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Aus dem Tagebuch des Autors 2.12.1975: ... Londoner Vorstadt: Sterilität – Zynismus – Langeweile bereit in Gewalt umzuschlagen; beginnender Gegenschlag der Rechten. Scheiß auf London wegen seiner Stumpfheit, auf die Engländer wegen ihrer Kleinmütigkeit und aufs Wetter wegen seiner Kälte und Dunkelheit.

Es fällt schwer, sich sechzehn Jahre später an das Lebensgefühl in England 1975 zu erinnern. Die Medien waren voller apokalyptischer Formulierungen. »Die Aasgeier verdunkeln schon den Himmel«, lautete im Oktober 1974 ein Aufmacher in der Sun. »Der pralle Sommersonnenschein von 1975, könnten Historiker im Jahr 2000 n. Chr. befinden, hat bei den Briten eine fatale Trägheit verursacht«, wetterte die Sunday Times. »Durch den Sommerdunst hindurch wurden undeutlich Gestalten erkennbar, aber sie waren seltsam, unwirklich, abstrakt. Jene, die hinhörten, konnten entfernten Donner vernehmen.« England steckte im Juli 1975 in einer Rezession. Die Arbeitslosenzahlen für diesen Monat waren seit dem Zweiten Weltkrieg nie so hoch gewesen: die Schulabgänger traf es am schlimmsten. Es war nicht nur der Arbeitsertrag geschrumpft, auch die öffentlichen Ausgaben waren auf 45 Prozent des nationalen Einkommens gestiegen und drohten, die gesamte Wirtschaft aus dem Gleichgewicht zu bringen. Im November 1975 präsentierte Kanzler Denis Healey ein Sparpaket über insgesamt drei Milliarden Pfund für die öffentlichen Ausgaben.

Es schien keine vorübergehende Krise zu sein, sondern die Spitze des Eisbergs eines langsamen Niedergangs. Um »den Krieg zu gewinnen« hatte Großbritannien einen schrecklichen Preis bezahlt. Dieser erste tatsächlich globale Krieg hatte das Kräfteverhältnis verkehrt, und Großbritannien war keine Weltmacht mehr. Es war lediglich eine kleine Insel, die strategisch wie ökonomisch im Schatten der USA stand. Als die USA das Leih-Pacht-Gesetz drei Tage nach ihrem Sieg über Japan aufhoben, stand Großbritannien bereits mit drei Milliarden Pfund in der Kreide. Es gab eine kollektive Weigerung, den Tatsachen ins Auge zu sehen. »Der Niedergang Großbritanniens nach dem Krieg hatte noch mit den Träumen der Briten in Kriegszeiten begonnen«, schreibt Correlli Barnett in Audit of War. »Die Folge war, dass sich die Briten niemals der Wirklichkeit stellten, was sie und ihren künftigen Platz in der Welt anging.« Schon vom »Jahr Null« an überholten Deutschland und Japan die britischen Fertigungsindustrien, damals der Motor des Kapitalismus.

Das Land hatte einen Pyrrhus-Sieg errungen und nun die ganze psychische Last zu tragen. Trotz der Machtübernahme durch die Sozialisten, blieb der Status quo über den Krieg hinaus erhalten. Die Filme, die gedreht wurden, um das Durchhaltevermögen und den Sieg Englands zu feiern, standen in direktem Verhältnis zur Weigerung der Bevölkerung, die Notwendigkeit von Veränderung zu sehen. England war selbstgefällig, statisch und steckte voller Herrschaftsansprüche, selbst in Bereichen wie der Verherrlichung des weltweiten Siegeszugs der Beatles nach 1964 einer der wenigen Erfolge des Landes. Pop war eine bislang unentdeckte und schnell sprudelnde Kapitalquelle.

Die ganze Idee des »Konsens«, die die Politik und das soziale Leben beherrscht hatte, löste sich in Nichts auf: es war, als würde sich das Nachkriegsideal der Freiheit des Massenkonsumenten, das die Premierminister beider Parteien gefördert hatten, als Schwindel herausstellen. Die leuchtenden Farben, die »Klassenlosigkeit« und besonders der Optimismus der 60er Jahre, erschienen nun wie ein Trugbild. So wie die Pop-Kultur Mitte der 70er Jahre in kleine Segmente zerbrochen war, so schien sich der soziale Alltag in widerstreitende Fraktionen aufzulösen.

»Fool your friends and fool yourself, the choice is crystal clear«, hatte Richard Thompson in seinem phantastischen »Roll Over Vaughn [sic] Williams« gesungen: »Live in fear, live in fear.« Dort waren die inneren Feinde. Die Boulevardpresse, die allmählich ihre Macht entdeckte, suchte sich viele Angriffsziele. Die Sun war in den wenigen Jahren nach der Übernahme durch Rupert Murdoch einigermaßen links geblieben, aber ab 1972 entwickelte sie eine neue Sprache der Angst und des Schreckens, sie begann das bislang Unaussprechliche auszusprechen.

Nach den Sensationsberichten über die »schrecklichen Überfälle« von 1972-73, die sich gegen Westinder richtete, gab es Paniknachrichten über Pornografie, das Bildungswesen, Vandalismus und Sexualität. Unter dem Schlagwort »Freizügigkeit« wurde mit dem Liberalismus der 60er Jahre abgerechnet. Die Paniknachrichten schürten eine tiefsitzende, verständliche Furcht und ließen sie zu einem apokalyptischen Angstschrei anwachsen. Es schien vielen, als würde das Land selbst angegriffen, von innen und von außen: 1974 brachte die IRA mit den schlimmsten Bombenanschlägen seit 1945 ihren Krieg aufs Festland.

