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Im Herbst 1974 steckten die New York Dolls in Schwierigkeiten. Ihr Drehbuch lief auf einen Schluss hinaus, der so vorhersehbar war wie das Ende jener Trash Filme, die die Dolls liebten. »Too much too soon« war der Titel ihres zweiten Albums, einer Biografie von Diana Barrymore entlehnt. Wie damals alle wussten, war der Titel ausgezeichnet auf die Dolls selbst anwendbar. »Johnny war auf Heroin«, sagt Sylvain, »und Jerry hatte Hepatitis vom Saufen.«

Die Dolls hatten es bis in die Teenager Presse geschafft, aber in Amerika verkaufen sich Platten weder wegen der Presse noch weil sie Kultstatus besitzen: Ohne Verkäufe und ohne Rückhalt durch die Plattenfirma begannen die geschäftlichen Probleme. Wie in jeder scheiternden Partnerschaft, bildeten sich Fraktionen. Johnny Thunders und Jerry Nolan waren Heroinbrüder, was alle anderen ausschloss. Arthur Kane war ein so schlimmer Alkoholiker, dass er Ende 1974 ersetzt wurde. Damit blieb die angespannte Beziehung zwischen Sylvain und JoHansen: Keiner der beiden konnte über die Richtung der Gruppe entscheiden. Die Manager Leber und Krebs stellten eine Japantour und neue Vertragsverhandlungen mit Mercury in Aussicht, eine Entscheidung, die im August 1975 anstehen sollte. Unfähig sich auf eine der beiden Seiten zu schlagen, befanden sich die Dolls in einem Zustand größter Anspannung.

»Plötzlich tauchte Malcolm in New York auf«, sagt Sylvain. »Wir hatten ein Treffen: Marty Thau, ich, David und Malcolm berieten, was mit der Band passieren sollte. Marty war am Boden zerstört, aber Malcolm war enthusiastisch. Der Typ hatte eine Menge Energie. Wir brachten Arthur in eine Entzugsanstalt in der Stadt. Malcolm investierte an die 800 Dollar. Dann rief er diesen Typen vom Hippodrome an, der uns hasste, aber Malcolm überzeugte ihn. Er ist wie ein Prediger: Er bringt dich zum Glauben, und dann siehst du das Licht. Das war seine Zauberkunst.«

McLarens Beziehung zur Gruppe wurde nie formalisiert. Seine wichtigste Handlung bestand darin, die Fassade der Gruppe zu renovieren. Der Glam ging, Kommunismus kam. »Es begann mit einer roten Hose«, sagt Sylvain, »wir waren verrückt nach Klamotten. Das einzige, worüber sich Malcolm und David einigten war die Hammer-und-Sichel-Flagge. Cyrinda Fox und David fertigten die Flagge in ihrem Apartment zusammen mit Malcolm an, und das war der Punkt, an dem Amerika die Dolls aufgab.«

Die Dolls hatten jetzt eine vollkommen neue Verpackung: Eine Uniform, die Vivienne Westwood in England entworfen hatte. Rote Vinyl-Hosen, rote T-Shirts, hochhackige Sexstiefel vor einem Hammer-und-Sichel-Hintergrund und ein Manifest. »Für mich bedeutete das: ›Let’s eat the rich‹«, sagt Sylvain, aber McLaren hatte sein eigenes Konzept und verwendete die Sprache der chinesischen Revolution auf den Plakaten, die die Wohnung in Thurleigh Court schmückten:

»Was ist die Politik der Langeweile? Lieber rot als tot!«

Das erste Dolls-Konzert in »Lackleder« fand am 28. Februar statt. Das Songmaterial war gründlich überholt worden, aber die New Yorker Rockpresse war gegen die Dolls und besonders gegen McLaren.

»Alles baute sich um die Zeitschrift Rock Scene auf«, sagt Nick Kent, »und um Lisa Robinson. Weil es dort keine Wochenpresse wie in London gab, maßen sich Gruppen daran. Es war das erste Mal, dass mir klar wurde, wie sehr Bands die Medien als Spiegel brauchen. Nach der Show kam Lisa Robinson hinter die Bühne. Sie hielt Malcolm für wahnsinnnig. Sie trat an JoHansen heran: ›Was soll diese Kommunistenscheiße?‹ Und der alte Schauspieler, der er ist, sagt: ›Is nix Ernstes, weiß du.‹ Malcolm sah ihn an und dachte: ›Du Arschloch‹, weil er es tatsächlich ernst meinte.


