Читать книгу England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe] - Jon Savage - Страница 18
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ОглавлениеIm Herbst 1975 stand die mainstreamorientierte Musikindustrie neuen Gruppen, die soziokulturell Krach schlagen wollten, keineswegs wohlwollend gegenüber. Wie Dave Laing in One Chord Wonders bemerkt, hatte die Musikindustrie auf den riesigen Markt reagiert, der sich in den 60er Jahren eröffnet hatte, indem sie sich global organisierte: Über 60 Prozent des englischen Markts wurden von sechs multinationalen Firmen kontrolliert. Die Popmusik wurde beherrscht von ihrem »Gigantismus«, einem Marktansatz, den man als »Scheiße gegen die Wand werfen« umschreiben könnte. Der bevorzugte Musikstil war Progressive Rock, also alles, was teuer und aufwendig war.
Innovationen hatten ebensoviel mit Marketing wie mit Musik zu tun. Abba kamen als »der klassische transnationale Sound Mitte der Siebziger« groß raus. Nachdem sie 1974 den Eurovision de la Chanson-Wettbewerb gewonnen hatten, machten sie Aufnahmen in Schweden, unterschrieben bei einem multinationalen Konzern mit Hauptsitz in Amerika und sangen auf Englisch, ein globales Pop-Esperanto, das aus fünfzig Jahren amerikanischer Pop-Kultur synthetisiert war. Ein noch eklatanteres Recycling fand statt, als die Musikindustrie die Macht des Fernsehens entdeckte: 1972 hatte eine Firma namens K-Tel mit einer Reihe von Compilation-LPs, die im Fernsehen beworben wurden, unmittelbaren Erfolg. 1976 machten diese Sampler 30 Prozent aller Verkäufe aus.
Fernsehwerbung, stromlinienförmiger Einzelhandel, Steuertricks und eine institutionalisierte Nostalgie füllten den gesamten luftleeren Raum der Pop-Kultur aus. Ein Artikel im Melody Maker über den »Zustand des Rock« im Juni 1975 fasste die Situation zusammen: »Im Herzen des Rock-Traums steht eine Registrierkasse«. Im selben Artikel stellte der unabhängige Produzent Pete Jenner fest: »Ich denke an jemanden, der 16 ist und der sagen wird, ›schaut euch dieses Zeug an, das diese Bands mit diesen riesigen PAs und Lichteffekten machen. Darum kann es nicht gehen. Das hat doch mit den Leuten nichts zu tun.‹«
Es gab bereits einen Ort für junge Musiker, die versuchten, den eingeschlagenen Weg der gestriegelten Anpassung und der hohen Investitionen zu sprengen. Im Herbst 1975 hatte der Eindruck, den Dr Feelgood hinterlassen hatte, die Pub-Szene für eine neue Generation aufregender, leidenschaftlicher Gruppen geöffnet: die Stranglers, Eddie And The Hot Rods und Joe Strummers 101er. »Uns wurde klar, dass wir uns beeilen mussten«, sagt Paul Cook, »es gab da eine unterirdische Strömung mit vielen Leuten, die Bands gründen wollten. Man konnte spüren, dass etwas passieren würde.«
Auch Bernard Rhodes versuchte, eine Teenager-Pop-Gruppe zu formieren, die sich aus Musikern einer Band zusammensetzten sollte, die sich London SS nannte. Gegründet von dem Kunststudenten Mick Jones und Tony James, war London SS eine hochgradig stilbewusste Band, laut James »langhaarig wie eine Londoner Ausgabe der New York Dolls mit Mädchenschuhen«. Rhodes’ setzte der Gruppe wegen ihres Namens zunächst so zu, dass sie ihn ablegten. Dann besorgte er ihnen im Praed Street Café in Paddington einen Stützpunkt, wo sie Dutzende Möchtegern-Gitarristen, Sänger und Schlagzeuger vorspielen ließen.
»Tausende von Leuten behaupten jetzt, sie wären bei London SS gewesen«, sagt James. »Chrissie Hynde kam und ging. Wir haben damals auch Aufnahmen gemacht, Coverversionen von MC5-Nummern und ›Protex Blue‹. Bernie und Malcolm waren am hilfreichsten, indem sie unser Selbstverständnis veränderten. Sie stellten uns Glen, Steve und Paul vor: Damals hatten sie sehr kurze Haare, und wir hatten sehr lange Haare. Wir hassten die Vorstellung, unsere Haare schneiden zu lassen. Lange Haare waren noch immer ein Symbol der Rebellion. Es gab also zwei Fraktionen. Die Sex Pistols waren King’s Road, wir waren Paddington, aber wir brachen auseinander, weil wir keinen Sänger finden konnten.«
Selbst mit einem Sänger hatte die neu geschaffene SEX-Band noch einen Berg an Problemen zu bewältigen. Einen Monat nach ihrer ersten Probe, war noch immer alles vorläufig. Abgesehen von musikalischen Defiziten hatten die vier Schwierigkeiten, einen Übungsraum zu finden. Im September übernahm schließlich McLaren die Verantwortung für die Gruppe: Als Glen eine Anzeige für einen Proberaum im Melody Maker fand, übernahm er die 1000 Pfund Kaution.
Der Raum befand sich im Erdgeschoss und konnte nur über einen zerfallenen Durchgang zwischen Nummer 6 und 8 in der Denmark Street erreicht werden. John mochte ihn, weil er feucht und deprimierend war; Steve Jones mochte ihn, weil er eine W1-Postleitzahl hatte; Malcom McLaren mochte ihn, weil er eine Art trojanisches Pferd direkt im Herzen von Tin Pan Alley war, die der Angelpunkt des englischen Pop in den 40er, 50er und 60er Jahren gewesen war. Es spielte keine Rolle, dass das Zentrum der Musikindustrie nun woanders lag. Mit diesem winzigen Raum konnte er Larry Parnes oder Laurence Harvey in dem Film »Expresso Bongo« sein.
