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»Es war das allererste Mal, dass wir in New York waren«, sagt McLaren, »wir kannten niemanden. Es war lachhaft, weil alles so spießig war. Jeder hatte ein Schlafzimmer im Hotel, in dem wir die Kleider zeigen sollten – und wir haben uns wirklich Mühe gegeben.« Das Trio nahm ein paar Zoots, einige Drapes mit und wegen der Atmosphäre 50er Jahre Platten und Fanfotos aus Let It Rock.

Um sich ins rechte Licht zu setzen, hatten sie ein paar einfarbige Handzettel gedruckt, die den Totenschädel und die gekreuzten Knochen von der Ladenfront und den Schriftzug »Kleidung von Let It Rock 430 King’s Road England« trug. Dann lehnten sie sich zurück und warteten. »Wir hatten diese ganzen Blusen mit Zigarettenbrandlöchern drin«, erinnert sich McLaren, »die Amerikaner konnten nicht verstehen, dass da diese Löcher in dem T-Shirt oder der Bluse waren. Das T-Shirt hatte künstliche Löcher, die umgedreht und festgenäht waren, so wildes Zeug in der Art. Wir haben keine einzige Bestellung bekommen.«

Die McAlpin-Show war eine chaotische Zusammenrottung von Hippies, die Weihrauch verkauften, Standbetreiber, die auf der Straße trommelten, fingerschnippende Gauner, die in die Dolly Wog Bar rein und wieder raus liefen. »Da habe ich Malcolm McLaren getroffen«, sagt Syl Sylvain. »Weil ich auch Kleider machte, bekam ich diese ganzen Einladungen. Wenn man damals etwas anders war, bekam man eine Boutique-Show. Er hatte einen kleinen Raum, in dem er seine Klamotten verkaufte: Wir kannten sie, weil wir schon bei unserem ersten London-Besuch bei Let It Rock waren. Ich habe immer noch eine der 40er Jahre-Satinkrawatten mit Schneegestöber. Johnny kaufte einen Drape in blau mit einem schwarzen Samtkragen. Wir liebten es, uns aufzudonnern. Hier in Amerika interessiert man sich einen Scheißdreck für Kleidung, aber in Europa sagt plötzlich jemand: ›Was zum Teufel sind das für irre Hosen?‹«

Sylvain war Gründungsmitglied der Gruppe, die im Sommer 1973 die heißeste Nummer New Yorks war. »Johnny Thunders, Billy Murcia und ich gründeten die New York Dolls auf der New Town High School in Queens«, erzählt er. Als Kleiderfanatiker und Anglophile trieben sich die drei in der Musik- und Modewelt Manhattans herum, Hedonisten im Teenageralter, die versuchten, Zutritt zu Max’s Kansas City zu erlangen. Anfang 1972 wurde die Kerngruppe mit dem Studienabbrecher Arthur Kane am Bass und dem Sänger David JoHansen gegründet, dessen Intelligenz, jaggerartige Erscheinung und hochentwickelter Sinn für alles Lächerliche, der Gruppe ironische Schärfe verlieh.

Wie der Name andeutet, hatten die New York Dolls vor, hochenergetischen, schlampigen Manhattan Rock’n’Roll zu spielen. Die Dolls, sagte JoHansen, waren »ein Spiegelbild ihres Publikums«, das sich in dem winzigen Oscar-Wilde-Zimmer im Mercer Arts Center mitten in Soho versammelte. Die Dolls teilten sich den Raum mit den Ausläufern der 60er Jahre Warhol-Szene, die der Treffpunkt für alle Drag Queens, Speed Freaks, jede Art von gesellschaftlichem Ausschuss war. »Wir spielten in Max’s Kansas City: Das war die Szene«, sagt Sylvain,

»Candy Darling, Jackie Curtis, Warhol-Stars hingen da in den Hinterzimmern rum.« Im Mercer Arts spielten die Dolls mit den Magic Tramps, deren Frontmann ein früherer Warhol-Superstar war, Eric Emerson, Darstellungskünstlern wie Alan Suicide oder Transen wie Wayne County.

