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»Ohne Steve Jones hätte es keine Band gegeben«, sagt McLaren, »weil Steve ein Straßenkind ist. Er war derjenige, der ständig geklaut hat, derjenige, den ich schnappen musste, und schließlich kam es dabei zu dem schicksalsträchtigen Augenkontakt. Ich wurde von ihm verführt. Es war wie bei Larry Parnes und Billy Fury. Man hatte diesen unglaublichen, geheimen Augenkontakt. Man musste nicht über T.S. Eliot oder Gene Vincent sprechen, es gab da einfach eine Art gegenseitiges Verstehen.«

Die offizielle Betrachtungsweise der Sex Pistols ist, dass McLaren einer Gruppe von Losern zu internationaler Bekanntheit verhalf, dass er das A und O der Gruppe war. Tatsächlich war es Steve Jones, der als erster die Idee hatte, die Band oder irgendeine Band mit McLaren zusammenzubringen. Er suchte sich McLaren aus, nicht umgekehrt. Es war Jones’ Beharrlichkeit und schließlich seine Präsenz, die den ruhelosen, aber ehrgeizigen Ladenbesitzer davon überzeugte, sich für die Band einzusetzen, aus der die Sex Pistols entstanden.

»Man braucht den groben Rohstoff der Arbeiterklasse und Mittelklassekids, damit die Gruppe funktioniert«, sagt Bernard Rhodes, der für die anfängliche Richtung der Sex Pistols ebenso verantwortlich war wie McLaren. Pop ist eines der wenigen Gebiete in der englischen Gesellschaft, wo Mitglieder verschiedener Klassen sich unter annähernd gleichen Bedingungen begegnen. Seine Geschichte steckt voller Wechselwirkungen zwischen oft jüdischen und häufig homosexuellen Unternehmern aus der Mittelklasse und männlichen Künstlern aus der Arbeiterklasse. Wenn Sex keine Rolle spielt, dann aber auf jeden Fall eine Art Phantasie: Der Künstler lebt aus, was der Manager selbst aufgrund seines Alters oder seiner Hemmungen nicht ausleben kann.

McLaren war völlig eingenommen von Larry Parnes, dem Nestor des englischen Rock’n’Roll und dem Begründer dessen, was wir heute unter englischer Musikindustrie verstehen. In den späten 50er Jahren versammelte und managte Parnes eine Reihe englischer Rock’n’Roll-Sänger mit schillernden Pop-Namen: Billy Fury, Vince Eager, Duffy Power, Dickie Pride. Er war McLarens Vorbild. »Malcolm erklärte mir ganz unverblümt, dass Johnny Kidd größeren Einfluss auf seine Generation ausgeübt habe als Bob Dylan«, sagt Nick Kent, »er war verliebt in den Mythos des Rockstars aus der Arbeiterklasse, der kaum fähig war, sich klar auszudrücken.«

Steve Jones und McLaren passten so perfekt zueinander wie Artful Dodger und Fagin in Dickens’ Roman Oliver Twist. Geboren am 3. September 1955 war Steve das einzige Kind eines Profi-Boxers und einer Friseuse. »Ich wuchs in der Nähe der Goldhawk Road auf«, sagt er. »Kleine Straßen. Westinder und Iren. Wild.« Seine Kindheit verlief durch die gescheiterte Ehe der Eltern und der darauffolgenden erneuten Heirat seiner Mutter traumatisch. Jones verstand sich nicht mit seinem Stiefvater, und die ersten Schwierigkeiten tauchten in der Schule auf, die er bereits sehr früh schwänzte.

Trotz seiner ausgesprochenen Schlagfertigkeit blieben seine verbalen Fähigkeiten unterentwickelt, und als er seine Teenagerzeit hinter sich hatte, bereitete es ihm große Mühe, zu lesen und zu schreiben. Seine eigentliche Ausbildung holte er sich von der Straße, wo er sich schnell die Fähigkeit erwarb, Situationen auf einen Blick einschätzen zu können, die anderen mit umfassenderer Bildung oft versagt bleibt.

»Ich war Skinhead«, sagt er, »bin zu Fußballspielen gegangen und habe Randale gemacht. Queens Park Rangers, Chelsea, Fulham. Habe nie das Spiel gesehen. Aufmischen hinterher unten am Shepherd’s Bush Market, das war’s.«

Jones war unbezähmbar, aber hinter dieser sturen Einstellung war er sensibel und überraschend verletzlich. Seine Frustration entlud sich in Hyperaktivität. Seit frühester Teenagerzeit war er kleptoman. »Eine meiner frühesten Erinnerungen an ihn war«, sagt Paul Cook, »wie er in einem Keller an diesen Fahrrädern herumbastelte, die er gestohlen hatte.« Sexbesessenheit ist eine andere Facette seines Charakters: Bereits mit 15 verspürte Jones diesen Zwang.