Am nächsten Tag rief Paul Cook McLaren an, um ihm zu sagen, dass er die ganze Nacht nachgedacht hatte, und dass er aus der Band aussteigen wolle. Er fand, die Gruppe sei ein Scherbenhaufen und dass McLaren mit dem Proberaum Geld verschwenden würde. »Ich dachte, Malcolm würde die ganze Zeit Scheiße reden«, sagt Cook, »er sagte immer, dass etwas passieren würde, aber es passierte nie.« McLaren gewann Zeit, indem er Vorspieltermine für einen fähigen Gitarristen ansetzte. Die Anzeige für einen »Whizz Kid-Gitarristen, nicht älter als 20, nicht schlechter aussehend als Johnny Thunders« erschien am 27. September in Melody Maker. Eine Antwort kam sofort.
Laut McLaren »kamen ein paar unglaublich komische, verrückte Kids. Einer hieß Fabian Quest und drehte beim Gitarrespielen seinen Kopf zur Wand. Als sie ihn vorspielen ließen, merkten sie, dass sie immerhin schon mal besser waren als dieser Typ. Jones machte sich in die Hosen vor Lachen. Sie benahmen sich schrecklich. Aber sie hatten plötzlich eine Identität: Es kamen diese ganzen Kids, also war es nicht so, dass jeder mitmachen konnte. Sie hatten eine gemeinsame Basis: Sie kritisierten diese Leute und deren unterschiedliche Vorstellungen, die nicht zu ihren eigenen passten, obwohl sie nicht wussten, welche Vorstellungen sie eigentlich hatten.« Cook wurde überredet, dabei zu bleiben, und Proben wurden um seine Arbeitszeiten herum angesetzt. Lydon und Jones waren arbeitslos, während Matlock gerade wieder nach St. Martin’s zurückgekehrt war.
»Ich lebte lange Zeit alleine in der Denmark Street«, sagt Steve Jones. »Ich nahm Black Bombers und spielte stundenlang zu Platten: Raw Power und die New York Dolls. Meine Finger waren runter bis auf die Knochen.« »Wir probten fast jeden Tag«, sagt Glen, »selbst wenn es nur für eine halbe Stunde war.«
Die Sex Pistols taten, was jede andere Gruppe in ihrer Lage auch tat: Sie spielten ihre Lieblingsoldies und machten sie zum Prüfstein. Im Oktober probten sie ein Repertoire, das vor allem aus experimentellem Mod-Pop bestand: »Psychotic Reaction« von Count Five, »Through My Eyes« von The Creation, fünf Songs von den Small Faces, darunter »All Or Nothing« und »My Mind’s Eye«, der brutale R&B von Dave Berry »Don’t Gimme No Lip Child«, und die inzestuösen Zeilen aus »Substitute« von The Who. Trotz der Gewalt in diesen Songs war Lydon nicht zufrieden: »Alle fanden, ich wäre gemein und widerwärtig, weil ich keine Coverversionen oder Small Faces-Songs spielen wollte. Wir spielten ein paar gute Songs, wir haben sie wirklich verstümmelt, aber man muss irgendwo anfangen. ›Don’t You Gimme No Lip, Child‹, ›Don’t You Talk Back To Me‹: Aus dem Mund eines 18jährigen ist das ziemlich sarkastisches Zeug. Sobald ich die Gelegenheit hatte, kam ich mit Ideen an: ›vergiss sie‹, dachte ich, ›die wollen Who-Nummern klauen. Mir egal. Ich werde die Songs schreiben, die ich schreiben will.‹ Ich hasste das Proben. Ich fühlte mich unsicher, also schrieb ich diese kleinen Dinger, kroch in eine Ecke, nuschelte vor mich hin und hoffte, dass es niemand hören würde.«
Um nicht einfach nur eine bessere Pub-Rock-Band zu sein, brauchten die Sex Pistols eigenes Material. McLaren drängte sie. »Damals war Malcolm wie ein Bandmitglied«, sagt Cook, »er hing gerne mit jüngeren Leuten ab, lebte von deren Energie.« Lydon hatte den Text zu »Scarface« geändert, der zu »Did You No Wrong« wurde, bevor Matlock mit »Pretty Vacant« kam.
»Es war noch nicht lange her, dass Malcolm mit Postern aus den Staaten zurückkehrte«, sagt Matlock, »eins war von Television, die Band, in der Richard Hell war. Da waren diese ganzen großartigen Songs drauf, ›Blank Generation‹, ›Venus De Milo‹, und daher hatten wir die Idee für ›Pretty Vacant‹.«
Der Song beginnt mit einem einzelnen, aber theatralisch wiederholten Gitarrenlauf, bevor er in eine von Matlocks besten Melodien und prägnantesten Strukturen übergeht. Der Refrain des Songs, »We’re so pretty«, war die Antwort auf einen Artikel in der Sunday Times über die Bay City Rollers, wo das Bild einer 17jährigen Kunststudentin mit der Bildunterschrift »They’re so pretty« versehen war. Lydon verkehrte Glens Refrain und das, was ein hübsches kleines Rock-Liedchen hätte sein können, in etwas vollkommen anderes: Seine negativen Verszeilen sind eine entschiedene Weigerung, obwohl sie gleichzeitig auch als Absage an Definitionen verstanden werden können: »There’s no point in asking: you’ll get no reply.«
»Pretty Vacant« fing die Spannungen zwischen Lydon und Matlock ein. »Ich und Glen waren nie auf einer Wellenlänge«, sagt Lydon. »Die Sachen, die er mochte, die hübsche, sauberrasierte Seite von Pop, finde ich abstoßend und öde.« »John ist ein durchgeknallter Katholik«, sagt Matlock, »und das kam im Text zum Vorschein. Einer der Songs, den wir nie benutzt haben, handelte vom Erzengel Gabriel.«
Genau genommen fand bereits der Kampf um die Kontrolle statt.