Die Dolls schwammen instinktiv mit im Strom des Exzesses. Zu ihren Kostümen gehörten in der Regel Make-up, hohe Absätze und Frauenkleider aus dem Secondhand-Laden. Arthur Kane war am meisten angetan von Frauenkleidung, trug manchmal ein Tutu, während Sylvain als erster die Spandexmode einführte, ein billiges, glänzendes Material, das, wenn man es als Hose trug, alles zeigte. »Die Tatsache, dass die Dolls Lippenstift trugen, deutete darauf hin, dass es Homosexuelle waren«, meint Bob Gruen, »waren sie aber nicht. Jemand fragte JoHansen, ob er bisexuell sei und er antwortete, ›Nein Mann, ich bin prosexuell, ich probiere alles aus‹. Das war ihre Einstellung, aber der eigentliche Grund hinter der sanften Pose und dem Make-up war, dass die jungen, schönen Mädchen drauf standen.«

Die Dolls mischten die musikalischen Karten neu, mit denen sie aufgewachsen waren: Rock’n’Roll, der frühe 60er Girl-Group-Sound, die Rolling Stones und die Beatles. Sie lernten in der Öffentlichkeit und prahlten damit. Das machte sie unberechenbar, aber ihre Unbekümmertheit ob ihres mangelnden musikalischen Könnens bezog das Publikum mit ein und bedeutete, dass es mit ihnen wachsen konnte. Obwohl es eine Distanz schaffende Ironie gab, war das nicht Camp: Die Dolls transzendierten abscheulich schlechten Geschmack mit ihrer Begeisterung und der Art, in der ihre Musik perfekt das wiederspiegelte, was sie zu sagen hatten.

Neben JoHansens burleskem Grinsen, verlieh Johnny Thunders’ leierndes Brummen, ähnlich wie John Cales Bratsche bei Velvet Underground, dem ganzen eine schräge, harmonische Instabilität – man wusste nie, wann sie explodieren würden. Unter diesem Beinahe-Chaos lag Arthur Kanes Bass, der zum Beat bummerte und dabei mit einem Minimum an Tönen auskam. Die Spannung zwischen beiden war umwerfend. Die Dolls sangen über U-Bahnen und genau so klangen sie: wie das Kreischen des IRT.

Mehr als Alice Cooper machten sie Hard Rock für eine neue, nihilistische Generation, die, in Dave Marshs Worten, »aufwuchs, als die Wirtschaft eher zurückging als expandierte, als die Unschuld der 60er Jahre im Zynismus der 70er Jahre erstarrte.« »Wir wollen wie zu Tode gelangweilte 16jährige aussehen«, erklärte David JoHansen dem Rolling Stone im Herbst 1972. Die frühen Songtitel und Texte der New York Dolls lasen sich wie ein Manifest dieser neuen Generation von Frankensteinmonstern, die die Ausschweifungen der 60er Jahre gierig verschlungen hatten, aber denen der Idealismus fehlte, der sie initiiert hatte.

Ursprünglich hatten sich die Dinge für die Dolls sehr schnell entwickelt. Sechs Monate nach ihrem ersten Auftritt hatten sie ein professionelles Managementteam: die Agenten Steve Leber und David Krebs und den altgedienten Marty Thau, der Kaugummi-Hits wie »Yummy Yummy Yummy« von Ohio Express groß gemacht hatte. Aber die New York Dolls waren das Ergebnis eines sehr spezifischen Milieus, daher fiel es ihnen in einer konservativen Musikindustrie schwer, voranzukommen, weil diese gerade erst begonnen hatte, sich am »Rock für Erwachsene« zu orientieren.