4.10.75: Graffiti – TORIES WOLLEN KRIEG. Das beunruhigende an Thatcher ist, dass sie ihrer eigenen Rechtschaffenheit, die viele Anhänger anziehend finden, blind vertraut. Sicherheit in einem Zeitalter der Unmöglichkeit von (echter) Sicherheit. Zurück zum Golf Club Image – im Endeffekt zurück zu den 50er Jahren.

Mit der Ausbreitung krankhafter Symptome konfrontiert, hatte ein beträchtlicher Teil der Mittelklasse das Gefühl, mit dem Rücken zur Wand zu stehen: Aus Angst und aus Rache begann sie wild um sich zu schlagen. Im November 1975 wurde die kompromisslose National Association for Freedom (NAFF) gegründet. Eine Woche vorher wurde einer ihrer Gründer Ross McWhirter der Mann, der eine Klage gegen den Warhol-Dokumentarfilm von 1972 eingereicht hatte von der INLA (Irish National Liberation Army) ermordet.

Gerade als Tony Benn die Labour Party im Parlament nach links gedrängt hatte, entstand eine entsprechende Bewegung auf der rechten Seite, und Mrs Thatcher wurde zur Geheimwaffe der Mittelklasse: 1977 hielt sie die Eröffnungsrede zum Dinner für Mitglieder der National Association for Freedom. Nach den beiden Wahlniederlagen von Edward Heath 1974 wurde die Außenseiterin in der Partei und Abgeordnete für Finchley 1975 Vorsitzende der Konservativen.

Obwohl Mrs Thatcher zum Zeitpunkt ihrer Wahl ein Image-Problem hatte, da sie mit dem »Makel der Vorstadt« behaftet war, wurde ihr bereits im Sommer eine positive Wirkung auf die Bevölkerung bescheinigt. Als Ministerin war Thatcher weniger kritisch gegenüber der von Heath eingeschlagenen Linie, als man es im nachhinein erwartet hätte, von 1974 an aber begann sie ihre eigene Ideologie zu entwickeln. In einer Zeit, als sich die staatliche Kontrolle in Form verstaatlichter Industrien und eines riesigen bürokratischen Apparates in eine Richtung zu entwickeln schien, die Orwells Anti-Utopie ähnelte, trat Thatcher für den Vorrang des Individuums ein. Ihr Stil war wichtig: Sie war nicht nur kämpferisch, sie spielte auch auf die von der Boulevardpresse geschürten Ängste vor dem inneren Verfall an. Auf ihrer ersten Parteitagsrede als Vorsitzende startete sie einen großangelegten Angriff gegen jene, »die unsere Selbstachtung zermürben, indem sie die britische Geschichte zu einer Geschichte der jahrhundertelang währenden Hoffnungslosigkeit, Unterdrückung und des Versagens umschreiben.«

Es gab einen weiteren Faktor, der Thatcher zu einem nationalen Symbol machte. Der lange Niedergang der 70er Jahre hatte nicht nur eine Stimmung der Angst, sondern auch Schuldgefühle hervorgerufen. In ihren Reden begann Mrs Thatcher, diese Schuld zu mildern, indem sie Selbstvertrauen aufbaute, aber es war ihre Präsenz, die die Wirkung dieser ehrgeizigen und klingenden Phrasen ausmachte. Mit ihrem einschüchternden Redestil, ihrem Ligusterhecken-Schick und dem robusten Haar, das sie zu einer stählernen Welle auftürmte, besaß sie die Ausstrahlung einer professionellen Domina.

Dreizehn Jahre später spricht John Lydon ruhig über seine ersten Vorstellungen von den Sex Pistols: »Glen Matlock wollte eine Art aufgemotzte Ausgabe der Bay City Rollers. Tut mir leid, ich war völlig anders drauf. Ich sah die Sex Pistols als etwas total Schuldbeladenes.« Es sind Bildzeugnisse der Hauptstadt von 1975 überliefert. Roger Perrys Buch mit 110 Fotos konzentrierte sich auf jene heruntergekommenen Bereiche Londons, in denen eine bestimmte Form der freien Rede Zuflucht fand. Die Graffitis, die Perry ins Rampenlicht rückt, sind eine ganze Generation von den dreidimensionalen Entwürfen, die wir heute gewohnt sind, entfernt. Slogans wurden manchmal gesprüht, manchmal unbeholfen gemalt oder hingekritzelt, so als wäre die Kommunikation zu anstrengend.

Die Botschaften sind weniger territoriale Markierungen oder verzweifelte Versuche der Selbstbehauptung, wie wir sie heute kennen, sondern anonym, anspielungsreich und kryptisch, eine Art Fenster zur Welt der kulturell oder sozial Enteigneten: »Dada ist überall«, »Worte haben heute keine Bedeutung«. Besonders auffällig war ein Graffiti, das sich zwischen den U-Bahnstationen Ladbroke Grove und Westbourne Park entlangzog: »Tag für Tag das gleiche U-Bahn Arbeit Essen Arbeit U-Bahn Sessel U-Bahn Arbeit was kann man aushalten einer von fünfen dreht durch.«

Perry nahm die meisten seiner Fotografien in Notting Hill Gate auf. Dessen Bedeutung als großer, randständiger, innerstädtischer Bezirk mit ungewöhnlicher Klassenstruktur und multi-ethnischer Bevölkerung wurde in Romanen wie Absolute Beginners von Colin MacInnes und Rotting Hill von Wyndham Lewis, wie auch in Exposés der Post-Profumo-Zeit wie »Jungle West 11« verhandelt. Filme, die sich der verblichenen Atmosphäre des Viertels bedienten, waren »Perfomance« (1969) und »The Blue Lamp« (1949), ein zukunftsweisender britischer Gangsterfilm, in dem Dirk Bogarde durch eine vollkommen verschwundene Stadtlandschaft aus zerfallenen Bauten irrt.