»Glen war Malcolms Handlanger«, sagt Bernard Rhodes, »er machte alles, besorgte die College-Auftritte. Es wurde eine Sache zwischen John und Malcolm: sie verstanden sich gut, aber wenn man den Aufrührer unterstützt, um ein Problem zu lösen, dann arbeitet man am Ende für den Aufrührer. Glen war Malcolms Trumpf.«
Lydon hatte sich durch eine lange, morbide Phase zu kämpfen.
»Den einzigen Job, den ich wirklich haben wollte, als ich arbeitslos war, gab es in einem Bestattungsinstitut, aber sie haben mich nicht ernst genommen«, sagt er. Ein früher Song, eine Antwort auf Hells
»Please Kill Me« T-Shirt, hieß »Kill Me Today«. Unter dem Druck, Hymnen über den Generationskonflikt produzieren zu müssen, begann Lydon mit einer systematischen Verwirrung der Sinne, die ihn dazu brachte, selbstreflexive Versuche wie »Concrete Youth« und »Mindless Generation« zugunsten instinktiverer, unbewussterer Ansätze fallen zu lassen.
»Ich dachte eine Woche lang darüber nach«, sagt Lydon, »und dann kam es in einem Rutsch heraus.« Das Ergebnis war eher anspielungsreich als spezifisch. »You’re only twenty-nine, got a lot to learn, but when your business dies, you will not return«, sang er auf »Seventeen«, dem Song, mit dem die Sex Pistols einem Gründungsmanifest vielleicht am nächsten kamen: »We make noise ’cos it’s our choice, it’s what we want to do. We don’t care about long hair: we don’t wear flares.« »I don’t work«, schloss er, »I just speed – that’s all I need.«
Die verschiedenen Erklärungen von McLaren und Lydon, alljährlich in den Medien veröffentlicht, belegen ganz deutlich, dass keiner von beiden Einfluss auf den anderen hatte und noch schlimmer: »Wir waren nie Freunde, nie« (Lydon); »Niemals, nie« (McLaren). Unabhängig von diesen Kabbeleien wird aber noch eine andere Seite der Geschichte sichtbar. »Ich sah McLaren einige Wochen, nachdem er auf John gestoßen war«, erzählt Nick Kent, »er schwärmte von ihm. Was mich schließlich davon überzeugte, dass er es geschafft hatte, war: Er ist das Beste an der Band, er schreibt großartige Texte, er hat einen Song, der heißt ›You’re only twenty-nine, but you got a lot to learn‹.«
»Eigentlich mochte John Malcolm am Anfang«, meint Helen Wallington-Lloyd, »vielleicht als Vaterfigur oder als Spiegelbild seiner selbst. Und für Malcolm war John eine jüngere Ausgabe seiner eigenen Person. Wenn du jung bist, bist du furchtlos, du kannst alles mögliche machen.« 1975 verließ Malcolm Vivienne, um mit Helen, die gerade aus Südafrika zurückgekehrt war, in ihrer Wohnung in der Bell Street zu leben. »Er trug Lederhosen und sprach wie ein Amerikaner; ich traf Johnny und seine Kumpel. Johnny sah in seinem Mohair-Pullover umwerfend aus: wie ein junger Albert Steptoe. Sehr schwuchtelig und immer am jammern. Er hatte sehr eindeutige Ansichten, und er brachte sie zur Sprache: laut. Ich sah ihn an und dachte: ›Was hat sich Malcolm da bloß angelacht?‹ Seine Freunde wirkten auf mich wie diese National Front-Typen, wie Rüpel. Sie schubsten sich ständig und erzählten was von Schwuchteln, Juden und Schwarzen. John war auch ein bisschen so: sehr misstrauisch gegenüber Leuten aus der Mittelklasse. Ich habe mit seiner Mutter telefoniert. Sie fragte mich: ›Wie ist dieser Malcolm McLaren wirklich? Glauben Sie, der ist echt? Denkt er auch an den Jungen?‹ Ich glaube nicht, dass es ihnen gefallen hat, dass Malcolm Jude war. Da gibt es ein tiefsitzendes katholisches Ressentiment gegenüber Juden, besonders gegenüber jemandem wie Malcolm, der die Fäden zog. Ich kam John sehr nahe: Er mochte mich. Seine Mutter sagte: ›Er ist ein komischer Junge, widerspricht sich dauernd.‹ Ich glaube, er ist insgeheim schwul. Ich glaube, mit Malcolm war es eine sexuelle Angelegenheit. Es war narzistisch: Sie sahen sich sehr ähnlich. Beide Wassermänner, beide denselben Knochenbau. Sie haben diese Augen und sind beide absolut furchtlos. Sie sind hart. Offensichtlich haben sie sich durch unterschiedliche Vorkommnisse in ihrer Vergangenheit verschieden entwickelt, aber beide hatten ein loses Mundwerk. Sie kamen mit den bizarrsten Neuheiten an.«
Es gibt keinen Zweifel, dass es zwischen beiden gefunkt hat. Die Spannungen allerdings kamen auch in einem anderen frühen Sex Pistols Song, »Submission«, zum Vorschein. »Malcolm war solch ein Poser«, sagt Paul Cook, »mit seinen ganzen Phantasien über Sex und Gewalt.« McLaren sagte der Band, sie sollten einen Song über den SEX-Laden schreiben über SM, Fesseln, Herrschaft und sowas. Mit Glen schrieb Lydon etwas völlig anderes: einen langsamen, beinahe mystischen Song über das unerreichbar Weibliche.
McLarens Kontrolle war alles andere als absolut. Im November 1975 hatte er außerdem Probleme, die Gruppe dazu zu bringen, sich auf einen Namen zu einigen. Nachdem sie einen Monat lang hart geprobt hatten, waren die Sex Pistols so weit, sich der Welt zu stellen. Obwohl sie den Namen bereits benutzt hatten, gab es keine endgültige Übereinkunft. Glen wurde beauftragt, Konzerte in Colleges aufzutun. Zwei hatte er arrangiert: eins in der Central School of Art and Design in Holborn am 7. November und eins in einem kleinen Raum im ersten Stock in St.Martin’s am Tag davor. Der Name der Gruppe musste nun endgültig geklärt werden.