The new generation, August 1974 (Im Besitz von Roberta Bayley)

Lenny Kaye ging rüber zu Thunders und stellte ihm dieselbe Frage. Sehr zu Malcolms Freude sagte Thunders: ›Was geht dich das an?‹ Malcolm erzählte diese Geschichte immer und immer wieder, für ihn bewies sie Haltung.«

»Eine Woche nach der Show fuhren sie nach Florida«, sagt Bob Gruen. »Jerrys Mutter besaß ein Motel, und sie spielten dort. Sie trennten sich, weil Jerry und Johnny in ein Flugzeug nach New York stiegen, um Dope zu beschaffen, und David haute ab. Syl und Malcolm blieb der Leihwagen. Also machten sie sich nach New Orleans auf, wo sie Musiker für eine neue Band finden wollten. Um das Land zu durchqueren, kauften sie Uniformen, damit sie aussahen wie Kerle aus einem Armeestützpunkt und man sie nicht als Sonderlinge verhaften würde.« Drei Jahre sind eine lange Zeit in New York, und die Dolls waren durch eine neue und härtere Generation von Gruppen rund um einen Club in der Innenstadt, dem CBGB’s, verdrängt worden. Die ersten, die diesen ungewöhnlichen Flecken entdeckten, waren Television, gegründet von Richard Meyers und Tom Miller, zwei Schulabbrecher aus einem Internat in Virginia. »Tom und ich hassten uns von Anfang an, aber es gab eine gemeinsame Basis, die wir mit niemandem sonst teilten«, schrieb Meyers später. »Die Leute, für deren Arbeit ich mich interessierte, und die verdrehte Ästhetik des französischen 19. Jahrhunderts waren keine populäre Ausgangsbasis für das Schreiben in jener Zeit. Als Kind denkt man, man weiß alles. Ich hatte das Gefühl, ich würde die Wahrheit über die menschliche Existenz kennen, über die alle anderen getäuscht worden waren. Mit einer Rock’n’Roll-Band, dachte ich, ließen sich diese Leute am besten erreichen. Als Teenager hatte man das Gefühl, das Radio sei eine Art geheimes Netzwerk. Songs waren die geheimen Nachrichten für Teenager, und man kam an Nachrichten heran, indem man Radio hörte. Wir betrachteten uns selbst als Slumkinder mit großen Visionen. Ich versuchte, die Konventionen zu durchschauen, die Lügen der Massenkultur und diese Vorstellung vom ›Rockstar als Idol‹ zu unterlaufen, und wollte Kids, die sich mit geschärftem Blick über das unterhielten, was sie sahen.«

Meyers und Miller veränderten in einer Hommage ihre Namen: Aus Richard wurde Hell, und Tom wurde Verlaine. Mit dem Schlagzeuger Billy Ficca nahmen sie zwei Titel auf: »That’s All I Know Right Now« und »Love Comes in Spurts« – schrille Songs über die Verweigerungshaltung von Teenagern, gespielt mit Gitarren, die wie Feuerwehrsirenen jaulten. Hell hatte außerdem an einer visuellen Verpackung gearbeitet, die zum zerklüfteten Musikstil passte: große 50er Jahre-Sonnenbrillen, Lederjacken, zerrissene T-Shirts und kurzes Ragamuffin-Haar.

Es war eine strenge Ästhetik, die eine Reihe von Botschaften transportierte: die existentielle Freiheit des fünfziger Jahre Beat, die unerhörte, wunderschöne Selbstzerstörung des Poète Maudit, der gestochen scharfe 60er Jahre Mod. Es brachte Gefahr und Weigerung zum Ausdruck, sprach ebenso wie das zerrissene T-Shirt von Sexualität und Gewalt. Wenn sich überhaupt etwas als Ursprung des späteren Punkstils ausmachen lässt, dann das.

Das denkt natürlich auch Richard Hell. Heute hat er von der ganzen Sache die Nase voll. Oder besser, an dem Tag, an dem ich ihn besuchte, hatte er die Nase voll. Sein Look war um die Welt gegangen, aber ihm ist davon wenig geblieben. Sein Poète Maudit-Skript hat ihn überholt. Nach einem fruchtlosen Jahrzehnt versucht er, im Hier und Jetzt zu leben, aber alles, wofür sich die Leute interessieren, ist eine Vergangenheit, die ihn daran erinnert, wieviel er verloren hat. Hell registriert nicht ohne Bitterkeit, dass die Sex Pistols das erreicht haben, was er erreichen wollte. Im März 1975 war England nirgendwo, in New York gab es im CBGB’s bereits eine blühende Kultur.