Ihr Image war wenig hilfreich: »Ich erinnere mich, als Clive Davis, der Präsident von CBS Records, Lisa Robinson mitteilte, ›Sag Bob Gruen, dass man sich nicht mit den New York Dolls brüsten sollte, wenn man im Musikgeschäft vorankommen will.‹ Das war, als hätte man öffentlich zugegeben, dass man schwule Freunde hat. Im Mainstream war das nicht beliebt.«

Bei ihrem ersten Besuch im Vereinigten Königreich im vorangegangenen Herbst war der Schlagzeuger Billy Murcia unter ungeklärten Umständen im Badezimmer gestorben. »Sie waren stoned«, sagt Bob Gruen, »aber zu dieser Zeit schien das nicht so schlimm zu sein: Alle waren stoned. Um in der Band als cool zu gelten, wurde von einem erwartet, dass man betrunken oder auf Drogen war.«

»Nach Billys Tod wurden wir zu einem riesigen Erfolg«, sagt Sylvain, »es brachte uns eine Menge Publicity. Wir lebten in einem Film: Jeder wollte ihn sehen.« Zu dieser Zeit, als ihnen das Let It Rock-Flugblatt in die Hände fiel, befanden sich die Dolls in einem Hoch: Nach monatelangen Verhandlungen hatte sie Marty Thau endlich bei Mercury Records unter Vertrag gebracht, wo sie rasch ein Album aufnahmen. Die Platte enthielt leicht verwässerte Versionen ihrer Musik und besaß vielleicht gerade deshalb das Potential für landesweite Verkäufe. Die Dolls waren das heißeste Ding in New York: Ihre Zustimmung und Förderung verlieh McLaren, Westwood und Goldstein den Schlüssel zur Stadt.

Unter der Ägide der Dolls zog das Trio ins Chelsea Hotel, das Berühmtheiten wie Alice Cooper und Michael J. Pollard besuchten, um sich diese merkwürdige Kleidung anzusehen, und Let It Rock wurde sogar in Andy Warhols Interview-Büros am Union Square West 33 eingelassen: Bob Colacello interviewte sie, während Warhol filmte. Es gab endlose Parties: im McAlpin; im Loft der Dolls, wo Goldstein eine junge Dichterin namens Patti Smith traf; oder im Chelsea, was von Eric Emerson gefilmt wurde – die Dolls trugen Zoots, während unaufhörlich der Soundtrack zum Film »The Harder They Come« dudelte.

Für McLaren war New York wie ein Sprung in die Gegenwart. Die Stadt schien grenzenlos, bot eine ganze Reihe von Freiheiten – Freiheit von Klassenunterschieden, von Stagnation, vom Puritanismus –, die in England wie weit entfernte Träume erschienen. Mit den New York Dolls befand sich McLaren in der Welt der Prominenz – und er wollte mehr. Die Gruppe selbst war beeindruckend. Sie waren von einem ähnlichen Punkt aus gestartet – Mode und die Musik der fünfziger Jahre – und hatten es geschafft, die ursprüngliche Wildheit des Teenage Rock’n’Roll so zu erneuern, dass er in die 70er Jahre passte. Sie hatten Haltung, einen Stil, besaßen Medienpräsenz, sie lebten, was sie sangen, und sie gaben ihm das Gefühl, dass er dazu gehörte.

Als er im September nach England zurückkehrte, erschien ihm London statisch und provinziell, eine niederschmetternde Umkehrung der Zukunft, die er in New York erahnt hatte. Alles Amerikanische und alle Amerikaner waren wie Glücksbringer für ihn. Wieder begann er, am Inhalt der King’s Road 430 herumzubasteln, diesmal allerdings mit einer neuen Idee, die aktuell und nicht nostalgisch war.

Die New York Dolls schienen den Schlüssel dafür zu besitzen. Als sie im November 1973 nach Europa kamen, klebte McLaren an ihnen, und dieses Mal übten sie enorme Wirkung auf ihn aus. Am 26. und 27. November gaben sie Konzerte in Biba’s Rainbow Room; einen Tag später hatten sie einen denkwürdigen Auftritt im »Old Grey Whistle Test«, einer »seriösen« Rock’n’Roll-Show auf BBC 2, in der sie sich über die steife Atmosphäre der Sendung lustig machten und damit eine elektrisierende Wirkung ausübten.