Obwohl sich Lydon und die anderen seit drei Monaten kannten, hatte er der Band immer noch nicht seinen Nachnamen verraten. John spuckte ständig, rotzte herum oder begutachtete seine verrottenden Zähne. Steve Jones fand das abstoßend und sagte zu John, »Du siehst verrottet aus«. Der Name blieb haften. Er war das Negativ der Pop-Art-Pseudonyme von Larry Parnes: Nicht Wilde, sondern Rotten; Sex Pistols, aber nicht sexy. Die anderen waren nicht ganz derselben Überzeugung. Paul wurde beinahe zu »Slave« Cook, während Glen einfach ein weiteres »N« anhängte. Jones blieb wie er war. McLaren bestand darauf, dass sie unter dem Namen, den er im Herbst 1974 geprägt hatte, an die Öffentlichkeit traten. Schließlich sollte die Gruppe für den Laden werben, und deshalb musste Sex im Namen vorkommen. Was also war falsch an Sex Pistols mit den Konnotationen »Knarre, Attentäter, jung, unmoralisch und Sex?«
Wie immer gibt es unterschiedliche Darstellungen. »Ich mochte den Namen sehr gern«, sagt Lydon, »ich fand ihn toll. Das Wort Sex war niemals zuvor auf solch krasse Weise benutzt worden, und es in Verbindung mit einer Pop-Band zu verwenden, war lustig. Ich fand ihn perfekt, um alte Damen vor den Kopf zu stoßen.« »Rotten wollte nur Sex heißen«, sagt McLaren, »Jones liebte den Namen. Cook fand ihn in Ordnung, wollte aber etwas, das normaler klang. Matlock, der ein echter Oberschüler war, schlug sich auf Johns Seite. Sie traten trotzdem als Sex Pistols auf. Ich hätte nichts anderes geduldet: Ich hatte die Kontrolle, und ich wollte nicht meine Zeit mit einem Haufen Deppen verschwenden, die unter einem Namen wie Sex auftraten. Ich wollte möglichst viele Hosen verkaufen.«
You know what I think?
I think the whole world stinks
& I don’t need no shrink I just hate it
The Electric Eels, »Agitated« (1975)
Als die Sex Pistols ihren ersten Auftritt hatten, verdrängte das sechs Jahre alte »Space Oddity« von David Bowie gerade Art Garfunkels Version eines sechzehn Jahre alten Songs »I only have eyes for you« vom ersten Platz der britischen Singles Charts. Den ersten Platz bei den Langspielplatten belegte die im Fernsehen beworbene »40 Golden Great« von Jim Reeves, der 1964 gestorben war. Die Wiederkehr der 60er Jahre war Beleg für die Armut der Gegenwart: »Remember those fabulous 60s« lautete eine Überschrift im New Musical Express in jener Woche, als alte Songs von den Beatles und den Small Faces wieder in die Top Ten gehievt wurden.
Im Innenteil war jedoch ein Artikel, der nichts für diese Nostalgie übrig hatte. Unter der Überschrift »Are you alive to the jive of ... THE SOUND OF ’75?« wurde die New Yorker Szene vorgestellt, die McLarens Geheimtip war. Charles Shaar Murrays Doppelseite über den heute noch existierenden Club CBGB’s stellte die Ramones auf einen Ehrenplatz. »Sie spielten 20minütige Sets, weil sie nur acht Songs hatten, aber jetzt bringen sie es auf 45 Minuten. Joey rotzt den Titel des Songs nur so hin, Dee Dee ruft ›1-2-3-4‹ und es geht wieder los, vielleicht mit ›53rd and 3rd‹.« Eineinhalb Minuten Songs; 1-2-3-4 Anzähl Intros; Byrds Frisuren: perfekt.
Die CBGB’s-Szene war beträchtlich gewachsen. In der zweiten Hälfte des Juli 1975 veranstaltete der Club ein Rock Festival, auf dem über 30 neue Gruppen präsentiert wurden. Obwohl der Andrang unterschiedlich war, zog das Festival zum ersten Mal eine größere Aufmerksamkeit der Presse auf sich. Innerhalb der kleinen, inzestuösen Welt der englischen Wochenblätter und den New Yorker Medien war das Festival ein Hit, aber es sprengte nicht den eng gesteckten Rahmen. Die meisten Gruppen hatten noch keinen Erfolg in den Top 40.
Noch konnte man sich nicht auf einen Namen für die neue Bewegung einigen. Hilly Kristal nannte sie Street Rock, aber nun kam eine neue Zeitschrift heraus, die den neuen Namen prägte. Punk wurde von zwei Highschool-Freunden aus Cheshire, Connecticut, Legs McNeil und John Holmstrom, erfunden. Holmstrom studierte Zeichentrickfilm bei Will Eisner und Harvey Kurtzman an der School of Visual Arts in New York. McNeil, ein irisch-katholischer Hochschulabbrecher, kam im September 1975 an die Schule: »John hatte eine klare Vorstellung. Er wollte die Zeitschrift Teenage News nennen, was ich wirklich für dumm hielt. Ich sagte zu John: ›Warum nennen wir sie nicht Punk?‹ Aber John sagte: ›Ich bin der Chefredakteur.‹ Unser Freund Jed sagte:
›Ich bin der Herausgeber.‹ Beide sahen mich an und fragten: ›Und was bist du?‹ ›Ich bin der Punk vom Dienst.‹ Dann war die Sache in zwei Sekunden beschlossen. Im Fernsehen sagten Kojak, Beretta und die Bullen, wenn sie endlich den Massenmörder geschnappt hatten: ›Du dreckiger Punk.‹ Lehrer nannten einen ebenfalls so. Punk bedeutete, dass man das allerletzte war. Wir, die Abbrecher und Versager, schlossen uns zusammen und wurden eine Bewegung. Man hat uns unser Leben lang gesagt, dass wir es nie zu etwas bringen würden. Wir sind die Leute, die durch die Lücken im Bildungssystem fielen.«
»Es war ziemlich offensichtlich, dass das Wort sehr beliebt wurde«, sagt John Holmstrom. »Das Creem-Magazin benutzte es, um die Musik der frühen siebziger Jahre zu beschreiben. Bomp benutzte es, um die Garagenbands der Sechziger zu beschreiben. Eine Zeitschrift wie Aquarian benutzte es, um zu beschreiben, was im CBGB’s vor sich ging. Das Wort wurde benutzt, um Springsteen, Patti Smith und die Bay City Rollers zu beschreiben. Als dann Legs damit ankam, dachten wir, wir nehmen den Namen lieber, bevor jemand anderes Anspruch darauf anmeldet. Wir wollten die ganze Scheiße loswerden, wir wollten wieder den reinen Rock’n’Roll. Wir wollten den Spaß und die Lebendigkeit zurück.«
»Der Krieg in Vietnam ging zu Ende, was, wie ich glaube, sehr geholfen hat«, sagt McNeil. »Als Kind wuchs man mit der Angst auf, dass man hinmüsste. Es war wie eine Befreiung, eine Party. Im vorhergehenden Jahr gab es Watergate, es war eine Zeit des Wandels. Etwas würde passieren. Das Gefühl sagte einem, dass diese Regierung krank war und Nixon ein Arschloch. Und dann hatten wir Ford, einen echten Trampel. Niemand in New York hatte Geld: Die Stadt war beinahe bankrott. Und was riet Ford der Stadt: ›Fall tot um.‹«
Punk: How old are you?