Paul Cook wuchs in derselben Londoner Gegend auf wie Jones, auf der südwestlichen Seite von Shepherd’s Bush – eine große, vorrangig proletarische Gegend, die sich im Westen direkt an die reiche Londoner Innenstadt anschließt und sich hauptsächlich aus viktorianischen Reihenhäusern zusammensetzte. Mitte der 60er Jahre war Shepherd’s Bush vor allem eine Gegend der Mods und der Tummelplatz der Who. In Richtung Hammersmith waren die Wohnverhältnisse eher kunsthandwerklich: »Steve wohnte bei mir um die Ecke«, sagt Cook, »was eine sehr angenehme Gegend ist. Wir sind in verschiedene Grundschulen gegangen, aber seine Mutter kannte meine Mutter.«

Jones war eigensinnig und furchtlos, aber Paul Cook war das Fundament. Bis heute hat er sich eine gewisse Stabilität bewahrt: Von allen Hauptfiguren im Drama der Sex Pistols ist er noch immer der ungekünsteltste. Er wurde am 20. Juli 1956 geboren, das zweite von drei Kindern und der einzige Junge. Sein Vater war Zimmermann und Schreiner, seine Mutter ging Gelegenheitsarbeiten nach. Die Familie war stabil, und er wuchs zu einem hart arbeitenden, »ruhigen und gewissenhaften« Jugendlichen heran, bis er mit Steve Jones herumzuhängen begann. Seine Zeugnisse wurden immer schlechter.

»Eine bestimmte Gruppe von uns interessierte sich immer für Musik«, sagt Cook, »und das, was gerade in war, und so wurden wir Freunde. Wenn ein Club angesagt war, sind wir hingegangen: Es war immer Reggae, Motown. Ich mochte damals keine Rockmusik. Ich bin gern dort aufgewachsen, stellte ständig irgendwas an. Es gab so viel zu tun: Es gab ganz London zu erkunden.«

Mit 15 verließ Jones seine Eltern und lebte bei seinem Freund Stephen Hayes, bevor er bei den Cooks einzog. Die drei führten meistens irgendetwas im Schilde: Jones war der aktive Anstifter und Cook derjenige, der bisweilen unwillig mitmachte. »Er war nie einer, den es zu Schurkereien trieb«, sagt Jones. Sie schwänzten systematisch die Schule, und wie sich Cook erinnert, fanden sie bald einen Stützpunkt.

»Es gab da diesen Typen namens Wally, der um die Ecke der Schule in der Hemlock Road wohnte, und mit fünfzehn waren wir immer bei ihm zu Hause. Er spielte Gitarre, und uns gefiel die Idee, mit ihm zusammenzuspielen.«

»Es hätte jeder andere sein können«, sagt Warwick Nightingale, der erste Gitarrist der entstehenden Gruppe. »Paul war in meiner Klasse, Steve war eine Klasse drunter. Da waren 1200 Kinder: Es war eine harte Schule. Ich kam durch das erste und zweite Jahr, aber im dritten Jahr hatte ich alles durchschaut und hörte auf, hinzugehen. Ich versuchte, eine Band zusammenzukriegen. Ich hatte eine Gitarre und einen Verstärker, eine Les Paul-Kopie. Nachdem ich die Schule verlassen hatte, hing ich mit ihnen herum, weil ich Steve mochte. Er war lustig, und er sorgte dafür, dass etwas passierte.«

Das Ritual des Popstars fordert Opfer, und es war Warwick Nightingales Los, der Pete Best der Sex Pistols zu werden, rausgeschmissen vor dem Erfolg. Wally, die Abkürzung seines Taufnamens, bedeutet umgangssprachlich Idiot, und als solcher ging er in den Sex-Pistols-Mythos ein. Heute ist er in sich gekehrt, verdrossen, neigt zu Okkultismus und lebt in zerrütteten Familienverhältnissen. Warwick wanderte in den frühen 80er Jahren wegen Drogendelikten ins Gefängnis. Es überrascht nicht, dass seine Erzählungen über diese Jahre bitter sind. »Keiner der beiden hätte eine Band gegründet«, sagt er.