»Notting Hill wurde als ungewöhnliches Viertel innerhalb Londons und des Vereinigten Königreichs betrachtet«, behaupten die Brüder Wise in ihrer Geschichte des Viertels. »Es war ein Ort, an den man vor den unerträglichen Zwängen von Familie, festgefahrenen Vorurteilen der Arbeiterklasse und einer insgesamt zu prüden Welt fliehen konnte. Mehr als jeder andere Ort förderten die unteren Hänge von Notting Hill nach dem Krieg die Verbreitung des ›Anarchismus‹ oder genauer einer anarchischen Gefühlsregung in der politischen Arena und des Parteiensystems.«

Es war die Rückkehr der Unterdrückten. Die radikalen Ambitionen und Wirklichkeiten in Notting Hill beleuchteten und verdeckten zugleich das echte Elend, das an seinen äußeren Rändern existierte. 1975 boten die Gegenden um die Chippenham Road und die Elgin Avenue, Freston Road und Lancaster Road die Aussicht auf einen Schrottplatz. Wo kein Schutt herumlag, standen die Reste des viktorianischen Wohnungsbaus. So wie einige Teile von Camden Town, der Großteil der Docklands und Soho, bevor sie von den Medien entdeckt wurden, schienen diese leeren Räume eine emotionale Wahrheit zu versinnbildlichen: So sah Englands Wirklichkeit aus.

Freston Road und Elgin Avenue/Chippenham Road waren die Straßen, in denen es massenhaft Hausbesetzungen gab. »Da waren Straßen über Straßen; eine echte Gemeinde«, sagt Joe Strummer, der Sohn eines Diplomaten, der die Kunstschule verlassen hatte, um als Straßenmusiker und Aushilfsarbeiter das Leben eines Bohemiens zu führen. »In der Elgin Avenue hatte der GLC (Greater London Council) entschieden, dass ungefähr hundert viktorianische Reihenhäuser abgerissen werden sollten: Zwischen dem Beschluss und dem tatsächlichen Abriss blühte dort die Besetzerkultur. Wir hatten sogar eine Besetzer-Gewerkschaft. Man ging hin, tauschte – zack – die Schlösser aus. Besitz macht neun Zehntel des Gesetzes aus. Wir waren sehr gut organisiert.«

Einer Schätzung zufolge lebten 60 Prozent aller Hausbesetzer (ca. 50.000) in London. Hausbesetzungen waren damals sowohl eine ideologische Entscheidung »gegründet auf der Erkenntnis der Sinnlosigkeit und Dummheit von Arbeit« –, als auch eine praktische Lösung für ein grundlegendes Bedürfnis. Dies war die härtere, rauhere Version des Hippietraums, mit einem Soundtrack der Gruppe Hawkwind, und er setzte sich nicht schlechter durch. Zusammen mit dem Arbeitslosengeld machten Hausbesetzungen das Leben in Central London möglich und finanzierbar. Die schnelle Zuwanderung in die Stadt während der Punk-Zeit wurde so ermöglicht.

24.9.75: Junge Männer lungern an Straßenecken herum, mit hungrigen Augen; wie Hyänen warten sie darauf zu töten.

Englands »Armut des Begehrens« wurde nirgendwo so sichtbar wie in der Jugendkultur. Jeder Ausflug raus aus den elitären Londoner Nischen führte zu kitschigem Schund, der den Bodensatz von Hippie und Glam darstellte. Dünnes, glattes, ungepflegtes Haar, ausgebeulte Hosen, billig, hell- oder dunkelbraun, mit Bügelfalten und hohem Bund. Die Jugendlichen sahen aus, als hätten sich Erwachsene in Kinderkleidung gezwängt, aber es blieb ihnen nichts anderes übrig, als diese Kleidung zu tragen, weil sie kein Geld hatten. Andererseits hatten sie sich daran gewöhnt.

»The image and the empire may be falling apart«, sang Murray Head in jenem Herbst; »The Money is getting scarce / one man’s word’d hold the country together / But the truth is getting fierce.« Das einzige, was die Jugendlichen im Land scheinbar bewegte, war ein Bedürfnis nach Ordnung und Macht. Im Oktober 1975 porträtierte die Zeitschrift Let It Rock einige Roxy- und Bowie-Fans: »Wir sollten die Welt regieren, wie wir es früher getan haben«, sagten sie, »ich glaube an alles, was die Rasse reinigt.«

Dreißig Jahre nach dem verlorenen Sieg, mussten die Schulden mitsamt Zinsen bezahlt werden. Endlich, als die steigende Spannung die dunklen Schatten offenbarte, die auf der englischen Psyche lagen, war die Bühne bereit für ein in die Länge gezogenes Schauspiel über Konflikt, Schuld und Sühne. Als Mrs Thatcher sich daran machte, die Peitsche zu schwingen, begannen die Galionsfiguren in SEX instinktiv das Chaos zu inszenieren, für das Thatcher eine Lösung anzubieten schien. Während Malcolm in New York war, kam eine Gruppe Jugendlicher, die allesamt John hießen, öfter in Nummer 430 vorbei. Obwohl sie unter sich blieben, waren sie anders als die anderen Teenager. Sie kamen aus Arbeiterfamilien in Nord- und Ost-London, waren kampfbereit, eloquent und legten eine gewisse Arroganz an den Tag.