Tommy: 23,24.
Punk: Oh, that’s us!
Tommy: Lovely generation.
Punk 1: »Ramones – Rock’n’Roll – The Real Thing«
Die erste Ausgabe von Punk kam im Dezember 1975 an die Zeitungskioske. Sofort bündelte es die unterschiedlichsten Elemente der CBGB’s-Szene. Die Titelstory war ein Interview mit Lou Reed über dessen aktuelle Platte »Metal Machine Music«, statt eines Fotos aber gab es eine bösartig gut getroffene Karikatur von Reed als »Metal Man«.
»Ich wollte was Neues im Comic«, sagt Holmstrom, »es passte zur Musik. Johnny Ramone trug immer T-Shirts mit Cartoon-Logos.« Für die erste Ausgabe von Punk ist die künstlerische Gestaltung genauso wichtig wie die Reed-Beleidigung. Die Ramones spielen auf dem Interview-Band, und sie sind auf einer Fotografie zu sehen. In einem Cartoon sieht man die Interviewer, wie sie Reed auf der Straße verfolgen. Der Effekt war direkt und gleichzeitig distanziert, eine formale Innovation, die der Zeitschrift Mad oder den Kunstgriffen der Ramones entsprach: »Dritte Strophe anders als die erste«, rufen sie auf »Judy is a Punk«, und natürlich ist sie das.
Johnny Joey and Dee Dee Ramone im CBGB's, Anfang 1976 (© Roberta Bayley)
Mary Harron, eine Kanadierin, die in Oxford Isis herausgegeben hatte, interviewte die Ramones für die erste Ausgabe von Punk. »Als ich die Ramones zum ersten Mal sah«, sagt sie, »konnte ich nicht glauben, dass Leute so etwas machen. Diese dumpfe Flegelhaftigkeit: ›Beat on the brat with a baseball bat.‹ Es gab dieses Comic-Element, und trotzdem war man an einem realen Ort, sie hätten ganz im Ernst kriminell sein können. Es hatte was: sie sahen doof-gescheit, gescheit-doof aus.«
»Die Hippiekultur hatte sich sehr dem Mainstream angenähert. Zum ersten Mal begrüßte die Boheme Fast Food. Es ging darum, ›ja‹ zur modernen Welt zu sagen. Punk, so Warhol, enthielt alles, was kultivierte Leute und Hippies verabscheuten: Plastik, Junk-Food, B-Movies, Werbung, Geldmacherei. Man hatte die ewig netten Leute satt, die ständig auf ihren Überzeugungen, ihrer Güte und ihrer Gesundheit herumritten. Punk hingegen hatte Feuer und hieß, sechzig Zigaretten am Tag zu rauchen und mit Speed die ganze Nacht wach zu bleiben.«
»Eine Sache im Punk war, in die Vergangenheit zurückzugehen und die richtigen Einflüsse herauszupicken«, sagt Holmstrom, »wir haben nichts Neues erfunden, wir nahmen einfach das, was uns am meisten beeinflusst hatte und spielten damit.« Diese Fassung von Punk enthielt ebensoviele Widersprüche wie Bands: die Ramones als Cartoonfiguren, die Konfrontationen von Suicide, der gehauchte Sixties Pop von Blondie und der Romantizismus der Jahrhundertwende von Verlaine und Hell. In den frühen Ausgaben von Punk schrieb Patti Smith über Rimbaud, Television über Gérard de Nerval und Richard Hell über Nietzsche.