»Das erste Mal sah ich Malcolm, als die New York Dolls bei Biba’s gespielt haben«, erzählt Nick Kent, damals der Nestor der englischen Musikjournalisten: »Es ging ein bisschen in die Hose, weil er nicht auf der Liste stand. Später ist er reingekommen. Ich hatte Vivienne schon ein paar Mal gesehen, sie war offensichtlich etwas ganz Besonderes. Malcolm war völlig verrückt nach der Band und begleitete sie auf der ganzen Tour – er saß die meiste Zeit mit JoHansen rum. Es war als wäre er erleuchtet worden.«

Kent erklärte die Anziehungskraft der Gruppe im New Musical Express vom 26. Januar 1974: »Kaum fünf Minuten aus dem Flugzeug raus, und Johnny Thunders kotzt. Bl-a-a-a-a-a-gh! Gott weiß, wieviele Fotografen da sind: Paris Match, Stern – die ganze europäische Rock-presse und die nationale dazu. Die Leute von der Plattenfirma haben eine kleine Begrüßung vorbereitet. Bl-a-a-a-a-gh! David JoHansen, der immer für ein wenig Humor zu haben ist, legt eine grandiose Parodie eines deutschen Offiziers hin: ›Vee did not co-operate viv de Nazees.‹ Die Handlanger der Massenmedien sehen ziemlich nervös aus. Bl-a-a-a-g-g-hh!«

Die Dolls hatten mit einem Drehbuch begonnen und jetzt – bei der Verwechslung zwischen Person und Rolle, wie sie im Pop an der Tagesordnung ist – lebten sie den Film in der Wirklichkeit. Der Spaß wurde, als Drogen und Müdigkeit überhand nahmen, durch Anstößigkeit ersetzt. In Paris zerschlug Johnny Thunders eine Gitarre auf dem Kopf eines spuckenden Fans, und in Deutschland nahm er an folgendem Wortwechsel teil:

Presse: Wie gefällt es Ihnen in Deutschland?

Johnny: Wissen Sie, wir ... wir wollen ein Wohltätigkeitskonzert in Belsen oder so geben.

Presse: Für alle Juden, die dort im Lager gestorben sind?

Johnny: Neeee ... für die ganzen Nazis, die in Scheiß-Südamerika auf Bäumen sitzen.

Diejenigen, die das Es des Pop aufspüren wollten, war die Grundeinstellung im Punk nicht genug: Das war unzählige Male zuvor gemacht worden. Ein kräftiger Schock war nötig, um eine Reaktion der abgestumpften Reflexe hervorzurufen. Die Dolls trugen nicht nur ihre aufregende Unfähigkeit zur Schau, sondern verwandten auch gelegentlich Hakenkreuze. »Auf dem Gymnasium bekommt man ein zerfleddertes Buch, und das erste, was man da hineinmalt ist ein Hakenkreuz und ein Totenschädel mit Knochenkreuz«, sagte JoHansen 1973. »Man kratzt ein Hakenkreuz ins Pult. Du weißt nicht, was Faschismus ist. Das ist überhaupt nicht antijüdisch. Mann, der Scheiß ist einem egal. Wenn man ausdrücken will, wie böse man ist, dann macht man das so.«

Der Film »Cabaret« war äußerst populär, und das Hakenkreuz war einfach etwas, was der himmlischen Dekadenz zusätzlichen Reiz verlieh. Die New York Dolls waren viel zu launisch, als dass man Stimmigkeit von ihnen hätte erwarten können, deshalb war die ein oder andere Hakenkreuzbinde auf Thunders Arm einfach eine gute Metapher für die Absicht, Anstoß zu erregen. Aber die Ideen zogen in die Köpfe derjenigen ein, die ihnen nahestanden: »Viva Rock’n’Roll-Faschismus«, schrieb Nick Kent Ende jenes Jahres, während McLaren es einfach nur auf die Checkliste der Komponenten setzte, die die Dolls so großartig machten.