Der auf den ersten Blick charismatischste John war groß und trottelig und hatte immer das meiste Geld. Manchmal hörte er auf den Namen Sid. Der stillste John der vier, mit grünen Haaren, gekrümmter Körperhaltung und abgerissenem Look, sah aus wie eine Kreuzung aus Richard Hell und Uriah Heep. Bernard Rhodes, dem das selbst umgestaltete »Pink Floyd« T-Shirt aufgefallen war, kam zuerst auf ihn zu: die Augen waren herausgerissen und über dem Logo der Gruppe standen mit Kugelschreiber die Worte »I hate ...«

»Die von SEX machten etwas anderes als alle anderen«, sagt John Lydon, »und niemand mochte sie, was absolut phantastisch war. Es waren total schreckliche Leute. Vivienne war eine fürchterliche alte Schlampe, und das hat mich fasziniert. Vivienne ist ein Killer, eine bösartige Lady. Es war ein echter Kampf, in dem Laden etwas kaufen zu wollen. Ich liebte dieses Gummi-T-Shirt mit allem drum und dran. Ich fand, es war das abstoßendste Teil, das ich je gesehen hatte. Es als Kleidungsstück und nicht als Sexualfetisch zu tragen war toll.«

»Jordan war immer freundlich. Ehrlich interessiert. Sie sah in uns offensichtlich das, was wir waren, nämlich alberne kleine Kinder, die keinen blassen Schimmer hatten. Wir gingen in die King’s Road, um Leute zu ärgern. Das war damals nötig. Überall lange Haare. Was hätte man machen sollen? Es gab Soul Boys- und Roxy Music-Klamotten. Das war alles sehr schmierig, schlapp und führte zu nichts. Die Leute waren steif und langweilig. Mich ödete das alles an.«

»Anger is an energy«, sang John Lydon Jahre später. Als er neunzehn war, verdeckte seine Schüchternheit einen Vulkan an Sarkasmus und verbaler Angriffslust. Die vier Johns befanden sich alle in derselben Zwangslage: »Wir waren extrem hässlich. Wir waren Ausgestoßene, wir waren Ungewollte.« Die Gruppe steckte in einer ausweglosen Situation: Sie waren intelligent und bewegten sich innerhalb einer Arbeiterklassekultur, die Intelligenz nicht schätzte. Andererseits waren sie aufgrund mangelnder Möglichkeiten nicht in der Lage, diese Kultur zu verlassen. Das Ergebnis? Entsetzliche Frustration.

»Mein Vater war Kranführer«, beginnt John Lydon, »aber ich verstehe nicht, weshalb meine Herkunft irgendeine Auswirkung auf mich haben soll. Ich glaube, man ist von Geburt an der, der man ist: Es lässt sich nicht verbergen, was tief im Innern ist, auch wenn man sich hinter einem kulturellen Deckmantel versteckt.« Seine Erfahrungen mit einundzwanzig haben Misstrauen in sein Hirn gebrannt.

Lydons späterer Erfolg ließ ihn etwas Abstand zur eigenen Wut gewinnen. Es gibt jedoch zwei Themen, auf die er bis an die Grenze zum Schwulst beharrt. Das ist zunächst Malcolm McLaren. Und dann seine Überzeugung, ein »vollkommen ehrlicher Mensch zu sein«. Er besitzt eine moralische Gewissheit, die mit der von Westwood oder McLaren leicht mithalten kann.

John wurde am 31. Januar 1956 geboren, das erste Kind von Eileen und Jim Lydon. Drei Brüder folgten Jimmy, Bobby und Martin.

»Mein alter Herr kam aus Galway; meine Mutter aus Cork«, und er fährt fort: »Die erste Generation in England. Ich weiß nicht mal, wo ich geboren wurde. Wir sind sehr viel umgezogen, aus allen möglichen Gründen. Wir wohnten im Erdgeschoss, in Hastings direkt am Meer, bis ich ungefähr sechs war. Ich nehme an, es war wirklich erbärmlich, aber ich habe keine schlechten Erinnerungen daran. Kinder sehen den Dreck und die abblätternden Tapeten nicht.«

Als Lydon acht war, zog er sich eine Hirnhautentzündung zu. Im Buch Sex Pistols von den Vermorels beschreibt die 1979 verstorbene Eileen Lydon deren Auswirkungen: »Das hat mich natürlich verängstigt. Ich hatte es, als ich elf war, und ich dachte, ich wüsste, was es ist. Sein Sehvermögen litt darunter, und ich weiß nicht, ob man das merkt, aber er hat so ein Starren in den Augen.« »Ich bin ein Jahr lang nicht in die Schule gegangen«, sagt John, »hab’ immer noch ein Problem mit dem ABC.«

Die Krankheit verstärkte das Gefühl des jungen Lydon, anders zu sein. »Ich kann mich erinnern, dass meine Eltern Parties gaben und mein Bruder Jimmy zu einem dieser grässlichen irischen Volkslieder tanzte und ich in einer Ecke saß und sagte: ›Das ist grauenhaft.‹ Ich habe nie mit jemandem von ihnen geredet. Ich hasste die Kleidung meiner Mutter, sie trug dieses Kreppseidenzeug, das damals modern war, und hatte eine riesige Bienenkorbfrisur. Der Geruch ihres Haarsprays ekelte mich an. Ich erinnere mich an den Geruch verschwitzter Korsetts, und alle Männer hatten stinkende Achselhöhlen.«