»Es hatte was sehr Rigoroses«, sagt Harron. »Es gab immer ein künstlerisches Element. Es gibt ein großartiges Interview mit Richard Hell, das Legs für Punk führte. Darin zeigte sich unsere Einstellung: die Leute mussten etwas Negatives sagen. Ich mochte diese Zeit des Verfalls. Nihilismus lag in der Luft, eine Todessehnsucht. Zum Lebensgefühl in New York in dieser Zeit gehörte die Sehnsucht nach Vergessen, man war dabei, sich aufzulösen und zu zerfallen wie diese bankrotte, heruntergekommene Stadt. Und dennoch gab es da etwas, das auf mystische Weise wunderbar war.«
Ahead the dim blur an alien land
Time to give ourselves into strange god’s hands
Pere Ubu, »30 Seconds Over Tokyo« (1975)
Urbanismus, romantischer Nihilismus, musikalische Einfachheit als Tor zum Unbewussten, die Teenage News – diese Impulse waren nicht ausschließlich New York und London vorbehalten. »Von 1968 bis 1975 gab es in Cleveland eine kleine Gruppe von Leuten, die Musikstile entwickelten, die viel später ›New Wave‹ genannt wurden«, schreibt Charlotte Pressler. »Irreführenderweise, weil der Begriff die aktuelle Situation so darstellt, als existierte bereits ein Stil, auf den sich die neuen Bands bezogen. Ihre Aufgabe war eine andere: den Stil zu entwickeln und gleichzeitig darum zu ringen, die Autorität und das Selbstvertrauen zu finden, um ihn auch spielen zu können. Und das mussten sie in einem totalen Vakuum tun.«
»Cleveland ist eine Arbeiterstadt mit sehr unverbildeten Geschmäckern«, sagt der Historiker Mike Weldon, »aber aus irgendeinem Grund ist es eine wichtige Stadt für die Musikmedien. Platten haben dort ihren Durchbruch. Vielleicht ist es das Tor zum Mittleren Westen. In den frühen Siebzigern war Cleveland ein wichtiger Absatzmarkt für Bruce Springsteen, David Bowie. The New York Dolls, Television spielten dort, noch bevor sie eine Platte draußen hatten, und gleichzeitig kamen über die ausgezeichneten örtlichen Radiosender die damals besten britischen Bands raus: T. Rex, Dr. Feelgood, Roxy Music. Es gab immer eine kleine Gruppe von Leuten, die diese Musik liebte: Sie gründeten Bands und machten eigene Songs, aber sie bekamen nie Unterstützung in Cleveland. Die örtlichen Medien berichteten nicht über sie. Bis 1978 interessierte sich kein Label dafür. 1973 bis 1974 gab es eine kleine Undergroundszene, zu der Rocket From The Tombs gehörten, die später Pere Ubu wurden und von denen einige bei den Dead Boys spielten. Es gab die Electric Eels und die Mirrors. Aus Akron kamen die Bizarros, Devo. Die meisten hatten sich 1977 schon wieder aufgelöst.«
Handzettel der Electric Eels, Dezember 1974 (Im Besitz von Mike Weldon)
»Die meisten dieser Leute kamen aus der Mittelklasse oder der oberen Mittelklasse«, schreibt Pressler. »Sie waren sehr intelligent. Es gab keinen Grund, weshalb sie nicht in die Welt ihrer Eltern hätten eintreten sollen. Dennoch kehrten sie alle dieser Welt den Rücken, und das bedeutete eine Reihe sehr schmerzhafter Entscheidungen. Trotzdem waren es keine Aussteiger im Sinne der sechziger Jahre. In gewisser Weise hatten sie etwas für die Konsumgesellschaft übrig und verachteten die sogenannte Gegenkultur. Die Aussteiger der 60er Jahre verabschiedeten sich von einer Welt und traten in eine andere Welt ein, die aus Leuten bestand, die wie sie waren; jene Leute aber waren allein.«
Die Gruppen aus Cleveland verwandten dieselben Bausteine wie die in New York oder London, aber die Entwicklung in der Isolation führte zu einer Boheme, die stolz darauf war zu scheitern. »Am nihilistischsten waren die Electric Eels«, sagt Weldon. »John Morton war der Chef: Er und Dave E., der Sänger, schrieben die Songs mit lustigen, cleveren Texten. Gewalt war der Gruppe nicht fremd. John nannte es gerne ›Art Terrorism‹. Brian McMahon, der Gitarrist, und John gingen in die Bars von Stahlarbeitern und tanzten zusammen. Da kam es zu ernsthaften Schlägereien.«
»1974 trugen sie Sicherheitsnadeln und zerrissene Hemden, T-Shirts mit beleidigenden Sachen drauf, White Power Logos und Hakenkreuze: Das war anstößig. Und sie hatten die Absicht, Anstoß zu erregen. Sie wollten die Leute verwirren, aber ich glaube nicht, dass sie ausgesprochen rassistisch waren. Sie waren unerhört und außergewöhnlich. Live verloren sie oft schnell die Kontrolle. Ich glaube nicht, dass sie ernsthaft glaubten, irgendetwas würde passieren außer, dass sie rausgehen und verhaftet werden würden.«
Es war das Problem, das sich während der nächsten Jahre endlos wiederholen sollte. Indem sie versuchten, die Selbstgefälligkeit der Kultur zu sprengen, erlagen die Electric Eels genau jenem Nihilismus, der ihr Instrument war. Ihre erste Single, aufgenommen kurz bevor sie sich Mitte 1975 trennten, verband eine unmöglich verzerrte Produktion mit Worten, die die Wände hochzukriechen schienen. »Cyclotron« wirbelt mit kurz aufblitzenden, surrealen Bildern herum, die sie der riesigen Einöde der Popkultur und dem Reichtum der Vorstädte entnahmen, während sich »Agitated« direkt in das Zentrum des Sturms begibt, ein geschlossener Kreis der Frustration und Ablehnung: »I’m so agitated / So agitated / So agitated / I’m so agitated / I’m so agitated ...«
»Ich würde gerne den Ursprung dieser tiefen Wut kennen, die sich durch diese Geschichte zieht wie ein messerscharfer Draht«, schreibt Charlotte Pressler. »Sie war nicht einfach auf Klassenhass zurückzuführen; sie war gewiss nicht politisch; sie saß zu tief, um die Möglichkeit von Veränderung akzeptieren zu können. Die Eels haben sie wohl am intensivsten ausgestrahlt; aber sie war auch bei allen anderen vorhanden. Es war eine verzweifelte sture Ablehnung der Welt, eine totale Verweigerung: die Art von Angelegenheit, die Männer früher in die Wüste trieb, aber unsere Wüste war das Flachland. Wir waren alle mit Zivilschutzübungen und nächtlichen Träumen über die Bombe aufgewachsen. Man hatte uns als Kindern das Ende der Welt versprochen, und jetzt bekamen wir es nicht.«
Die isolierten Leute aus Cleveland hatten zwei Möglichkeiten, diese Ablehnung auszuleben. Die erste war, ihren ganzen Zorn herauszuschleudern. Die zweite, das Drehbuch der Selbstzerstörung zu schreiben, ein Drehbuch, das die Intensität des Begründers des Teenagermythos, James Dean, wieder anklingen ließ. »Ain’t it fun when you know you’re gonna die young«, sang Peter Laughner Anfang 1975: In zweieinhalb Jahren hatte er sein Ziel erreicht. Mit siebzehn hatte Laughner in einer Lederjacke posiert und sich eine schwere Kette mit Vorhängeschloss um den Hals gelegt. Seine unausgesetzten Bemühungen, die Negationen der Velvet Underground und der Stooges fortzuführen, machten ihn »zu einer zentralen Figur des Underground in Cleveland«.