Hilly Kristals Bar auf der Bowery lag im Zentrum der »Bum Zone« – in den oberen Stockwerken des Clubs befand sich eine billige Absteige, The Palace. 1974 spielten Television jeden Sonntagabend dort. Ein Hauptproblem für Musiker besteht darin, Auftrittsmöglichkeiten zu finden, um vor Publikum lernen zu können. Nachdem Kristal im Dezember eine »Rock only«-Politik eingeführt hatte, wurde das CBGB’s zum Versuchsfeld für andere neue Gruppen wie die Ramones.

»I don’t care!« sangen die Ramones: »Don’t it make you feel sick?« Gegründet wurde die Gruppe von vier Vorstädtern aus Forest Hill, die alle den Nachnamen »Ramone« als Verneigung vor Paul McCartneys erstem Pseudonym annahmen. Die Ramones kannten die Pop-Geschichte, aber sie stellten sich dumm. »1-2-3-4!« schrie der Bassist Dee Dee Ramone zu Beginn jedes Songs, als wäre die Gruppe kaum in der Lage, den Rhythmus zu halten. Schließlich wurde es zum Ritual.

Die Ramones lernten auf der Bühne, kämpften und wurden allmählich immer besser. Seit Anfang 1975 entstand eine reductio ad absurdum in der Geschichte der bisherigen Popmusik: Die Beatles, Girl Groups, die Beach Boys, die Stooges, Herman’s Hermits verwandelten die Songs so schnell in Brei, dass sich darin die bruchstückhafte Konzentration der ersten Fernsehgeneration wiederspiegelte. Es gab keine Melodie, nur Verzerrung und reine, brutale Geschwindigkeit. »Als sie das erste Mal ein Konzert im Bottom Line spielen durften«, sagt Leee Black Childers, »konnte man sehen, wie sich das Publikum festhielt, als wären sie in der Achterbahn.«

Die neue, namenlose Verbindung verkündete ihre Andersartigkeit, wie alle Bewegungen im Pop das tun müssen: downtown rigour statt midtown glitter. Es gab eine neue musikalische Tradition, die zur autorisierten Version wurde: 60er Jahre Punk im Verbund mit den verachteten Bubblegum-Bands, aber das war eine absichtliche Vereinfachung, eine ausgeklügelte Form der Naivität. Obwohl neue CBGB’s-Gruppen wie Blondie und Talking Heads spielten, was sie für Pop hielten, waren sie noch weit von den Erwartungen der Industrie entfernt, und damit hatten sie gleichzeitig Zeit, sich zu entwickeln.

Eine CBGB’s Gruppe war bereits kurz davor, die Seite zu wechseln. Als Teenager in New Jersey war Patti Smith fasziniert gewesen von einem Bild Edie Sedgwicks in der Vogue vom August 1965: »Sie gab solch ein eindrucksvolles Bild ab, dass ich dachte: ›Das ist es.‹ Es stellte alles für mich dar, strahlende Intelligenz, Geschwindigkeit, das dem Augenblick Verhaftetsein.« 1968 zog Smith mit einem jungen Fotografen namens Robert Mapplethorpe ins Chelsea Hotel: Zusammen hingen sie am Eingang zu Max’s rum: Außenseiter, die hineinschauten.

1974 hatte Smith bereits zwei Gedichtbände veröffentlicht, für den Rolling Stone geschrieben und am Theater mit Sam Shephard und Tom Ingrassias zusammengearbeitet. Ihre erste Single wurde im Juni aufgenommen. Als McLaren nach New York zurückkehrte, befand sich die Patti Smith Group mitten in einem siebenwöchigen Engagement im CBGB’s, vier Abende die Woche. Am Ende der Saison unterschrieb die Gruppe einen Vertrag mit Arista, das erste Zeichen von Interesse seitens der Industrie an einer Gruppe aus dem CBGB’s, deren Entwicklung McLaren beobachtet hatte. »Er kopierte die New Yorker Gruppen«, sagt Sylvain. »Er liebte Richard Hell.«

Bevor McLaren nach England zurückkehrte, versucht er, Hell zu überreden, Frontmann seiner Band zu werden, aber Hell stritt bereits mit Tom Verlaine darüber, wer der Star bei Television war. In den sechs Monaten, die McLaren in New York verbrachte, hatte er gesehen, wie sich eine musikalische Subkultur entwickelte, die sich selbst schuf, gegenseitig unterstützte und dennoch möglicherweise kommerziell war, die »Intelligenz und Geschwindigkeit« ausstrahlte und »dem Augenblick verhaftet war«.