Als Lydon seine Schulausbildung wiederaufnahm, war er »ruhig, zurückhaltend« und künstlerisch interessiert. Die Familie kehrte, nachdem sie einige Jahre außerhalb gelebt hatte, wieder nach London zurück und bekam eine Sozialwohnung in Pooles Park, in der Nähe von Finsbury Park Station. Im Alter von 11 Jahren ging John auf die William of York, die katholische Gesamtschule, die ihm von der örtlichen Schulbehörde zugewiesen worden war. Sie befand sich in der Gifford Street, ein besonders finsteres viktorianisches Notstandsgebiet in der Nähe von Pentonville. »Ein Scheißloch«, sagt Lydon, »katholische Schulen sollten abgerissen werden. Sie trennen einen von allen anderen. Ich lernte dort, was Hass und Ressentiments sind. Und ich lernte Traditionen zu verachten und diesen Schwindel, den wir Kultur nennen. Der Religionsunterricht war grauenhaft: Zum Schluss sagte ich, dass ich Moslem werden wollte, nur um aus dem Unterricht rauszukommen. Es war Unsinn. Man darf keine Fragen stellen. Man muss die Tatsachen akzeptieren: ›Du wirst sterben und in die Hölle kommen, wenn du nicht an den leuchtenden Stab von Jesus Christus, dem Allmächtigen, und die Heiligkeit seiner jungfräulichen Mutter glaubst.‹ Was für ein Blödsinn!«

»Ich hatte Haare bis über die Schultern. Mit vierzehn war das ziemlich rebellisch. Ich war der Freak im Viertel: ein Jeanshemd, keine Jacke und grell grün angemalte, genagelte Stiefel. Meine langen Haare waren teilweise der Grund, weshalb ich aus der Schule flog. Sie nannten mich einen Hell’s Angel. Weil meine Eltern arm waren, konnten sie sich die Uniform nicht leisten, und da ich gerade noch so innerhalb der Drei-Meilen-Grenze lag, musste ich mit dem Fahrrad in die Schule fahren und im Regen eine Lederjacke tragen. Also: Hell’s Angel.«

Lydon pflegte mit John Grey den damals angesagten Lebensstil.

»Das Roundhouse war besonders gut. Ich sah 1972 Iggy and the Stooges in der Scala: James Williamson spielte auf einer total verstimmten Gitarre. Iggy kam nicht gut an. Er wurde ignoriert. Er rannte herum und verdrosch sich selbst mit dem Mikrofon. Ich mochte das. Später ging ich regelmäßig in einen Reggae-Laden unter der Finsbury Park Station.«

Nachdem er 1972 die Schule verlassen hatte, verfolgte Lydon ziellos, unterbrochen von verschiedenen aussichtslosen Jobs, eine höhere Ausbildung. Ab 1973 besuchte er das Hackney Technical College, um einen Realschulabschluss zu machen. »Dort traf ich Sid. Er war Bowie-Fan. Er stellte alberne Sachen an, um sich die Haare hochzustellen. Auf die Idee, Haarspray zu benutzen, kam er nie. Er steckte den Kopf zum Haarstyling in den Ofen. Sid war ein Poser, ein Klamottenfanatiker der schlimmsten Sorte. Alles, was man laut 19 unbedingt anziehen sollte, er musste es haben. Ich nannte Sid nach meinem Hamster. Es ist wahr! Die sinnloseste, blödeste Antwort der Welt! Vicious kam später, nach dem Lou Reed Song. Als ich ihn das erste Mal traf, war er ein Soul Boy. Es konnte mitten im Winter sein und schneien, aber er trug keine Jacke. Er war naiv, eine gute Eigenschaft, eine Art Unschuld, aber die hat er verloren. Er sah die Unehrlichkeit der Leute nicht. Er war lustig und lachte ständig. Alles war für ihn ein Riesenspaß.«

Geboren als John Simon Ritchie hatte Sid Vicious bereits so viele Namen, dass ihm einer mehr oder weniger nichts mehr ausmachte. Wie abgelegte Kleidung fielen sie von ihm ab. Für seine Mutter Anne war er Simon oder »Sime«; John oder Sid hieß er bei seinen Freunden. Bis er seinen Spitznamen bekam, trug er den Nachnamen Beverley. So hieß der zweite Mann seiner Mutter. Diese bruchstückhafte Identität spiegelte ein bereits sehr chaotisches Leben wieder: »Er befand sich nie in einem stabilen Zustand«, sagt Anne Beverley, die ihn alleine aufzog,» es war wie ein Spiegel meines früheren Lebens.«