1973 gründete Laughner Rocket from the Tombs mit David Thomas, ein Bär von einem Mann, der eigentlich Englisch-Professor werden wollte. Nachdem Laughner ausgestiegen war, wurde die Gruppe zu Pere Ubu. Ihre erste Single stand in der Tradition der romantischen Vorstellung von Avantgarde, die in Alfred Jarrys Paris begonnen hatte. Scott Krauss’ federnde Schlagzeugrhythmen und Tim Wrights finstere Bassläufe reisten ohne Umweg ins »Herz der Finsternis«: »Image Object & Illusion: go down to the corner / Where none of the faces fit a human form / Where nothing I see there isn’t deformed.«
Pere Ubu entstand aus einer losen Gruppe von Leuten, die alle in der Nähe desselben Wohnblocks, dem Plaza, wohnten. »Es war ein wirklich schönes altes Gebäude in einer schrecklichen Gegend«, sagt David Thomas. »Wir standen auf diesen urbanen Pioniergedanken, ein Haufen Kids, die in Mittelklassefamilien in den Vorstädten geboren worden waren und zurück in die Stadt zogen, weil sie fanden, dass die Stadt leben sollte. Die Stadt, die ich liebte, wurde von allen anderen gehasst: Sie war völlig verlassen, die Leute flohen, sobald die Sonne unterging. Sie war heruntergekommen, aber wir fanden sie als romantisch veranlagte Jugendliche schön. Ich fragte mich, an welchem Punkt eine Zivilisation ihren Höhepunkt überschreitet und wann der Niedergang beginnt. Diese ganzen ausgestorbenen Städte werden vom Dschungel überwuchert. Wann stirbt die Stadt? Wann verstehen die Leute, die dort leben, die Vision der Bauherren nicht mehr? Wir hatten das Gefühl, dass uns Cleveland gehörte, weil es niemand sonst haben wollte. Aber das ist jetzt alles verschwunden. Die Stadt wurde wieder zum Leben erweckt. Und nun reißen sie das wirklich hübsche unbewohnte alte Zeug ab und stellen Eigentumswohnungen hin.«
Pere Ubu waren die erste neue Gruppe aus Cleveland, die es außerhalb der Stadt schaffte. Im Winter 1975 fuhren sie nach New York, um im Max’s und CBGB’s zu spielen. Im März 1976 veröffentlichten sie »Final Solution«, eine zu einem »dumpfen Teenager Angstsong« vereinfachte Version von »Summertime Blues« von Blue Cheer. Das Stück war so nihilistisch, dass sich die Gruppe weigerte, es live zu spielen, wegen der Nazisymbole, die in der neuen Kultur kursierten. Es war ihre erste A-Seite, welche die Traumlandschaft umriss, die sich Pere Ubu zu eigen machte. Unterbrochen von einem Synthesizer, der wie tosender Wind polterte, wurde man von »30 Seconds Over Tokyo« auf einen »selbstmörderischen Trip« mitgerissen, der einem derart zusetzte, dass man sich in einer Zukunft aufzulösen schien, die gleichermaßen hoffnungsvoll und entsetzlich war.
»Lose his senses«, sangen Television in »Little Johnny Jewel«. Mit solchem Ergründen des Unbewussten wurden die fremden Götter der Zeit wieder ausgegraben. Unter dem Mantel des Nihilismus verbarg sich ein undeutlicher, aber hartnäckiger Hinweis auf die rechtsgerichtete Reaktion, die sich im Westen seit Mitte der Siebziger zusammenbraute. »Wir glauben nicht an Liebe oder diese Scheiße«, sagt einer der Herausgeber von Punk in der ersten Ausgabe, und im Interview mit den Ramones war zu lesen: »Dee Dee mag Comics, alles mit Hakenkreuzen drin, besonders Enemy Ace.«
Endgültige Lösungen der unterschiedlichsten Art wurden heraufbeschworen, um den Tod der alten Kultur zu beschleunigen, aber die Nazisymbole blieben. Die Ramones waren ursprünglich von einem Künstler namens Arturo Vega ausstaffiert worden, der im Obergeschoss des Hauses neben dem CBGB’s wohnte: »Alle hingen da rum«, sagt Legs McNeil: »Arturo war ein schwuler Mexikaner und ein minimalistischer Künstler, der Hakenkreuze herstellte, die im Dunkeln leuchteten.« Das frühe Material der Ramones war mit militaristischen Anspielungen auf akronyme Organisationen wie dem CIA oder der SLA (Symbionese Liberation Army) übersät, am deutlichsten in »Blitzkrieg Bop« und »Today Your Love, Tomorrow The World«. »What they want, I don’t know«, sangen die Ramones über ihre Generation. Die formale Strenge ihrer Musik verlieh solchen Slogans eine faszinierende Vieldeutigkeit. »Ich stritt mich mit ihnen über dieses Zeug«, sagt Mary Harron, »Arturo hatte ein paar wirklich eklige Ideen, aber Joey Ramone war ein netter Kerl, er war kein fieser Rechter. Die Ramones waren problematisch. Es war schwer dahinterzukommen, wie sie politisch dachten.«
»The Dictators kamen aus Co-op City in Detroit, die Ramones aus Forest Hills, wir kamen aus Cheshire«, sagt McNeil. »Wir hatten alle dieselben Bezugspunkte: White Castle Hamburger, Muzak, Einkaufszentren. Wir waren alle weiß: Schwarze hatten damit nichts zu tun. Die Hippies wollten in den Sechzigern immer schwarz sein. Wir sagten:
›Scheiß auf Blues, scheiß auf black experience.‹ Wir hatten damals mit schwarzen Leuten nichts gemein: Wir hatten zehn Jahre lang political correctness, und jetzt wollten wir Spaß, so wie das bei Kids eben ist. Es war merkwürdig: Man sah Typen, die in einen Punk-Club gingen und auf dem Weg in die Disco an schwarzen Leuten vorbeiliefen. Sie sahen sich gegenseitig an, nicht mit Abscheu, aber man sah, wie sich die einen fragten: ›Ist es nicht komisch, dass die da rein wollen.‹ Es gab ganz klare rechte Zwischentöne, aber wir fühlten uns nicht nach ›lasst uns eine faschistische Jugendbewegung starten‹ oder so. Ich glaube, niemand wollte da zuviel hineininterpretieren. Es war mehr emotional. Wenn die Symbolik benutzt wurde, war das mehr wie: ›Schaut euch diese Typen an, ist das nicht blöd?‹«
Dieser Aspekt der Polemik und der Pose verschleierte die wahre Wiederkehr des Verdrängten: Ein weißer, vorstädtischer, pubertärer Nihilismus, der seit den sechziger Jahren in Vergessenheit geraten war. Ebenso wie die Musik von jedem schwarzen Einfluss zugunsten eines monolithischen, unsynkopierten Sounds befreit wurde, verhießen einige der dazugehörigen Haltungen sowohl auf den Kitzel des Tabubruchs als auch auf einen üblen Beigeschmack aufgrund der möglichen Implikationen. Dennoch war diese Erkundung des Verbotenen im Punk der Ursprung seiner Macht.