Die Tourneen mit den Dolls ließen McLaren erkennen, dass er nicht so alleine war, wie er geglaubt hatte. Viele verschiedene Leute hatten gleichzeitig gute Ideen, und was er in London gesucht hatte, war in Paris bereits angestoßen worden. »1973«, erzählte Marc Zermati Chris Salewicz in The Pretenders, »nannten wir uns Punks. Wir mochten diese präpsychedelischen Gruppen wie die Shadows of Night sehr.

McLaren kam in meinen Laden, als er da war, um die New York Dolls zu sehen. Die Szene in Paris war damals echt in Bewegung geraten. Es passierte eine ganze Menge.«

Zermati, ein sehr engagierter Mann, führte im Viertel Les Halles in Paris einen Laden, The Open Market, wo er 60er Jahre Punk unter dem Titel »Nuggets« verkaufte. Dieser Sampler von Lenny Kaye wurde in England nur vereinzelt wahrgenommen, aber in Paris löste er einen Kult aus, dessen Hohepriester Yves Adrian war, Journalist beim französischen Monatsmagazin Rock and Folk. Zermati gründete außerdem ein Label, Skydog Records, dessen erste Veröffentlichung eine Live-EP der Flamin’ Groovies war, eine der wenigen prägnanten Rock’n’Roll-Gruppen, die es damals gab. Ebenfalls auf dieser Fahrt traf McLaren Charles Castebaljac, einen jungen Designer, dem die Ähnlichkeit ihrer Ideen aufgefallen war.

Anfang 1974 kehrte McLaren nach London zurück und hatte einiges aufzuholen. Er bearbeitete Nick Kent: »Ich hatte meine erste Unterredung mit ihm im Laden«, erinnert sich Kent. »Wir sprachen über die Ronettes. Ich ging ziemlich oft dort vorbei: Granny Takes A Trip, wo sich Keith Richard damals sein Heroin besorgte, war nur die Straße runter. Ich hing da rum mit ein paar Amerikanern. Gene Krell und Marty Breslau. Der Spanier Tony Sanchez, der später Up and Down with the Rolling Stones schrieb, war immer da. Eines Tages, wir saßen rum und redeten, kam Malcolm rein: Ich dachte ›Mein Gott, dieser Typ ist wirklich in einem schlimmen Zustand‹. Er trug ein Tweed-Jackett, Kunstlederhosen, kleine Schuhe und lockiges Haar. Seine Krawatte war wirklich sehr nervös. Ungefähr zur gleichen Zeit schrieb ich einen Artikel über die Dolls mit dem Titel ›Auf Wiedersehen Androgynität‹, in dem ich behauptete, dass Glam-Rock gescheitert sei, weil jeder Idiot mit einem Bart Make-up auflegte, und dass man das wieder loswerden müsste. Die Leute sollten wieder über vorzeitige Ejakulationen singen, über Dinge, die einem Teenager-Publikum etwas bedeuteten, statt so zu tun, als seien sie schwul, obwohl sie es nicht sind. Bowie wurde seicht, Bryan Ferry war auf dem Gatsby-Trip, und ich dachte, ›Das war’s, es ist vorbei.‹ Es hätte ein paar interessante Einsichten bringen können, aber unter den Bands waren die Dolls die einzigen Retter, die übrig blieben. Malcolm liebte den Artikel, und wir kamen uns näher. Er wollte alles wissen, was zwischen 1963 und 1974 passiert war. Für ihn war Billy Fury der Archetypus. Malcolm war verrückt nach Larry Parnes. Er betete ihn an. Er behauptete, er habe die Rolling Stones in Eel Pie gesehen und dann aufgehört, sich dafür zu interessieren. Also erzählte ich ihm von den Doors und Jimi Hendrix.Er fing an, ständig auf Konzerte und in Clubs zu gehen, und stellte Nachforschungen an.«


Malcolm McLaren vor World's End, März 1974 (© Pennie Smith)

Das Hauptproblem, die Langeweile, blieb aber bestehen. McLaren suchte die Stadtlandschaft nach Vorzeichen ab. »Überall das gleiche, ob in NY oder hier«, kritzelte er Frühjahr 1974 in ein Geschäftsbuch: »In NY stoßen mehr Leute öfter aufeinander. London – Leute versuchen, an einem Ort viele andere Leute zu treffen. Aber wenn es nur ein paar gibt, dann haben sie das Gefühl, sich zu verschwenden. Leute spüren ihre eigenen Möglichkeiten durch diffuse Aufregung. Sie wollen, aber sie nutzen sie nicht. Sie halten nur die Heiterkeit wach, bis sie müde werden.« Wie lässt sich die Büchse der Pandora öffnen?