Simon schien dazu verdammt, die Kindheit seiner Mutter zu wiederholen, die mit zwölf von ihrer allein erziehenden Mutter im Stich gelassen worden war. Auf der Flucht vor einer lieblosen Familie war Anne Randall mit 18 der Air Force beigetreten, hatte überstürzt geheiratet, und sich dann »John Ritchie in die Arme geworfen«. Ihr einziger Sohn, Simon, wurde am 10. Mai 1957 geboren: Seine Eltern, die niemals heirateten, trennten sich zwei Jahre später, als Ritchie Anne ohne einen Pfennig auf Ibiza sitzenließ. Um über die Runden zu kommen, lebte sie auf Pump, tippte Manuskripte ab und »verdiente Geld, indem ich für andere Leute Joints baute. Als ich 1961 nach Ibiza zurückkam, stand ich da mit einem kleinen Kind. Meine Haare waren zwei Zentimeter kurz, während man ansonsten riesengroße Bienenkörbe trug. Die Kleider gingen fünf Zentimeter übers Knie, meine waren zehn Zentimeter kürzer. Ich wurde mit allen Bemerkungen bombardiert, die man sich nur vorstellen kann, und Simon hat das alles mitbekommen. Ich versuchte, ihm einzuschärfen: ›Du bist du, du kannst machen was du willst, solange du niemand anderem damit weh tust. Du solltest tun dürfen, was zum Teufel du tun willst.‹ Mit vier, fünf, sechs Jahren hat das gesessen. Er hasste die Schule, aber das habe ich auch getan. Die längste Zeit, die wir jemals an einem Ort verbrachten, war in Tunbridge Wells von 1965 bis 1971. Seine letzte Schule lag um die Ecke von der Stoke Newington Church Street. Er ging mit fünfzehn ab, gegen meinen Wunsch, aber ich wusste, dass die Schule nicht wirklich was für ihn war. Er arbeitete dann bei Simpson’s, der Fabrik, die diese DAKS Hosen herstellt, bevor er in Hackney einen Fotokurs besuchte. Er liebte den Kunstunterricht, und sie zeigten ihm, wie man malt und ließen ihn machen, was er wollte, aber nach dem zweiten Semester ging er ab, weil sie wollten, dass er sich mit bestimmten Themen beschäftigte. Simon war immer jemand, dem man nicht sagen konnte, was er zu tun hatte.


Sid Vicious, August 1975 (im Besitz von Viv Albertine)

Dort traf er John Lydon: als er das erste Mal vorbeikam, hatte er Haare bis hier runter, ein schöner Kopf. Er war schüchtern. Wenn ich ihn einfach nur ansah, wurde er so rot wie Rote Bete und brachte kein Wort raus. Ich hatte nie jemanden getroffen, der so schüchtern war.«

Simon hatte ein sehr vertrautes Verhältnis zu seiner Mutter manchmal schienen sie mehr Verschworene als Mutter und Kind zu sein –, aber das Schreckgespenst der Familie, die Angst vor dem Verlassenwerden war allgegenwärtig. »Er ist zu Hause ausgezogen, als er fünfzehn war, er wohnte in irgendeinem besetzten Haus, aber nach ein paar Monaten kam er wieder nach Hause. Dann, als er siebzehn war, hatte wir einen Streit. ›Simon, entweder du oder ich, und da ich es nicht sein werde, kannst du dich einfach verpissen.‹ ›Aber ich weiß nicht, wo ich schlafen soll‹, sagte er und ich sagte: ›Ist mir egal, ob du auf einer beschissenen Parkbank schlafen mußt: hau einfach ab.‹« Als Hausbesetzer und Bowie Boy liebäugelte Simon mit Prostitution.

1974 hing John Lydon immer noch zu Hause fest. Nach Hackney besuchte er das Kingsway College: »Was für ein Dreckloch«, sagt er, »dort hab ich Wobble getroffen. Die anderen Studenten hielten uns für krank.« »John und Sid waren genau das, was ich suchte, als ich 16 war«, sagt John Wardle, besser bekannt als Jah Wobble. »Alles, was ich damals wusste, war, dass ich auf gar keinen Fall arbeiten wollte. Ich war bereits ein wütender junger Mann. Ich hatte die Vorstellung, ich sei von Sozialwohnungen umgeben, fühlte mich eingeengt.«

Heute verrät nur noch John Wardles eisblauer, starrer Blick seine Vergangenheit. Während der Punk-Zeit ähnelte Wobble, wie Sid, einer unkontrollierbaren Abrissbirne, die man mitten in eine Veranstaltung hängte, um zu sehen was passiert. Heute spricht er von seiner Vergangenheit wie von einem anderen Leben. »Ich trank sehr gerne. Jahre später hatte ich ein ziemlich schlimmes Problem damit. In jedem steckt eine Menge unterdrückter Wut, und Alkohol öffnet das Gitter ein kleines bisschen zu weit. Ich habe dieses ›Schläger‹-Image gepflegt: es war ein Prozess, sich selbst neu zu erfinden. John sah damals so Roxy Music-mäßig aus, und ich eher wie ein Schläger. Dieses Große-Gatsby-Ding: graue Nadelstreifenanzüge. Sid stand auf die schicke Szene: Wir gingen in die Kaufhäuser im Ilford Way. John hatte lange Haare, einen schwarzen Smoking und Baggies, aber eines Tages kam er mit gefärbten, abrasierten Haaren an und sagte, dass er ein neues Leben gefunden hätte. Es schien alles an einem einzigen Tag zu passieren: er war wegen irgendetwas aufgeregt.«

1975 wurde John Lydon infolge seines neuen, strengen Haarschnitts zu Hause rausgeworfen. »Zu der Zeit waren lange Haare akzeptabel und ich dachte ›scheiß drauf‹. Also hab ich sie abgesäbelt und grün gefärbt. Ich sah aus wie ein Kohlkopf. ›Raus! Raus! Du dreckiges Arschloch, und komm nicht wieder!‹ Mein alter Herr hat bis zu dem Tag, an dem ich von zu Hause wegging, nie mit mir geredet. Plötzlich zeigte er Respekt. Es ist wie bei Vögeln, man muss sie in einem bestimmten Alter aus dem Nest werfen. Also lebte ich mit Sid in besetzten Häusern. Hampstead, nicht die vornehme Ecke, sondern diese grässlichen viktorianischen Behausungen an der hinteren Seite der U-Bahnstation. Dort lebten echt verzweifelte Leute. Es war schrecklich. Mir gefiel’s: Es war besser als zu Hause. Ich kann mich nicht an viel aus dieser Zeit erinnern, weil ich es liebte, mich hemmungslos zu betrinken. Es hat Spaß gemacht: es war Freiheit, aber dann hob die Verantwortung ihren hässlichen Kopf, als wir feststellen mussten, dass die Wohnung hin war. Als ich zu Hause lebte, hatte ich auf einem Rieselfeld gearbeitet, hatte in Guildford Ratten umgebracht und mit meinem Dad Beton gegossen. 70 Pfund die Woche: Wahnsinn damals. Nachdem ich rausgeflogen war, bekam ich einen Job in einer Schuhfabrik. Was für ein Theater.«