»Paul war ganz in Anspruch genommen von seiner Lehre als Elektriker. Steve wäre ein Kleinkrimineller geworden, ganz einfach. Stephen Hayes endete als Punk, eine schwache Persönlichkeit. Ich war der einzige, der spielen konnte.«

Anfänglich waren die Sex Pistols ein Vorwand, die Schule zu schwänzen. Steve Jones und seine Satelliten hatten die Pop-Phantasie der Verwandlung voll und ganz akzeptiert, aber sie waren gewöhnliche Jugendliche, hatten ihre Nasen gegen das Schaufenster gedrückt, und es gab keine Möglichkeit für sie, hineinzukommen. Der Mainstream-Pop jener Tage war Rock, der phantastisch, teuer und noch immer von der Mod-Generation der mittleren 60er Jahre bevölkert war, inzwischen zehn Jahre älter als die Sechzehnjährigen, für die sie zurückhaltende Hymnen komponierten. Steve Jones wollte Rod Stewart sein, aber was für eine Chance hatte ein Haufen schmuddeliger Prolls aus Wormholt?

Jones beschloss, das Problem auf die ihm einzig bekannte Weise anzugehen. »Wir haben es immer irgendwie geschafft, umsonst reinzukommen, wenn Steve da war«, sagt Warwick, »es machte uns nichts aus, auch mal eine Tür einzuschlagen. Wir fuhren nach Wembley, um die Faces und die Dolls zu sehen. Um reinzukommen, mussten wir die Türfüllung rausreißen. Wir gingen ganz nach vorn, dann hinter die Bühne, tranken Backstage ihre Drinks. Rod Stewart stand einfach nur da. Wir tranken ihren ganzen Champagner und hatten viel Spaß. Sie wussten nicht, wer zum Teufel wir waren, sie ließen uns einfach machen.«


Von links nach rechts: Steve Jones, Warwick Nightingale und Paul Cook, Anfang 1974 (Im Besitz von Warwick Nightingare)

»Zu dieser Zeit liefen wir auf der King’s Road rum und besorgten uns die Klamottten an den gleichen Orten wie sie – Alkasura, Granny Takes A Trip. Steve klaute das Zeug, weil er dieselben Klamotten tragen wollte wie Rod Stewart. Da war ein Typ namens Tommy Roberts: Wir haben ihn ausgenommen, nahmen jedes einzelne Kleidungsstück, das er in dem City Lights Laden hatte. Dort ließen sich David Bowie und Bryan Ferry ihre Anzüge machen. Wir zogen diese ganzen Klamotten an und fuhren in einem gestohlenen Jaguar die King’s Road runter zum Drug Store oder zum Roebuck

Nachdem es beschlossene Sache war, eine Band zu gründen, ging Jones im Winter 1972-73 methodischer vor. Die nächsten drei Jahre klapperte er die Häuser der angesagten Popstars ab: Diejenigen, die er mochte, beklaute er. »Es war der Reiz, es zu tun, die Aufregung, das Abenteuer«, sagt er. Nur dann fühlte er sich lebendig. Aus Ronnie Woods Villa in Richmond Hill stammte ein Pelzmantel, aus dem Haus von Keith Richards im Cheyne Walk ein paar Klamotten und ein Farbfernseher. Dringender aber war die Beschaffung von Instrumenten und einer PA für die Anfängerband. »Dadurch hatten wir etwas, um unsere Energien zu kanalisieren«, sagt Paul Cook. »Wir wussten, dass wir eine Band wollten, und wir konnten uns unmöglich eine Ausrüstung leisten, also haben wir sie gestohlen.«

Es war stets ein faires Spiel, und je riskanter es war, desto besser. Einige Teile eines Premier Schlagzeugs wurden aus den BBC-Studios in Shepherd’s Bush entfernt: Paul Cook sparte, um den Rest zu kaufen. Er war der einzige, der damals arbeitete. Der größte Teil der PA stammte aus einem Laster, der in der Nähe des Flusses in Hammersmith parkte und einer Kabarett-Gruppe gehörte. Zwei Ständer und ein Verstärker wurden einer Reggae-Band in Watford geklaut. Einen Fender Bass ließ man aus einem Transporter in Acton mitgehen, und ein Strobe Tuner war die Beute nach einem Roxy-Music-Konzert. Zwei Gitarren, einschließlich einer echten Les Paul, stammten aus Rod Stewarts Villa in Windsor.