Beflügelt von dem, was er in Paris und in New York gesehen hatte, wollte McLaren Nummer 430 rasch in die Gegenwart versetzen. Der Laden hatte bereits den toten Punkt erreicht, an den die meisten Secondhand-Läden gelangen: Was passiert, wenn der gute Bestand aufgebraucht ist? »Ich wollte einfach etwas Neues, ich wusste nicht was, aber die Vorstellung von irgendeinem Retrokram konnte ich nicht mehr ertragen. Schwarz schien die beste Farbe zu sein: Wo schwarz war, hatten wir die aufregendsten Ideen.«

»Ich beschloss einen Laden zu eröffnen, der strikt auf schwarz und eigene Entwürfe ausgerichtet war, der diese ganze Sex-Kleidung anbieten würde, die es normalerweise nur als Fetisch-Klamotten gibt, die wir aber als Straßenkleidung verkaufen würden.« McLaren und Westwood nahmen Kontakt zu Speziallieferanten von Gummi und Lederkleidung auf: John Sutcliffe bei Atomage und London Leatherman in Battersea.

Um in das neue Konzept zu passen, musste 430 komplett auf Vordermann gebracht werden. McLaren und Westwood schlossen Too Fast to live, Too young to Die im April 1974. Die Renovierungsarbeiten nahmen mehrere Monate in Anspruch. Ein Maurer wurde bestellt, aber er konnte die Aufgaben nicht erfüllen und ließ den Laden unter einem Haufen Schutt zurück. »Diese ganzen Teddy Boys haben wie wahnsinnig an die Tür geklopft, und wir mussten Schuhe aus Kisten heraus verkaufen«, sagt McLaren, »überall lag Staub und Scheiße, der Laden war in tausend kleine Splitter zerschlagen.« McLaren und Westwood mussten alles selbst renovieren.

McLaren und Westwood waren ganz besessen von der Vorstellung, etwas Weiches als Wandverkleidung zu nehmen: Gummi war zu teuer, um damit den ganzen Laden auszukleiden, aber dann fanden sie ein dünnes, schwammartiges Material auf der Fahrt zur Pentonville Rubber Company. McLaren suchte ein Grau aus und rollte es wie eine Tapete. Es war durchsetzt mit kleinen Knäueln, die wie Nähte aussahen. Dieses Design wurde auch an der Decke angebracht, so dass das Innere des Ladens wie eine Gebärmutter aussah.

»Nachdem das erledigt war, wurde mir klar, dass noch etwas fehlte«, erinnert sich McLaren. »Etwas Irres und straßenmäßiges musste her. Ich besorgte ein paar Spritzpistolen und suchte Sätze aus Fetischbüchern heraus – wie Alex Trocchis School for Wives –, das schließlich auf T-Shirts gedruckt wurde.« Graffiti wurden an den Wänden angebracht: Sätze wie »Does passion end in fashion?« oder Zitate der King-Mob-Heldin Valerie Solanas. Der Sturm der Verweise wurde durch ein Pro-Situ-Epigramm gekrönt: »Es gilt jetzt die Vorstädte so schnell wie möglich zu verlassen.«