Danach hatte er zusammen mit Sid einen Job im Cranks-Restaurant in der Tottenham Court Road: »Wenn diese Biokost-Hippies gewusst hätten, wer ihnen die Küche putzt! Wir hatten da so unsere Methoden. Fraßen uns jeden Abend voll. Wir warteten, bis der Chef gegangen war, dann rannten wir rüber zu Heal’s und probierten Betten aus. Sonst war niemand in dem Gebäude: es war wie ein Abenteuerspielplatz. Es gab kein Zeitlimit, wann wir fertig sein mussten, also sind wir da um ein Uhr morgens rausgetanzt. Es gab nichts, was man stehlen konnte, aber man konnte alles benutzen. Wir stellten Möbel um. Du erinnerst dich doch an ›Dawn of the Dead‹, wo die Zombies in diesem riesigen Kaufhaus sind. So war das. Ein Traum wurde wahr.«

In dieser Zeit begannen die Beutezüge auf der King’s Road. »John war sehr imagebewusst«, sagt Wardle: »Er ist so eine Sorte Typ, der von A nach B geht, um C zu kriegen. Er hatte so eine aufgesetzte Logik. Sid hatte herausgefunden, wo Bryan Ferry wohnte, und er wollte ihn mit einer Flasche Martini besuchen. John besaß jedoch zu viel Stolz, um dabei gesehen zu werden, wie er versuchte, eingelassen zu werden, obwohl er es unbedingt wollte. Sid machte sich über so etwas keine Gedanken. Ich glaube, er war es, der zuerst hinging und McLaren traf: er stellte John allen vor.« Als allerdings der Anruf Ende August kam, war Sid in der Portobello Road. John Lydon dagegen kam immer öfter in den Laden: Seine Neugierde wurde nur von Widerborstigkeit im Zaum gehalten. Als Reaktion auf Bernards Begeisterung baute sich McLaren eines Abends vor ihm auf und fragte ihn, ob er singen könne.

»Was? Was meinst du? Wozu? Nein: nur ohne Melodie und außerdem spiele ich Geige«, erwiderte Lydon, als würde er mit einem Idioten sprechen. McLaren war natürlich nur noch mehr angetan und lud ihn ein, die Band am selben Abend im Roebuck zu treffen. Trotz Lydons offensichtlicher Gleichgültigkeit war sich McLaren bewusst, dass dies ein Angebot war, das er nicht ausschlagen konnte.

Lydon tauchte mit John Grey als moralischer Unterstützung auf und saß schweigend herum, während er die Gruppe beobachtete. »Ein paar Idioten hatten sich bereits vorgestellt«, sagt Steve Jones, »und dann kam Rotten rein. Er sah wirklich interessant aus. Es war etwas an ihm, das einen magnetisch anzog. Er hatte dieses ganze Punk-Zeug an, die Sicherheitsnadeln und alles: Das hatte nichts mit McLaren zu tun. Er sah wild aus. Ich mochte ihn überhaupt nicht: Er schien ein echtes Arschloch zu sein.«

Jones wurde immer ärgerlicher wegen Lydons Hochnäsigkeit, und kurz vor einem Gewaltausbruch ging er zu McLaren, der am Ende der Bar auf der Lauer lag. Die einzige Lösung war, ein spontanes Vorsingen zu veranstalten. Lydon zögerte und war nervös. Zurück im Laden wurde ihm ein Duschkopf als Mikrofon in die Hand gedrückt. Vor die Jukebox gestellt sollte er bei Alice Coopers ›Eighteen‹ mitsingen. Alle zogen sich zurück, ließen Lydon allein mitten im Laden stehen.

»Ich war zu Tode erschrocken«, sagt Lydon. »Ich war nie auf die Idee gekommen, dass das Musikgeschäft möglicherweise ein Ort sei, an dem ich, welchem Talent auch immer freien Lauf lassen könnte.« Er erstarrte, aber dann, angestachelt von Grey, dem klar wurde, dass in dieser lächerlichen Situation echtes Potential lag, fing er an, auf spastische Art und Weise auf und ab zu hüpfen und einen improvisierten Text herunter zu leiern: »Ich bin achtzehn, Sex im Gras, ich bin achtzehn...« Jones knurrte weitere Gewaltandrohungen, und Lydon warf sich unter beträchtlicher Anspannung in eine Reihe buckliger Posen schrie, wimmerte und kotzte, bis sich sein erstes Publikum vor Lachen krümmte.