Als McLaren nach New York reiste, war der Charakter des neuen Ladens bereits festgelegt. Kein langes Zitat mehr, sondern eine kurze, scharfe Absichtserklärung. »Auf dem Schild stand SEX, in großen pinkfarbenen Schwammbuchstaben«, sagt McLaren. »Man sollte denken, dass dies nicht irgendein Laden auf der King’s Road war, sondern einer, der Sachen verkaufte, die man normalerweise nur über Versand bekam. Man musste nicht so voyeuristisch denken, sondern konnte einfach hineingehen und es aus erster Hand bekommen.«

In seiner städtischen Unverblümtheit funktionierte der Name als Provoktion, aber McLaren und Westwood verstanden intuitiv, dass sie neue Darsteller in der ersten Reihe brauchten, die diese neue Stoßrichtung verkörperten. Es genügte nicht, einfach nur den Namen und die Ideen zu haben: Sie mussten in eine körperliche Form übersetzt werden – sexy und bedrohlich. Um Pop zu sein, musste der Laden die Erfahrung und die Gefühle vermitteln, die McLaren und Westwood zu wecken versuchten, um diese aber selbst darzustellen, fehlte ihnen das Selbstvertrauen, die Hingabe oder das Engagement.

Mit Jordan bekam die Geschichte ein anderes Tempo. Sie ist der erste Sex Pistol. Durch Zufall gewann der neue Laden mit ihr eine Hauptdarstellerin, die die Grundsätze auslebte, die SEX ganz bewusst vertrat. Sie war die lebende Werbung für den Laden, indem sie ihren Körper in ein Kunstobjekt verwandelte. Von ihrer Teenagerzeit an hatte sie ein Erscheinungsbild kultiviert, das so verblüffend war, dass sie jedesmal ihr Leben aufs Spiel setzte, sobald sie einen Fuß vor die Tür setzte. Ihr Leben war ein pas de deux mit der Ungeheuerlichkeit.

1955 als Pamela Rooke geboren wuchs Jordan in einer Sozialbauwohnung auf den Hügeln außerhalb von Seaford in Sussex auf, einem ehemals eleganten Seebadeort. »Ich fing mit Ballett an, als ich ungefähr vier war«, sagt sie, »und machte bis ungefähr achtzehn weiter damit. Es vermittelt einem körperliches Selbstvertrauen, wenn man sich einer so strengen Disziplin unterwirft. Es gefiel mir, mich wie ein Gemälde zu behandeln. Ich hatte mir nicht überlegt, dass sich Leute davon angegriffen fühlen könnten. Es hat etwas mit der Art zu tun, wie man sich gibt und wie man läuft. Wenn man die richtige Körperhaltung hat, kommt man damit durch.«


Jordan und die Polizei (© Ray Stevenson)

Von ihren frühen Schultagen an experimentierte Jordan mit ihrem Erscheinungsbild: Zuerst hatte sie ihr Haar kurzgeschnitten und nach dem Vorbild von Mia Farrow gefärbt. »Ich wollte in der Schule nicht zu viele Freundschaften schließen. Ich war sehr streng, was meinen Lebensstil betraf. Damals änderte ich meinen Namen. Ich mochte schon immer den Klang von nur einem Namen, und bei Jordan ist es dann geblieben.«