Als nächstes war das Gesicht des Ladens dran. Auf dem Fenstersturz wurde ein Slogan von Rousseau gesprüht: »Kunstfertigkeit braucht Kleider, aber die Wahrheit liebt es, nackt zu erscheinen.« Die Ausstellungsflächen in den Fenstern links und rechts der Tür wurden ebenfalls mit dem Material aus Schwamm verkleidet, diesmal in einer hautähnlichen, blassen Aprikosenfarbe. In ein Fenster stellte McLaren einen alten farbverspritzten Holzstuhl, über dessen Lehne er eine Let It Rock-Lederjacke hängte. Der Name stand noch nicht fest. Im Mai spielte McLaren noch mit einem Zitat aus einem Pornoheft: »Die schmutzige Stripperin, die ihre UNTERWÄSCHE auf dem Geländer hängenließ, um trampen zu gehen, sagte, du GLAUBST doch nicht, dass ich mich all die Jahre nur für GELD ausgezogen habe?«

Im anderen Fenster waren außergewöhnliche Zeichnungen zu sehen, die auf die existentiellen Wurzeln des Nachkriegsutopismus zurückgriffen: Unterschrieben mit Tabou (nach dem Club), bildeten sie das Leben an der Rive Gauche auf pikaresken Vignetten ab. Die Themen reichten von der Trunkenheit der Beatniks bis zu schicker Verslummung. McLaren behauptet, er habe sie einem Mann abgekauft, der einfach von der Straße hereinkam: »So war die King’s Road damals.« Die Tabou-Zeichnungen zeigen die Existentialisten als Lettristen, mit Schriftzügen auf der Kleidung. Die Slogans, die die Wände schmückten, tauchten bald auch auf McLarens und Westwoods neuer Kleidung auf.

Die griffigen Oberflächen im Laden passten zu den neuen Klamotten, die den Körper betonten. Nach zwei Jahren Schneiderei fand Vivienne zu ihrem eigenen Stil, verwandelte ihre Unerfahrenheit in einen Vorteil. Eines Tages hantierte sie mit zwei einfachen quadratischen Stücken Stoff und versuchte, ein T-Shirt mit Ärmeln zu machen. Dann dachte sie: »Wieso soll ich mich mit den Ärmeln plagen?« und nähte die beiden Quadrate grob zusammen, die Nähte so stark wie möglich hervorgehoben, ließ Löcher für Kopf und Arme. Es passte sich dem Torso auf androgyne Weise an. Der schwere, ins pinkfarbene gehende, filzartige Stoff war ein ausgezeichneter Untergrund für aufgedruckte Slogans.

Die T-Shirts wurden das wichtigste Modeerzeugnis des neuen Ladens, die strenge Fetischkleidung aus Gummi, Leder und Vinyl war die kommerzielle Grundlage. Sexuell Abwegiges wurde erschlossen: McLaren verhielt sich wie ein klassischer Unternehmer, versuchte jede Nachfrage zu erfüllen. An den Wänden und Balken aufgereiht hingen aufblasbare Gummimasken, Peitschen, Ketten, spitzenartige Gummipetticoats und Stiefel mit phantastischen, 20 cm hohen Absätzen, die auf Stecknadelbreite heruntergefeilt waren.

»Das Tolle daran war«, meint Chrissie Hynde von den Pretenders, »dass sie alles machten, was eine Antithese zur Mode darstellte. Es hat mir wirklich gefallen, weil es durchsetzt war mit diesen ganzen jungfräulichen Eigenschaften, dieser Aufmerksamkeit fürs Detail. Ich fing an, in diesem Zeug herumzulaufen, im Gummirock, mit Netzstrümpfen und diesen hochhackigen Schuhen: Es war der erste Laden, den ich je gesehen habe, bei dem ich dachte ›Ich kann diesen Kram tragen und muss nie wieder in einen anderen Laden gehen.‹ Es war sehr hip und gut durchdacht.«