Den größten Coup landete die Bande im Juli 1973. David Bowie, damals auf dem Höhepunkt seines ersten Berühmtheitsschubs, gab ein großes Konzert im Hammersmith Odeon. Das Ereignis sollte von D.A. Pennebaker für eine spätere Kinoaufführung gefilmt werden. Der Einlass war für sie kein Problem, da sie dort Stammgäste waren. Drin versteckten sie sich bis nach Einbruch der Nacht. »Da war ein Sicherheitsbeamter, aber der schlief«, sagt Warwick. »Wir gingen mit einer Zange auf die Bühne und schnitten die Kabel durch. Wir packten die ganze PA, jedes einzelne Mikrofon ein. RCA nahm das Konzert auf, also standen da Neumann-Mikrofone herum, ungefähr fünfhundert Pfund pro Stück. Vorher hatte Steve einen Minibus geklaut, um das Zeug wegzukarren. Ich und Steve waren es gewesen: Paul wollte nicht mitkommen.«

Jetzt hatten sie die Ausrüstung, aber was sollten sie spielen? In einer seltsamen Hommage hatten sie jene Gruppen bestohlen, die waren, wie sie sein wollten. Ihre kriminelle Vorliebe verweist auf eine Art Pop, die die Jugendlichen der Arbeiterklasse 1973 attraktiv fanden. Es bestand ein gewisser Widerspruch zwischen dem Jungsrock von Rod Stewart, Gary Glitters Stadiongesängen und dem sexuell zweideutigen Hard-Rock von David Bowie und Roxy Music. Die Faces zeigten, dass Rock gutgelaunte Kameradschaftlichkeit nicht ausschloss, während David Bowie und Roxy Music trotz des Lurex-Glanzes den Ideen Vorrang einräumten.

Der Autodidakt Bowie verstand instinktiv, dass die Medien und die Popkultur – zumindest in England – die Bereiche waren, aus denen der Großteil der unzufriedenen Teenager Informationen über die Welt bezog. Anfang 1970 zollte Bowie ausdrücklich Velvet Underground, William Burroughs und Iggy Stooge seine Anerkennung. Das Album, mit dem er den Druchbruch schaffte, »Ziggy Stardust and the Spiders from Mars«, war die erste postmoderne Platte mit Songs über einen mythischen Popstar. Ein verblüffender Kunstgriff, der ihn selbst zum Star machte.

Roxy Music erlangten ebenfalls Mitte 1972 Berühmtheit, waren aber intellektueller. Bryan Ferry war von Richard Hammilton in Newcastle unterrichtet worden und verband anspielungssreiche Pop-Art-Empfindsamkeit mit großen Hits wie »Virginia Plain«. Wenn überhaupt, dann war Roxy Music sehr viel ungewöhnlicher konstruiert als Bowie: Ihre Plattenhüllen zeigten extravagant gekleidete Models und nannten die Stylisten. Auch musikalisch waren Roxy radikaler. Ihre größte Innovation war der Einsatz des ungeschulten Brian Eno am Synthesizer. Wie die New York Dolls machten sie darauf aufmerksam, dass Stil wichtig ist, nicht musikalisches Können.

1974 gingen die Lichter aus: Die Anhebung der Ölpreise durch die OPEC im Vorjahr stieß eine bereits instabile Wirtschaft in die Rezession. Durch die drei-Tage-Woche im vorausgehenden Dezember bereits ins Wanken geraten, war die Heath-Regierung schließlich im Februar einem erfolgreichen Bergarbeiterstreik und dem Zusammenbruch der Kredite, mit denen man die Krise zu meistern gedachte, zum Opfer gefallen. Die lange Nachkriegsparty war vorbei und damit auch das demokratische Konsumentenideal. In der Werbung, die die Erlebniswelt der Teenager verherrlicht hatte, betrachtete man die Jugend jetzt beunruhigt als Problem. Vandalen und Kinder ohne Zukunft waren keine Konsumenten.

Dieses Gefühl setzte Stanley Kubrick mit dem Film »Clockwork Orange« wirkungsvoll in Szene. Vordergründig die Vision einer hypothetischen, alptraumhaften Zukunft, schien der Film, in dem absonderlich gekleidete und mit Drogen vollgepumpte Jugendliche in einer postindustriellen Stadtlandschaft Amok laufen, vielen Leuten einer Dokumentation über England zu ähneln. »Clockwork Orange« wurde mit Richard Allens Skinhead-Romanreihe, die die verschiedenen Subkulturen der Arbeiterklasse in den frühen 70er Jahren darstellte, in die Gegenwart übertragen. New English Library (NEL) Taschenbücher wie Suedehead, Boot Boys und Glam berichteten vom Hereinbrechen einer brutalen, willkürlichen Welt.