»Als ich nach London kam, ging ich in den Masquerade Club in Earl’s Court, ein schwuler Club, der sogar an heutigen Maßstäben gemessen wirklich etwas Besonderes war. Für eine Frau war es sehr schwer, in diese Clubs zu kommen, die Schwulenszene schottete sich vollkommen ab. Sie waren beunruhigt, wenn Frauen in ihren Clubs aufkreuzten, und der einzige Weg, um reinzukommen, lief über das Aussehen. Sah man verrückt und unerhört aus, dann klappte es. Ich mochte gute Tanzmusik, und die einzigen Orte, wo man sie zu hören bekam, waren diese Schwulenclubs. Sie spielten Sachen wie ›Rock Your Baby‹, ›Rock the Boat‹, haufenweise Bowie. Als ich im Laden anfing, trugen nicht viele Leute dieses Zeug. Das war das Tolle, man konnte ausgehen, und niemand begegnete einem in demselben Outfit. Wir hatten Stammkunden, für die wir Sachen anfertigten, die sie bestellen konnten, ganze Gummianzüge, die wahnsinnig teuer waren. Das erste, was man lernte: Es machte ihnen nichts aus, wenn man ihnen sagte, was man dachte. Sie kamen trotzdem wieder. Ich war echt stolz auf mein Aussehen. Ich behielt den Job, weil ich gut aussah und weil ich etwas vom Job verstand. Als ich anfing, war der Bienenkorb schon da: Ich ging in einem hautengen Vinylanzug und Netzstrümpfen zur Arbeit und einmal nur in Netzstrümpfen und einem großen Mohairpullover mit Satinbesatz vorne. Nachdem ich den Job bekommen hatte, verlor ich meine Wohnung in Drayton Place und musste also zurück nach Seaford und pendeln. Ich bekam im Zug eine Menge Ärger wegen meines Outfits, aber ich hatte nichts anderes erwartet. Manchmal stieg ich in einen Zug ein, und alles, was ich anhatte, waren Strümpfe und Strapse und ein Gummioberteil. Einige der Pendler sind völlig ausgeflippt. Einigen Männern ist es unter der Zeitung auf dem Schoß ziemlich heiß geworden.«

Mit Jordan als skandalöser Auslage und Michael Collins’ Kontakten zur Schwulenszene entwickelte der Laden eine neue Atmosphäre, die dem Sortiment entsprach. »Michaels Freunde hingen herum«, sagt Jordan. »Wie Amadeo, der Wirt des Sobrero, einer unserer Treffpunkte, nachdem das Masquerade aus Gründen öffentlichen Ärgernisses geschlossen worden war.«

Ein anderer Stammgast des Masquerade und ein neuer Angestellter im SEX hieß Alan Jones. »Ich trug die engen Jeans von Let It Rock in den Schwulenkreisen«, sagt er. »vergiss nicht, dass damals die Glam Rock Ära dran war. In der Schwulenszene hatten alle lange Haare und Pullover um die Schultern gebunden. Ich arbeitete neun Monate dort. Die ganzen schmutzigen alten Männer kamen und taten so, als betrachteten sie sich das Zeug, und dann wollten sie unbedingt, dass Jordan es anprobiert. Sie beschwerte sich, weil sie die Vorhänge der Umkleidekabine ständig saubermachen musste.«

Während Malcolm in New York war, führte Vivienne das Geschäft, machte Kleidung und zog Ben Westwood und Joe Corré gleichzeitig groß. Ihr Selbstvertrauen wuchs, obwohl sich der Laden kaum selbst trug. »Eine Menge Geld floss durch den Laden«, sagt Andy Czezowski, ein Ex-Mod, der als Buchhalter arbeitete, »aber es gab überhaupt keine Struktur. Viviennes ganze Einstellung war nicht geschäftsmäßig – sie wollte Sachen machen, Dinge schaffen, etwas anzetteln –, es gab keinerlei Sinn für Profit oder Wachstum. Darum ging es nicht.«

»Die Kunden waren halb und halb«, sagt McLaren, »die eine Hälfte waren Parlamentsmitglieder und Fetischkäufer vom Land, aber die andere Hälfte waren junge Leute. Weil der Laden so ungewöhnlich war, verschaffte er ihnen das Gefühl, gefährlich und einzigartig zu sein. Und schließlich fingen sie an, mit der Kleidung zu experimentieren, um an die dunkle Stelle in ihren Herzen zu gelangen.«

McLaren kehrte im Mai 1975 mit Sylvains Gitarre als Glücksbringer nach London zurück. Die King’s Road hatte sich verändert, seit er sie verlassen hatte. Er war beeindruckt von Jordans Erscheinung und der Art, wie ein paar Teenager sich mit der Kleidung aus dem Laden stylten. Die Konkurrenz zu Acme Attractions spornte ihn an, und seine New Yorker Eindrücke verstärkten seinen Wunsch, eine Popgruppe zu kreieren, die das Hier und Jetzt einfing. Er hatte sechs Monate Vorsprung, bevor andere damit beginnen würden.