Die Gruppe war sich nicht sicher, aber McLaren war es. »Ich hatte ein Auge dafür«, sagt er, »und ich sah Rottens Fähigkeit, ein Image aufzubauen. Es war nur ein Gefühl. Ich wusste, dass er was hatte, genau so wie ich wusste, dass Jones etwas hatte.« Er überredete Cook, Jones und Matlock, eine Woche mit Lydon über einem Pub, dem Crunchie Frog in Rotherhithe, zu proben. Am ersten Tag kam niemand außer Lydon. »Ich kam mir vor wie ein Idiot, wie ich da in Bermondsey Wharf herumlief«, sagt er, »es war dort nicht ungefährlich, besonders wenn man so aussah wie ich damals.«

»Ich rief am nächsten Tag an, um zu sagen, dass es mir leid täte«, erzählt Glen Matlock. »Lydon meinte, ›Ich bring dich um, ich tu’s, ich komme mit einem Hammer vorbei.‹«

»Wir hatten eine Probe«, sagt Malcolm McLaren, »und keiner von ihnen kam, weil sie Rotten für ein Arschloch hielten. Ich mochte ihn nie. Ich mochte Jones; Jones hatte nichts gegen mich. Ich mochte Cook ganz gern, aber er war ein bisschen langweilig. Ich brachte Matlock als Anker der Normalität in die Gruppe: Er verfügte über eine gewisse Intelligenz, die nötig war, um Cook und Jones beim Schreiben von Songs zu helfen. Rotten war einfach nur ein arroganter kleiner Schreier, der dachte, er wüsste alles. Er hasste ihre Musik. Cook und Jones fuhren auf die Tradition mutierter, unverantwortlicher Hardcore Raw Power ab: Iggy Pop, New York Dolls, MC5, die Faces. Rotten stand mehr auf die Musik der 60er Jahre Captain Beefheart, dieses merkwürdige Zeug.«

Als die Sex Pistols begannen, keimten in ihnen bereits Missverständnisse und gegenseitige Verdächtigungen. McLaren, mit seinem Gespür für Ärger, mochte diese unbeständige Atmosphäre: Er dachte, sie könnte Funken schlagen. Dennoch richtete diese Instabilität echten Schaden an, und der Person, die dachte, sie hätte alles unter Kontrolle, nicht gerade den geringsten. McLaren liebte es, mit dem Feuer zu spielen, aber nachdem er die Welt von John Lydon und dessen Freunden betreten hatte, sollte er es mit psychischen Stoffen zu tun bekommen, die viel explosiver waren als das, was er von Cook, Jones und Matlock kannte.

Nachdem Lydon dazugestoßen war, hatte McLaren ein Problem mit seinem Anspruch auf alleinige Urheberschaft. »Was uns zunächst zusammenführte, war, dass wir hassten, was im Fernsehen lief«, sagt McLaren. »Rotten mochte ›Eighteen‹ und ›School’s Out‹, aber er fand sie ein bisschen hirnlos. Er hielt Hirnlosigkeit für eine gute Einstellung.

Sobald ich begriffen hatte, dass er es entsetzlich fand, Teil einer Gruppe zu sein und sich selbst ankündigen zu müssen, wusste ich, dass er ein Star war. Ich wusste, die Leute würden diese Verletzbarkeit erkennen und darauf abfahren. Und das taten sie. Wir wussten, dass er nicht singen konnte und kein Rhythmusgefühl hatte, aber er hatte diesen Charme eines Jungen, der unter Schmerzen versuchte, so zu tun, als sei er cool. Das war es, was ins Auge sprang. Man wusste, dass ihn alle Mädchen lieben würden. Ich dachte, sie könnten die Bay City Rollers werden: Das hatte ich im Kopf. Ich hatte sie nicht mehr alle. Zu glauben, dass er die Alternative zu den Bay City Rollers sein könnte: so eigensinnig und zäh, das Wahre. Eine echte Teenager Gruppe. Für mich war das Anarchie im Plattengeschäft: Das genügte mir. Es war das beste Verkauftsargument: Sie waren wie junge Attentäter. Der Rest war das Sahnehäubchen und nichts, was ich unbedingt gefördert hätte. Es bekam ein Eigenleben.«

John Lydon brachte dieses Leben mit: Die Sex Pistols hätten ohne ihn niemals diese Wirkung erzielen können. Trotz McLarens Spott war es eben genau Lydons Interesse an den Eigenheiten von Post-Hippie-Pop – dem Expressionisten Peter Hammill und dem hochexplosiven Captain Beefheart –, die den Sex Pistols einen Ausweg aus der Nostalgie oder dem Jungsrock bot und den Zugang zu einem neuen, unbekannten Gebiet ermöglichte. Lydons Interesse an musikalischen Experimenten verlieh den Sex Pistols den Schneid, ihre immer extravaganteren Forderungen durchzuziehen. McLaren wollte einen Sturm entfachen, und Lydon katapultierte sich in sein Blickfeld und versuchte, seine Wut und seine Schuld abzuladen.

»Die Kids wollen Elend und Tod«, schnaubt Lydon, »sie wollen bedrohliche Geräusche, weil die sie aus der Apathie reißen.« Hier ähnelt Lydon einem Archetypus. McLaren fühlte sich von jenem Charakter angezogen, den Graham Greene in Am Abgrund des Lebens (ein Buch, das Lydon für seine Schulprüfungen lesen musste) umrissen hatte: den rachsüchtigen, katholischen jungen Gangster Pinkie. »Gift wühlte in seinen Adern, wenn er auch lachte und es sich verbiss. Er war beleidigt worden. Nun, er wollte es der Welt schon zeigen! Wenn sie meinten, weil er erst siebzehn war...« Wie Pinkie war John Lydon bereit, eine ganze Welt in die Luft zu jagen.


Die neue Generation bekommt einen Namen, Dezember 1975 (© John Holmstrom)

England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe]

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