Das war der Pop, mit dem die spätere Punkgeneration aufwuchs. Cook und Jones wussten die Faces natürlich zu schätzen, aber die affige Brutalität im Glam erweiterte ihren Ausblick auf das, was möglich war. Wenn sie irgendeine Vorliebe hatten, dann für Gruppen, die Glam mit Jungsrock zusammenbrachten, wie Mott the Hoople und die New York Dolls. »Sie waren so lustig in ›The Old Grey Whistle Test‹«, erinnert sich Paul Cook, »sie waren so anti-alles, wie sie herumtorkelten und in ihren Plateaustiefeln übereinander fielen.« Trotz der Tatsache, dass die Sex Pistols später als radikaler Bruch mit der gesamten Vergangenheit des Pop dargestellt wurden, lauerten die Glam-Kadenzen immer in der Rhythmusgitarre und dem Schlagzeug, ob in den geklauten Mud-Riffs von Jones oder in Cooks Schlagzeug, auf das er wie sein Held, Paul Thompson von Roxy Music, eindrosch.

Die Gruppe, die sich 1973 um die gestohlene Ausrüstung herum formierte, nannte sich nach einem Song von Roxy Music »The Strand«. Steve Jones war der Sänger, Paul Cook spielte Schlagzeug, Warwick Nightingale Gitarre, Jimmy Mackin Orgel und Steve Hayes Bass. »Wir probten im Furniture Cave, ganz unten am Ende der King’s Road«, sagt Warwick. »Wir spielten Coverversionen von Rod Stewart wie ›It’s All Over Now‹, ›Twisting the Night Away‹ und Small Faces-Zeug wie ›All or Nothing‹ oder ›Sha-La-La-La-Lee‹. Wir haben es rausgehauen, aber Steve war kein guter Sänger, er wollte gerne wie Rod Stewart sein, aber irgendetwas hielt ihn zurück.«

Innerhalb weniger Monate blieben die Freunde von Jones weg:

»Sie waren nicht wirklich auf Teufel-komm-raus bei der Sache«, kommentiert Paul Cook. Es blieb der Kern: Cook, Jones und Nightingale. Wie Johnny Holland und seine Jolly Green Men in Allens Teenybop Idol brauchten The Strand einen Brennpunkt für ihre kriminelle Energie. Für Steve Jones gab es eine gewisse Notwendigkeit, den Gang in den Knast zu vermeiden. Im Frühjahr 1974 war er bereits wegen Einbruch, Diebstahl von Zündschlüsseln, Diebstahl eines Kraftfahrzeugs und Fahrens ohne Führerschein, unversichert und minderjährig, verurteilt worden.

Die Antwort lag mit Sicherheit in der King’s Road, die Jones inzwischen nun schon seit gut zwei Jahren aufsuchte. »Als ich anfing, runter in Malcolms Laden zu gehen, hieß er noch Let it Rock«, sagt Steve Jones. »Es gab die anderen Läden, wo die Rock’n’Roller hingingen, Grannys und Alkasura, aber Malcolms Laden war cool, weil man dort rumhängen konnte. Niemand kam angerannt und sagte: ›Kann ich Ihnen helfen‹. Wir saßen einfach nur da und beobachteten die Leute, die reinkamen. Ich fand Malcolm ein bisschen idiotisch, ein bisschen pervers. Aber er war anders. Ich versuchte trotzdem, Zeug zu klauen.«

McLaren war der naheliegendste Kandidat: Er wusste ein wenig über Musik Bescheid, und er hatte durch die Ladenkundschaft Kontakte. Nach dem Erscheinen von Nick Kents Artikel »The Politics of Flash« fragte Jones: »Weißt du, wo wir einen Proberaum herkriegen? Ich versuche, eine Band zusammenzubekommen.« Mit dem Umbau des Ladens beschäftigt, biss McLaren für ein paar Monate nicht an, bis er, mürbe durch Jones Beharrlichkeit, einen Raum im Covent Garden Community Centre bezahlte.

Als McLaren einige Tage später kam, um sie sich anzuhören, präsentierte sich ihm eine Gruppe, die keinen ständigen Bassisten hatte und keinerlei Bühnenpräsenz. Als sie mit der Nummer begannen, die sie endlos geübt hatten, »Can’t Get Enough of Your Love«, vergaß Jones den Text und brach mitten im Song ab. Nightingale hatte das Riff drauf, aber sonst nichts. Cook konnte den Rhythmus am Schlagzeug nicht halten, und bei seinem Cousin wurde recht deutlich, dass er nur eingesprungen war. Die Gruppe schlingerte mehrmals durch »Wild Thing«. Es war ein Massaker, aber McLaren blieb dabei: »Ich hatte Sympathie für diese Jungs, weil sie ein bisschen spitzbübisch, schurkisch und ein bisschen wahnsinnig zu sein schienen.«

Als erstes ging es darum, einen engagierten Bassisten zu finden. Im Sommer hatte Vivienne Westwood einen jungen Kunststudenten, Glen Matlock, während ihrer Reise nach New York als Vertretung im Laden eingesetzt. Obwohl McLaren ihn still und reserviert fand, spürte er eine gewisse bohemienartige Lebendigkeit bei ihm. Matlock hatte Cook, Jones und Nightingale bereits getroffen, aber niemand war auf die Idee gekommen, sie zusammenzubringen, bis McLaren herausfand, dass Matlock in der Schule Gitarre gespielt hatte. Eines Abends, im Marquee Club, brachte McLaren die vier zusammen.