The Strand hatten regelmäßig unter der Anleitung von Bernard Rhodes geprobt. Sie waren nun soweit, zum ersten Mal in der Öffentlichkeit zu spielen. »Ich hing mit Steve und seinen Kumpels rum«, sagt Rhodes, »es war ein sehr banaler Spaß, aber ich brachte Steve dazu, etwas auf die Reihe zu kriegen.« Auf einer Party über dem Salter’s Café auf der King’s Road quälte sich die Band irgendwann in diesem Jahr durch drei Nummern – »Scarface«, geschrieben von Warwick Nightingale und seinem Vater, »Can’t Get Enough of Your Love« und »Twisting the Night Away«. »Es war ein Alptraum«, sagt Steve.

McLaren ging zu den Riverside Studios: »Ich war sehr beeindruckt, dass sie was auf die Reihe gekriegt hatten«, sagt McLaren, aber als er sie die nächsten Wochen beobachtete, hatte er das Gefühl, dass sie bereits am Ende ihrer Möglichkeiten waren. Der Rhythmus war kritisch, und Warwick konnte zwar recht virtuos spielen, aber irgendetwas fehlte. »Sie waren nicht sie selbst. Sie sangen Songs, die nicht wirklich etwas mit ihren Gefühlen zu tun hatten.« Das Problem waren Jones und Nightingale.

Als Leadsänger war Jones ein wunder Punkt, aber es gab eine emotionale Bindung zwischen ihm und McLaren. Nightingale konnte mit dem Instrument umgehen, aber die CBGB’s-Gruppen hatten den Glauben an musikalisches Können zerstört. »Warwick war nicht der richtige«, sagt Paul Cook. »Wir hatten alle Spaß, und er war einer von diesen ›Fass meine Gitarre nicht an‹-Typen. Wir wollten ihn los werden. Malcolm leitete das in die Wege, aber wir mussten ihn nicht großartig überreden.«

Heimlich schenkte McLaren Jones Sylvains weiße Les Paul-Gitarre. Im Juni ging Warwick wie immer zur Probe. »Steve spielte hinter meinem Rücken Gitarre. Ich war zu naiv, um davon auszugehen, dass er meine Position in der Gruppe einnehmen wollte. Malcolm war da, und sie sagten einfach nur: ›Du bist nicht mehr in der Band.‹ Das war sehr hart. Ich weinte nicht, aber ich fühlte mich so ausgebrannt, dass ich gar nichts gesagt habe. Ich bin sogar am gleichen Abend mit ihnen einen trinken gegangen. Von ihnen kam gar keine Reaktion.«

McLaren versuchte vergeblich, einen Musiker aus New York herüberzuholen. »Die Sex Pistols waren laut McLaren angeblich meine Band«, sagt Sylvain. »Die Kids, die da vor seinem Laden rumhingen, würden gerne mit mir spielen, nicht wie JoHansen. Ich glaubte ihm. Aber dann bin ich in New York hängengeblieben. Bob Gruen kam mit einer Japantournee an. Wir würden dreißigtausend Dollar verdienen, mehr Geld, als ich mir jemals erträumt hatte. Malcolm wurde wütend. Ich ging mit David, und er schrieb mir: ›Ich traue David nicht, er ist ein Arsch.‹ Also machte ich einen Fehler.«