Nach ihrer Ankunft in England 1973 führte Hyndes Stärke und ihre Hingabe an den Hard-Living-Rockmythos sie rasch zu Nick Kent und durch ihn zu Malcolm und Vivienne. »Ich begann für den NME zu schreiben«, sagt sie. »Dann wurde ich ›Chrissie Hynde vom NME‹, was mir nicht gefiel. Die Szene war 1974 so schlecht, dass es nichts gab, worüber man schreiben konnte. Der Wendepunkt für mich beim NME war, als sie eines Tages zu mir sagten: ›Wir wollen, dass du nochmal einen Blick auf Velvet Underground wirfst‹, und ich habe drüber nachgedacht. Warum denn immer zurückblicken? Wenn man in diesem Laden arbeitete, schien so viel mehr zu passieren, als wenn man in die Vergangenheit zurückblickte, also bin ich gegangen. Den Job hatte ich nicht lange. Eines Tages, als wir schlossen – Malcolm war auch da – kam Nick Kent in den Laden. Er dachte, ich wäre mit jemand anderem zusammen, also zog er den Gürtel aus den Schlaufen, auf dem große Münzen befestigt waren, wirklich billig und eklig, und begann, mich damit zu peitschen. Ich fiel zu Boden, rannte in den Umkleideraum. Malcolm versteckte sich unter dem Tresen. Ich habe immer noch eine winzige Narbe. Am nächsten Tag sagte Malcolm: ›Es gerät zuviel durcheinander, wenn du hier arbeitest.‹ Also ging ich ein paar Tage später zu zwei Plattenfirmen, besorgte mir ungefähr vierzig Platten, verkaufte sie und besorgte mir ein Ticket nach Paris.«

Mit ihrem radikalen Neuentwurf hatten McLaren und Westwood es darauf angelegt, endgültig mit den Teds zu brechen. Einige wenige Let It Rock-Gegenstände blieben, wie die Schuhe zum Beispiel, die Satinkrawatten und die Jerry-Lee-Lewis-T-Shirts. Aber die Absicht war klar, und die schroffe Abfuhr brachte ihnen die unüberwindliche Feindschaft einiger Hardcore-Teds ein.

Innerhalb von zwei Jahren hatten McLaren und Westwood durch ihren Handel und ihre Reisen gelernt, wie Subkulturen funktionieren, sowohl kulturell wie kommerziell: dass Dazugehörigkeit keine Nebensache war, sondern einen rasenden, hingebungsvollen Lebensstil einschloss, dass althergebrachte Konventionen missachtet wurden, gleichzeitig aber ein strenger Verhaltenskodex befolgt werden musste. 1973 hatten sie gesehen, wie diese Subkulturen mit Medien, Musik und der Modeindustrie interagierten. Obwohl sie es nicht analysierten, hatten beide das Gefühl, dass es an der Zeit sei, damit anzufangen, diese Erfahrung mit ihren politischen Intentionen zu koppeln.

An diesem Wendepunkt gab McLaren sein erstes längeres Interview. Im April 1974 schrieb Nick Kent im New Musical Express einen Artikel über die Schnittstelle zwischen Pop und Mode. Er hatte den Titel »The Politics of Flash« und handelte von den Modemachern jener Tage. Ein Bild von McLaren, das ihn mit hohen Absätzen, Nietenhosen und Mohairpullover zeigt, war unterschrieben mit: »Kleidet die New York Dolls und andere ein.« Kent spricht eine sehr andere, sehr neue Sprache: »McLaren betrachtet das Ganze als künstlerische Aussage. Kleidung wird immer transsexueller und ... Malcolm versucht, das Interesse des bekannten Philosophen R.D. Laing dafür zu wecken, Anzüge für ihn zu entwerfen.«

Im Mai 1974 schrieb McLaren in einem Brief über die neuen Entwürfe für den Laden und erwähnt, dass er noch immer »verdammt noch mal versucht, den Anzug zu verkaufen. Bis jetzt kein Glück. Hoffentlich bald. Weil ich nach New York gehe, wenn ich ihn verkauft habe. Dieses Mal will ich für längere Zeit kommen.« Der Brief endet mit seinem neuesten Einfall: »Ich habe Texte für ein paar Songs geschrieben, einer heißt ›Too fast to Live, too Young to Die.‹ Ich habe die Vorstellung von einem Sänger, der aussieht wie Hitler, diese Gesten, Armbinden etc., und der auf inzestuöse Weise über seine Mutti spricht.«


Steve Jones im Furniture Cave, Anfang 1974, (mit freundlicher Genehmigung Warwick Nightingale)

England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe]

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