Obwohl er aus derselben Londoner Gegend kam wie Cook und Jones, hätte Glen Matlock aus einer anderen Welt stammen können. Er wurde am 27. August 1956 geboren und war das einzige Kind zweier Büroangestellter. Er wuchs zu einem Einzelgänger heran: »Sogar jetzt halte ich mich für ein bisschen schüchtern«, sagt er. »Ich gehe einfach gern alleine weg.« Er verbrachte seine frühe Jugend in Kensal Rise, einem traditionellen Arbeitervorort im Nordwesten der Stadt. »Es ist wie ein Dorf innerhalb von London«, sagt Matlock, »aber es liegt ziemlich zentral.«

Laut eigener Aussage verstand sich Matlock gut mit seinen Eltern. 1968 bestand er die Aufnahmeprüfungen zum Gymnasium und wurde auf der St. Clement Danes Grammar School aufgenommen, direkt neben Wormwood Scrubs. Hier traf er zum erstenmal Paul Cook, improvisierte Fußballspiele auf dem Gelände der Scrubs. Als er noch im letzten Schuljahr war, begann Matlock, samstags in der King’s Road 430 zu arbeiten. »Ich ging in diesen Teddy Boy-Laden, um ein paar Creepers zu holen. Ich mochte ihn und fragte, ob sie eine Aushilfe bräuchten: Ich bekam sieben Pfund für einen sieben-Stunden-Tag. Als ich anfing, hatte sich der Laden gerade verändert: Michael Collins arbeitete dort und ein Mädchen namens Elaine Wood. Sie hatten gerade mit den Zoots angefangen, aber es kamen auch eine Menge jüngerer Kids.«

Matlock und Warwick Nightingale halfen ohne Bezahlung bei der Renovierung des Ladens im Frühjahr 1974. Matlock sah gut aus, war eifrig und besaß einige musikalische Kenntnisse. »Beim ersten Vorspielen ging ich zu Wally nach Hause, und sie sagten: ›Also, was kannst du spielen?‹ Ich sagte, dass ich die Faces mochte, und das taten sie auch. Ich hatte diesen Faces-Song gelernt, ›Three Button Hand Me Down‹, der eine ziemlich komplizierte Bass-Passage hat, und ich konnte ihn damals viel besser spielen als heute. Also sagte ich, dass ich ihn spielen könnte, und noch bevor ich fertig war, sagten sie: ›Der tut’s‹.« Nachdem seine Eltern nach Greenford gezogen waren, ein trister Außenbezirk, lebte Glen kaum mehr zu Hause, aber für McLaren und die anderen in der Gruppe blieben die Vororte an Glen haften, der ohne eigenes Zutun der ewige Außenseiter in der Gruppe blieb. Still, freundlich, oft gedankenverloren, war er nicht die richtige Besetzung für McLarens Sammlung aus Abtrünnigen und Delinquenten. »Als ich McLaren das erste Mal traf, wirkte er ein bisschen unvorbereitet auf mich, weil ich so normal war«, sagt Matlock. »Ich hab mich eigentlich nie mit Glen verstanden«, sagt Steve Jones. »Ich fand ihn ein bisschen schwuchtelig, er war keiner von uns.«

Jones nutzte den Klassenunterschied aus, indem er auf Matlocks Unschuld herumritt, was kriminelle Aktivitäten anging. Gerade nachdem sie zusammen zu üben begannen, hatte sich Jones mit einem Bass aus einem Laden in der Shaftesbury Avenue davongemacht, um seine damalige Freundin zu beeindrucken. Später schenkte er Matlock den Bass. Er sollte ihn verkaufen. Glen trug ihn runter zur Charing Cross Road, und als er gerade anfing, sich zu wundern, warum es so lange dauerte, wurde er am Kragen gepackt und in einen Polizeiwagen gesteckt.