Als nächstes ging es darum, den Lernprozess zu beschleunigen. »Ich hatte schlechte Erfahrungen mit dem NME gemacht«, sagt Nick Kent. »Ich hatte das Gefühl, drei Jahre rumgebracht und jetzt die Obergrenze erreicht zu haben. Also fing ich an, mich fürs Spielen zu interessieren. Ich war nicht annähernd so gut, wie ich dachte, aber ich war gut genug für die Band zu der damaligen Zeit. Ich mochte sie: Wir waren Welten auseinander, aber da ich älter war und ins Speakeasy reinkam, hingen sie wie die Kletten an mir. Ich hatte nie das Gefühl, Mitglied der Band zu sein. Jones Stimme war der von Steve Marriott sehr ähnlich, aber er wusste nicht, was er mit seinen Händen tun sollte, also war die Gitarre ein Requisit. Das war die ursprüngliche Idee, aber nach sechs Monaten spielte Steve tatsächlich. Nach ein paar Wochen kam es mir so vor, als ob niemand eine Richtung hätte, also stellte ich ihnen ein Ultimatum. Ich ging an einem Freitag zu Malcolm und schlug ihm vor, die Gruppe zu übernehmen und den Namen zu ändern. Malcolm dachte darüber nach, und am Samstag rief mich Matlock an und sagte mir, dass es nicht in Frage käme. Es war eine freundschaftliche Trennung: Es war keine verschwendete Zeit. Malcolm war wahrscheinlich einer jener Leute, die niemals Teil einer Gang waren, und er wollte in einer Gang sein, so wie sie eine waren. Man hat eine Gang, und nach sechs Monaten langweilt man sich zu Tode, besonders wenn Musik im Spiel ist. Das ist der Grund, warum es kaum noch Gruppen wie die New York Dolls gibt, die sehr kameradschaftlich eingestellt waren. Malcolm wollte das: Er rief ständig Sylvain an und ließ ihn mit Steve Jones reden.«

Im Sommer verringerte sich McLarens Vorsprung. Die Idee, eine harte Teenager-Rockband zu gründen, verbreitete sich in den klaustrophobischen Straßen der Hauptstadt. Rock On hatte eine eigene Band, deren Name von einer New Yorker Straßenbande kam: The Count Bishops. Sie spielten den üblichen R&B, aber mit einer besonderen Schärfe, die ihnen ihr Frontmann Mike Spencer gab. »Malcolm suchte nach einem Sänger, um die ultimative Garagenband zu gründen«, sagt Roger Armstrong. »Er sah sich die ganzen Straßenbands an, und Spencer war zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Kandidat.«

McLarens Vorstellung von dieser Band war nicht völlig ausgereift: Er war noch immer auf Larry Parnes fixiert. Trotz des weiterhin ungelösten Sängerproblems arbeitete McLaren wieder enger mit Westwood zusammen und entwickelte Ideen für SEX. An die Wände kamen Handzettel und Poster der New York Dolls, Television und ihrer »Blank Generation«. Jordan war eine Inspiration, da sie in die Rolle der Domina schlüpfte. »Die Leute hatten Angst reinzukommen«, sagt sie. »Es lag einfach nur an meiner Einstellung. Ich fühlte mich mächtig, und ich sah mächtig aus.«

Die erste Produktlinie, die ausgedehnt wurde, war das ärmellose T-Shirt mit Slogan, der Artikel, der sich inzwischen am besten verkaufte: bei zwei Pfund pro Stück nicht billig. Ciré und Leder wurden als Materialien benutzt, Reißverschlüsse, Risse und Nieten oder Plastiktaschen eingefügt. Zu den früheren Manifesten kamen neue Entwürfe aus der Pornografie. Es gab einen nackten schwarzen Fußballspieler mit herabhängendem Schwanz, Alex Trocchis leidenschaftliche Lesben-Phantasien oder das beunruhigende Bild eines zwölfjährigen Jungen, der anzüglich eine Zigarette inhaliert. Das Foto hatte man dem Boys Express entnommen, einem kleinen pädophilen Magazin, das mitsamt Kontaktadresse in Essex offen verkauft wurde.

Ein anderer krasser Entwurf wirkte wie ein graphisches Manifest für die Sex Pistols. Auf diesem Bild posieren zwei Cowboys am Samstagabend vor einer Disco. Beide tragen Cowboyhüte, lange Stiefel, aber keine Hosen. Derjenige mit Lederweste packt den anderen am Kragen seiner verblichenen Levis-Jacke. Auf der Höhe des Pistolenhalfters hängen zwei große, schlaffe Penisse nur um Haaresbreite voneinander entfernt.


Gedruckt in Braun auf Pink oder Rot auf Grün, waren diese Bilder einfach und zugleich komplex. McLaren und Westwood wussten, dass es einen riesengroßen Unterschied zwischen einer Pornoheft-Abbildung und einem vergrößerten Siebdruck gab, der öffentlich zur Schau gestellt wird. Der Effekt konnte auf merkwürdige Weise asexuell sein. Die Vergrößerung fetischisierter Bilder war polemisch, ein Kommentar zur üblichen Verwendung der Bilder. Die unverhohlene Sexualität verwandelte sich in eine Abstraktion von Sex. Einer von McLarens und Westwoods brillanten frühen Entwürfen hält dies fest: Sie brachten ein Foto von weiblichen Brüsten auf T-Shirts an. Der Effekt war androgyn und verwirrend – man guckte automatisch zweimal hin.

