tot ist. Kenneth erklärt, er werde nach Hause fahren, doch der Anwalt weist ihn darauf hin, daß das Moor bei diesem Wetter unpassierbar ist und er, wenn er das Haus jetzt verläßt, in den Augen der Polizei der Hauptverdächtige sein wird. Er empfiehlt allen, zu Bett zu gehen und die Zimmertüren fest zu verschließen.

Fisk sagt: »Das ist erst der Anfang. Sie werden sehen: Das war nicht der letzte Tote.«

Sidney sagt: »Gute Nacht, Sie Witzbold.«

Kenneth und Sidney gehen hinauf, aber sobald sie sich verabschiedet haben und Kenneth allein ist, merkt er, wie leicht es ist, sich in dem riesigen alten Haus zu verlaufen. Er öffnet die Tür, die, wie er glaubt, zu seinem Zimmer führt, und entdeckt, daß es bereits besetzt ist, und zwar von Shirley, die nur ein Unterkleid trägt und dabei ist, ihr Nachthemd anzuziehen.

Kenneth sagt: »Was machen Sie denn in meinem Zimmer?«

Shirley sagt: »Das ist nicht Ihr Zimmer. Oder ist das etwa Ihr Gepäck?« Sie preßt das Nachthemd züchtig an ihren Busen.

Kenneth sagt: »Ach, du liebe Zeit – nein! Und das ist auch nicht mein Bett. Ich glaube, ich habe mich verlaufen. Bitte entschuldigen Sie. Ich ... ich werde ...«

Er wendet sich zum Gehen, bleibt aber nach wenigen Schritten stehen. Er dreht sich um und sieht, daß Shirley, die nicht weiß, was sie von ihm halten soll, noch immer das Nachthemd an den Busen preßt.

Meine Mutter rutschte unruhig hin und her.

Kenneth sagt: »Sie wissen nicht zufällig, wo mein Zimmer ist, Miss?

Shirley schüttelt betrübt den Kopf und sagt: »Nein, leider nicht.«

Kenneth sagt: »Tja.« Er hält inne. »Entschuldigen Sie. Dann weide ich mal gehen.«

Shirley zögert kurz und ringt sich dann zu einem Entschluß durch. »Nein, warten Sie.« Sie macht eine rasche Geste. »Drehen Sie sich mal kurz um.«

Kenneth dreht sich um und stellt fest, daß er vor einem Spiegel steht, in dem er sich selbst und dahinter Shirley sehen kann. Sie kehrt ihm den Rücken zu und zieht sich das Unterkleid über den Kopf.

Er sagt: »M-Moment mal, Miss.«

Meine Mutter versuchte, die Aufmerksamkeit meines Vaters zu erlangen.

Eilig kippt Kenneth den drehbar aufgehängten Spiegel.

Shirley wendet sich zu ihm um und sagt: »Sie gefallen mir.« Sie hat das Unterkleid ausgezogen und ist dabei, den Verschluß ihres BHs zu öffnen.

Meine Mutter sagte: »Los. Wir gehen. Es ist schon viel zu spät.«

Aber Grandpa und mein Vater starrten mit weit aufgerissenen Augen auf die Leinwand, wo Shirley Eaton, den Rücken zur Kamera, ihren BH auszog, während Kenneth heroisch versuchte, nicht in den Spiegel zu sehen, der ihm einen kostbaren Blick auf ihren Körper gewährt hätte. Ich glaube, ich starrte sie ebenfalls an, und ich dachte, daß ich noch nie etwas so Schönes gesehen hatte, und von diesem Augenblick an sprach sie nicht mehr zu Kenneth, sondern zu mir, zu meinem neunjährigen Ich, denn ich war es jetzt, der sich verlaufen hatte, und, ja, ich war es, den ich da auf der Leinwand sah, allein mit der schönsten Frau der Welt, gefangen in diesem alten, finsteren Haus, in einer schrecklichen Unwetternacht, in dem schmuddeligen kleinen Kino, in meinem Schlafzimmer in jener Nacht und seitdem in meinen Träumen. Das war ich.

Shirley taucht hinter meinem Kopf auf. Sie trägt jetzt ein knielanges Nachthemd und sagt: »Sie dürfen sich wieder umdrehen.«

Meine Mutter stand auf, und die Frau hinter ihr sagte: »Du liebe Zeit, setzen Sie sich doch hin!«

Auf der Leinwand drehe ich mich um und sehe Shirley an. Ich sage: »Donnerwetter! Reizend!«

Shirley streicht sich verlegen das Haar aus der Stirn.

Meine Mutter packte mich an der Hand und zog mich hoch. Ich stieß ein Protestgeheul aus.