Im Sommer 1974 fand die Gruppe eine ideale Situation vor. »Wallys Vater war Elektriker«, sagt Matlock, »und bekam einen Vertrag bei den jetzigen Riverside Studios in Hammersmith, ein altes BBC-Studio, und er musste rausreißen, was nicht mehr gebraucht wurde. Er bekam Zweitschlüssel. Es gab dort einen Akkustikraum, damals der beste in Europa, also begannen wir dort zu proben. Paul arbeitete bei Watney’s in Mortlake, also bauten wir eine Bar auf. Es war wie in Aladins Höhle. Überall lag gestohlene Ausrüstung herum.«

The Strand eigneten sich die ersten Grundkenntnisse an. »Glen konnte gut spielen«, sagt Warwick Nightingale, »ungefähr so gut wie ich. Steve kriegte kaum einen Ton hin, und Paul hinkte am Schlagzeug meilenweit hinterher.« Sie probten ein Repertoire, das von Matlocks Begeisterung für rauhen Mod-Pop beeinflusst war: harte explosive Songs von den Kinks und den Rolling Stones, fußballhymnenartige Gesänge wie »Build Me Up Buttercup« von den Foundations und »The Baker« von den Small Faces. Damit fanden sie den Rhythmus.

Es war das Jahr, in dem sich die Leute wieder die Haare schnitten. Pop sollte zugänglicher werden. Pub Rock war Mitte 1974 ein heißes Ding in London. Man konnte den Aufstieg von Gruppen beobachten, die Protziges verachteten und einfachen R&B in einer rasch anwachsenden Zahl von Pubs spielten – vor allem dem Hope&Anchor in Islington. Die Musik war echter Spelunkenrock: funky, eingängig, auftrittsbezogen, eine bewusste Rückkehr zu den Grundlagen, »zurück zu Mono«.

Der Großteil der frühen Pub Rock-Gruppen gab sich mit aufgewärmtem R&B und Country zufrieden. Das einzige Anzeichen, dass sich etwas Neues anbahnte, hieß Kilburn and the High Roads, dessen Hauptattraktion die bedrohlich verdrehten Auftritte des Poliokranken Ian Dury waren, der mit Rasierklingen im Ohr und Gehässigkeit im Herzen herumlief. Der Durchbruch von Dr Feelgood, der die Metropole elektrisierte, sorgte dafür, dass sich R&B zu einem dichten Geflecht zusammenzog. Das war nicht einfach nur irgendetwas, wozu man Bier trinken konnte, sondern durch und durch bedrohlich: Lee Brilleaux und Wilko Johnson, die beiden Frontleute, sahen aus wie Verbrecher.

Mit der Erinnerung der Fans an den ursprünglichen Begeisterungstaumel, den der britische Pop ausgelöst hatte, lebte die Musik der 60er Jahre wieder auf. »Nach der Eröffnung des Stands in der Golborne Road«, sagt Ted Carroll, »wurde mir rasch klar, dass es einen Markt für 60er Jahre-Zeug gab, besonders für unbekannte britische Beatbands.« Noch während der Hippie-Ausschweifungen begannen Autoren wie Lester Bangs und Dave Marsh, den unbewußten, krachigen Pop Mitte der 60er Jahre zu feiern. In Amerika hatte der beispiellose Erfolg der Beatles eine Überproduktion ausgelöst, die auch typisch für die Doo-Wop-Manie Mitte der 50er Jahre gewesen war, als die regionalen und überregionalen Charts voll mit Gruppen waren, die wegen der harten Konkurrenz und der Unbeholfenheit der Industrie nur in den Genuss eines einzigen Hits kamen.

In Unkenntnis der Musik, die vor ihrer Nase lag, kopierten die meisten Gruppen britische Popbands – wie die Rolling Stones oder die Yardbirds –, die ihrerseits versuchten, den Geist des schwarzen amerikanischen R&B einzufangen. Das Ergebnis dieser zweifachen Brechung war ein weißer, fabrikarbeitermäßiger Stil, bei dem jeder schwarze rhythmische Einfluss ausgeblendet wurde und einfach nur Krach zum Vorschein kam.

Die Idee von Punk, wie Marsh und Bangs sie geprägt haben, kennzeichnete einen Prozess des absichtlichen Verlernens: eine neue Pop-Ästhetik, die Vergnügen fand »am grundlegenden Barbarentum des Rock (und am Wert seiner Vulgarität)«. Auf der Suche nach einem Schlüssel gingen diese Punk-Kultisten – genau wie McLaren und Westwood – zurück in die Geschichte: So wie das Unbewußte angezapft werden sollte, so sollte auch die Zukunft durch die Vergangenheit herbeigeführt werden. Die Wiederverwertung von Abfallprodukten, heute ein Gemeinplatz im Pop, hatte begonnen.