Wegen eines T-Shirts gab es Differenzen. Darauf war das Bild der Kapuze zu sehen, die der Vergewaltiger von Cambridge trug, als er damals die Universitätsstadt terrorisierte. Collins war sogar sicher, dass einer ihrer Kunden der Vergewaltiger sei und informierte die Polizei, während McLaren in New York war. Der Entwurf wurde zurückgenommen. Nach seiner Rückkehr fügte McLaren der Kapuze noch einige Musiknoten in Rot hinzu, zusammen mit dem Schriftzug »A Hard Day’s Night«. Darunter stand im Stil der Boulevardpresse: »Brian Epstein – am 27. August 1967 tot aufgefunden, nachdem er an sado-masochistischen Praktiken teilgenommen hatte / Mit S&M fühlte er sich zu Hause.« Das war die dunkle Seite des Klischees eines Managers, das McLaren so viel bedeutete. McLaren hätte in seinem Versuch, Reaktionen hervorzurufen, nur wenige Väter nicht getötet.

Ende Juli kollidierte McLarens Phantasiewelt mit der Realität. »Es war der Tag, an dem sie gerade die Cowboy-T-Shirts fertig hatten«, sagt Alan Jones. »Ich kaufte eins und das Cambridge-Vergewaltiger-T-Shirt. Ich trug das Cowboyhemd und lief die King’s Road entlang zum Piccadilly Circus, als von hinten zwei Polizisten in Zivil auf uns zukamen und sagten: ›Ah, was haben Sie denn da an? Würden Sie uns bitte auf das Revier in der Vine Street begleiten?‹ Ich hatte nichts bemerkt, aber mein Freund sagte mir, dass uns alle angestarrt hätten. Ich war wegen eines Gesetzes aus dem vorigen Jahrhundert dran. Ich erzählte Malcolm, was passiert war, und er sagte: ›Wir tun, was wir können. Wir besorgen dir einen guten Anwalt.‹ Und was passierte? Ein Scheißdreck passierte.


Paul Cook mit SEX-T-Shirt. Im Hintergrund Glen Matlock (© Ray Stevenson)

Ich kam allein vor Gericht, wusste nicht, was ich tun sollte und plädierte am Ende auf schuldig. Wenn mich Malcolm unterstützt hätte, wäre nur eine Geldstrafe herausgekommen.«

Die Nachricht über die Verhaftung von Alan Jones schaffte es bis in die überregionalen Zeitungen. Der Guardian nutzte am 2. August auf Seite 1 die allgemeine moralische Entrüstung, um über den Vorfall zu berichten. Der Skandal fiel mit dem Beginn des Rollbacks gegen die »Freizügigkeit« der 60er Jahre zusammen. Der Labour-Abgeordnete Colin Phipps beschwerte sich, dass die Verhaftung von Jones »bloß ein Aspekt eines konzertierten Angriffs auf eine offene und liberale Sichtweise von Nacktheit und Sex ist.« Aber McLaren hielt die Ansichten solcher Politiker für Heuchelei. Er wollte den Staat provozieren, so wie es die Yippies oder Baader/Meinhof getan hatten, um die wirkliche Unterdrückung aufzudecken, die unter der toleranten Schutzschicht lauerte.

In dieser Woche stattete die Polizei SEX einen Besuch ab und beschlagnahmte einige Gegenstände, einschließlich aller Cowboy-T-Shirts. Am 7. August wurden McLaren und Westwood wegen »öffentlichen Ausstellens unsittlicher Abbildungen« angeklagt. Der Fall wurde Ende November vor Gericht verhandelt. McLaren und Westwood kamen mit einer Geldstrafe davon. Der als Leumundszeuge bestellte Theodore Ramos sagte: »Malcolm experimentierte mit lebenden Subjekten, als wären sie graphische Elemente. Viele seiner Ideen waren irre, aufgeschnappt in der Kunstschule, viele literarisch: Er hatte die Fähigkeit, eine Idee zu verfolgen und umzusetzen. Dann wurde er ein echter Impresario. Ein Katalysator, der Aktionen hervorrufen konnte.«

England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe]

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