Die Frau hinter uns sagte: »Psst!«

Grandpa sagte: »Was hast du vor?«

Meine Mutter sagte: »Wir gehen, das hab ich vor. Und ihr ebenfalls, wenn ihr nicht nach Birmingham laufen wollt.«

»Aber der Film ist doch noch gar nicht zu Ende.«

Shirley und ich sitzen auf dem Doppelbett. Sie sagt: »Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen.«

Grandma sagte: »Also, dann los. Wir werden wohl auf dem Rückweg noch irgendwo was essen müssen.«

Auf der Leinwand sage ich: »Ach, ja?«

Im Zuschauerraum sagte ich: »Aber ich will hierbleiben und den Film sehen.«

»Das geht aber nicht.«

Mein Vater sagte: »Tja, sieht so aus, als hätten wir unseren Marschbefehl gekriegt.«

Grandpa sagte: »Ich bleibe hier. Mir gefällt der Film.«

Die Frau hinter uns sagte: »Ich gehe gleich zum Geschäftsführer.«

Shirley rückt näher an mich heran. Sie sagt: »Warum bleiben Sie nicht heute nacht hier? Ich möchte nicht gern allein sein. Wir könnten uns doch Gesellschaft leisten.«

Meine Mutter packte mich unter den Armen und hob mich von meinem Sitz, und zum zweitenmal an jenem Tag brach ich in Tränen aus, teils aus echtem Kummer, teils aber auch, weil das Ganze so demütigend war. Seit ich ganz klein war, hatte mich niemand mehr einfach hochgehoben. Meine Mutter schob sich an den anderen Leuten in unserer Reihe vorbei und trug mich die Treppe hinunter zum Ausgang.

Auf der Leinwand schien ich mir nicht sicher zu sein, was ich dazu sagen sollte. Ich murmelte etwas, doch in dem ganzen Durcheinander konnte ich kein Wort verstehen. Ich sah, daß Grandma und mein Vater uns durch den Seitengang folgten und daß Grandpa sich widerwillig erhob.

Als meine Mutter die Tür zu den kalten Betonstufen und der salzigen Luft aufstieß, sah ich noch einmal zurück und erhaschte einen letzten Blick auf die Leinwand. Ich gehe gerade hinaus, doch Shirley merkt das nicht, denn sie hat mir den Rücken zugekehrt und macht sich am Bett zu schaffen.

Sie sagt: »Ich werde es mir im ...« Sie dreht sich um und sieht, daß ich nicht mehr da bin. »... Sessel bequem machen.«

Die Tür schwang zu, und wir stolperten die Treppe hinunter. »Laß mich los! Laß mich los!« schrie ich, und als meine Mutter mich absetzte, wollte ich sofort die Stufen hinaufrennen, zurück ins Kino, doch mein Vater hielt mich fest und sagte: »Moment mal«, und da wußte ich, daß es vorbei war. Ich schlug mit Fäusten nach ihm und versuchte sogar, ihm das Gesicht zu zerkratzen. Mein Vater fluchte und gab mir zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben eine kräftige Ohrfeige. Danach waren wir alle sehr schweigsam.

Auf dem Heimweg, im Auto, tue ich, als würde ich schlafen, doch in Wirklichkeit sind meine Lider nicht ganz geschlossen, und ich kann sehen, wie das gelbliche Licht der Straßenlaternen über das Gesicht meiner Mutter gleitet. Licht, Schatten. Licht, Schatten.

Grandpa sagt: »Jetzt werden wir nie erfahren, wie es ausgegangen ist«, und Grandma sagt von hinten: »Ach, jetzt sei schon still«, und stößt ihn an die Schulter.

Ich weine nicht mehr. Ich schmolle nicht einmal mehr. Juri ist völlig vergessen, und an den Film, der mich vor wenigen Stunden noch so gefesselt hat, kann ich mich kaum noch erinnern. Das einzige, woran ich denken kann, ist die unheimliche Atmosphäre in Blackshaw Towers und die rätselhafte Schlafzimmerszene, in der diese schöne, diese wunderschöne Frau Kenneth fragt, ob er die Nacht mit ihr verbringen will, und er davonläuft, als sie ihm den Rücken kehrt.

Aber warum ist er davongelaufen? Aus Angst?

Ich sehe meine Mutter an und bin kurz davor, sie zu fragen, ob sie verstanden hat, warum Kenneth davongelaufen ist, anstatt die Nacht mit einer Frau zu verbringen, bei der er sich sicher und geborgen gefühlt hätte. Doch ich weiß, daß sie mir keine ehrliche Antwort geben würde. Sie würde sagen, daß es bloß ein dummer Film gewesen ist und daß es ein langer Tag war und daß ich schlafen und diesen dummen Film vergessen soll. Sie weiß nicht, daß ich ihn nie werde vergessen können. Und mit dieser insgeheimen Gewißheit lasse ich mich zurücksinken und stelle mich schlafend. Mein Kopf liegt auf ihrem Schoß, und meine Lider sind nur halb geschlossen, so daß ich sehen kann, wie das gelbliche Licht der Straßenlaternen über das Gesicht meiner Mutter gleitet. Licht, Schatten. Licht, Schatten. Licht, Schatten.

Allein mit Shirley

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