Im Sommer 1974 betrieb Ted Carrroll ein weiteren kleinen Stand auf dem Soho Markt. Ein alter Freund aus Belfast, Roger Armstrong, stellte sich hinter den Tresen, zunächst für drei Tage, dann die ganze Woche. »Wir verkauften die Sachen direkt und sofort über den Tisch«, sagt Armstrong, ein Musikbegeisterter mit unglaublicher Energie.

»Ein Haufen Rockabilly, Blues natürlich, auch ein bisschen Sixties Soul, denn es liefen immer noch eine Menge Mods herum. Am besten gingen die New York Dolls, die Flamin’ Groovies, Iggy and the Stooges. Wir verkauften sie kiloweise. Auch Sixties Garagen Musik und Small Faces Platten. Niemand sonst war auf die Idee gekommen, bei Decca anzurufen und herauszufinden, was die noch im Katalog hatten. Sie hatten Small Faces und Them-Alben, und Hunderte von Singles. Es war immer noch das alte System: Sobald eine Platte unter ein bestimmtes Verkaufsniveau fiel, wurde sie automatisch gestrichen, wenn nicht, blieb sie im Katalog.«

Carrolls Stand belieferte McLaren eher mit den Yardbirds als mit Jerry Lee Lewis. Zusammen mit Cook und Jones zog McLaren durch die Londoner Pubs und Clubs wie das Speakeasy. In einer unschuldigeren Pop-Ära hatte Parnes seinen Schützlingen »Showbiz-Werte« eingeimpft. McLaren schärfte ihnen Ideen ein. »Malcolm begann aufzutauen«, sagt Matlock, »aber was mir echt Spaß gemacht hat, waren die Diskussionen, die ich mit Bernie Rhodes hatte. Er stellte sich vor, ein Mann von Welt zu sein: er interessierte sich für Minimalismus und Dadaismus. Ich wurde offener, weil sie die sechziger Jahre mitgemacht hatten und über die Szene in der King’s Road Bescheid wussten.«

Als McLarens und Westwoods Ideen für den neuen Laden ehrgeiziger wurden, versammelten sie um sich herum Freunde mit besonderen Begabungen. Vivienne wollte die Linie mit den ärmellosen T-Shirts ausbauen und kompliziertere Ideen aufgreifen, sexuelle Tabus mit situationistischen Slogans verbinden. Bernard Rhodes war ein idealer Kollege: Er hatte nicht nur praktische Erfahrung im Drucken, sondern sein komplexer, abschweifender Unterhaltungsstil warf viele neue Ideen auf. »Die Idee der Sex Pistols war damals nicht wichtig«, sagt Rhodes. »Die Beziehung zwischen Malcolm, mir und anderen Typen um uns herum war wichtig; plötzlich waren da ein halbes Dutzend Leute, die mitmachten. Wir waren noch nicht sehr an Steve und seiner Band interessiert: uns interessierten die T-Shirts und das ganze Konzept des Ladens viel mehr.«

Im Herbst jedoch hatte McLaren genug. Seine Beziehung zu Vivienne steckte gerade wieder in einer schlimmen Phase. Im November 1974 fuhr McLaren nach New York. »Er sagte zu mir, ›Kümmer dich um Steve‹«, erinnert sich Rhodes, »was hieß: ›Er hat da so eine Art Band, vielleicht können wir da was machen.‹« Bevor McLaren abreiste, entwarfen die drei zusammen ein neues T-Shirt mit ihrem ersten Manifest: »You’re gonna wake up one morning and know what side of the bed you’ve been lying on!« Das T-Shirt stand für einen neuen, polarisierenden Stil, bei dem die hitzige Rhetorik der 68er nachhallte. Hier wurden Väter getötet, Zeitgenossen erledigt, einsame Helden belohnt und in einer über Nostalgie hinausgehenden Beschwörung das neue Zeitalter durch einen Willensakt in die Wirklichkeit überführt.

Eine damals angefertigte Hassliste umfasste vor allem die tote Kultur der Zeit: Pomp Rocker, verblasste Rebellen, repressive Institutionen, »ein passives Publikum«. Die »Lieblingsliste« beeinhaltete professionelle Sexarbeiter, abtrünnige Künstler, Hard Rocker, IRA-Terroristen, Helden der Arbeiterklasse und, gut versteckt, die erste gedruckte Erwähnung von »Kutie Jones and his SEX PISTOLS«.


Von links nach rechts: Arthur Kane, Sylvain Sylvain, David JoHansewn, Jerry Nolan, Johnny Thunders: The New York Dolls, 1974 (© Bob Gruen)

England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe]

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