Nichts verdeutlicht das besser als das Kleidungsstück, das vor allen anderen mit Punk in Verbindung gebracht werden muss; das Kleidungsstück, das Punk aus dem Tabu heraus und in die Einkaufsstraßen brachte. »Man musste eine schwarze Lederjacke kaufen«, sagt Legs McNeil. »Man musste diese Grundinvestition tätigen. Wir sahen uns die Ramones im CBGB’s an. Wir trugen diese trotteligen T-Shirts und Jeansjacken. Es war peinlich. Die Ramones trugen Lederjacken: Joey sagte, sie hätten sie von The Wild One. Ich ging am nächsten Tag los und kaufte mir meine erste. Niemand in New York trug schwarzes Leder: wenn doch, machten einem die Leute auf der Straße Platz. Es war nicht wie jetzt. Die Leute wollten zurück zur Aggression, wollten beweisen, dass sie keine Weicheier waren und zogen eine Lederjacke an.«
In der neuen von Punk definierten Ästhetik gab es ein letztes Problem: Homosexualität. Das Wort mochte alle schon bekannten rockspezifischen Bedeutungen haben, aber ein anderer Ursprung kam aus dem Knast, wie Peter Crowley in Punk Nummer 3 erklärte, wo es »die Jungs bezeichnet, die ihren Arsch für die ›Wölfe‹ hergeben.« Gleichzeitig piesackten die Ramones die Liberalen, sie sangen »53rd and 3rd«, ein Song, in dem Dee Dee Ramone seine Erfahrungen beschrieb, als er sich auf einem Stricher-Treffpunkt herumtrieb. Die zerrissenen Jeans und engen T-Shirts, Elemente ihres Stils, der schnell um die Welt gehen sollte, waren den Jungs dort abgeguckt.
Punk musste also den Makel der Homosexualität abschütteln, nicht aufgrund kleinstädtischer Vorurteile, sondern weil in den Worten von Leee Black Childers »Schwule den Großteil des Publikums darstellten«. Es wurde zu einer Möglichkeit für Punk, das Unsagbare in einem pluralistischen, liberalen Milieu zu sagen. »John und Legs schrieben ein paar Sachen über Wayne County und traten damit einen riesigen Krieg los. Eine Menge der Bands, für die sie eintreten wollten, wie Blondie, weigerten sich, eine Rolle in diesem anti-homosexuellen Schaustück zu übernehmen. Das ist prima: In einer wachsenden Szene macht es eine Weile lang Spaß, eine Fehde auszutragen. Es schafft Interesse.«
Als die Gruppen aus dem CBGB’s Schritte in Richtung des amerikanischen Mainstream unternahmen und im ständigen Austausch zwischen London und New York anfingen, Einfluss auf England auszuüben, blieb der amerikanische Punk diesen Widersprüchlichkeiten verhaftet. Im Herbst 1975 veröffentlichte die Patti Smith Group ihre erste Langspielplatte. Television zogen die Aufmerksamkeit von Plattenfirmen auf sich, ebenso wie die Ramones, Blondie und die Talking Heads, und zwar in einem Maße, das für die New Yorker Rock-Szene ungewöhnlich war und teilweise der erfolgreichen Übersetzung des CBGB’s durch Punk zu verdanken war, die Plattenfunktionären wie Seymour Stein unmittelbar einleuchtete.
Allerdings schlummerten in dieser Verbindung Probleme, deren Lösung mehrere Jahre in Anspruch nehmen würde. Wie konnte man gleichzeitig hart und ein Versager sein? Wie konnte man mit rechter Symbolik spielen und nicht darauf reinfallen? Wie konnte man einen Text von Rimbaud nehmen und die mythologische Kurve seines Lebens ignorieren? Von Beginn an war in Punk nicht nur die Tendenz zur Selbstzerstörung, sondern eine kurze Haltbarkeitsdauer eingeschrieben. Trotz der Bekundungen vieler Gruppen trug die Bewegung ihr Scheitern in sich: Auf konventionelle Art erfolgreich zu sein, hieß, dass man nach den eigenen Maßstäben gescheitert war. Scheitern bedeutete, erfolgreich zu sein.
John Lydon in St. Albans, Hertfordshire College of Art and Design, Februar 1976 (© Ray Stevenson)