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VI
Andy

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Mit vorsichtigen Schritten steige ich die kalten Stufen der Spindeltreppe hinunter. Vor mir huscht eine Ratte in ein Loch.

Um nicht an den Soldaten vorbeizumüssen, die vor dem Turm Wache stehen, beschließe ich, die Treppe direkt durch die Wand zu verlassen. Vorsichtig strecke ich meinen Kopf durch die Mauer, um zu sehen, wie weit es nach unten geht. Ich befinde mich höher als gedacht und laufe noch eine Umdrehung weiter. Dabei versuche ich mich leise und flink zu bewegen, um so wenig Zeit wie möglich zu verlieren.

Ein Stück über dem Boden steige ich durch die Wand. Dann stehe ich mitten im staubigen Burghof. Hier draußen ist es fast schon dunkel. Das passt mir gut, es wird es mir leichter machen, mich vor den Leuten des Königs zu verstecken. Sofort sehe ich mich in alle Richtungen um. Es scheint nicht mehr viel los zu sein.

Ich orientiere mich schnell und schleiche an der hohen Mauer entlang in Richtung des Tors. Kurz bevor ich den Durchgang mit dem Fallgatter und den Wachen erreiche, gehe ich durch die Mauer und klettere vorsichtig an ihrer Außenseite herunter auf die Straße, die in die Stadt hinabführt. Es dürfte nicht schwer sein, hier nachher wieder reinzukommen. Vorausgesetzt, die Wachen auf der Mauer nehmen keine Notiz von mir. Doch die Stadt ist nahezu unbeleuchtet, und ich drücke mich dicht an dem kalten Stein vorbei.

Mit zügigen Schritten begebe ich mich ins Zentrum von Dracgstadt, während ich mich ständig am Rande der Straße auf der Hut halte und mich aufmerksam umschaue. Auch hier ist keine Menschenseele zu sehen.

An einem Haus pendelt quietschend ein Schild mit einem Stiefel. Ich zucke erschrocken zusammen. Das ist der Seewind, sage ich mir und ermahne mich in Gedanken, mich von meiner Mission nicht ablenken zu lassen. Aus der Seitenstraße neben mir funkelt mich eine große Katze an. Vielleicht auch ein Wachdrache, fällt mir plötzlich ein, so einer mit gestutzten Flügeln, wie ich sie auf der Reise hierher schon sah. Eilig gehe ich weiter.

Von der breiten Hauptstraße zweigen hin und wieder kleine Gassen ab, die immer verwinkelter und enger werden, je mehr man sich in ihnen verirrt. Aber ich folge keiner von ihnen. Jetzt noch nicht. Zuerst muss ich mich darum kümmern, wie wir von hier fortkommen. Zielstrebig laufe ich zum Hafen.

* * *

„Zum höchsten Mond läuft sie aus“, brummt der Kapitän, während er auf seiner Pfeife kaut und sich nicht die Mühe macht, sie für ein Gespräch mit mir aus dem Mund zu nehmen. Der Hafen liegt still und lässt Ruhe bis zum Morgengrauen vermuten. Die Segelschiffe lehnen sich an ihre Taue und schwanken schwer und leise knarrend wie ein ganzes Bataillon schlafender Großväter in Schaukelstühlen.

Die See schimmert im Mondlicht. Ich blicke in die Ferne zum Horizont. So weit ist unser Weg noch. Der Himmel färbt sich mehr und mehr schwarz. Die Nacht bedeckt die Stadt und scheint sie mit einem müden Bann zu belegen.

Der Kapitän ist die einzige muntere Gestalt. Die einzige Menschenseele, die ich im Hafen finden konnte. Mit glasigen Augen stiert er mich an.

„Also, was ist nun? Zahlt ihr für die Überfahrt? Immerhin werdet ihr weit von hier fortkommen …“

„Wir werden euch zur Hand gehen, so gut wir können. Wir haben leider nicht viel Geld.“

Der alte Mann spuckt vor mir aus. „Wieder solche Schmarotzer an Bord, na fein. Also seid hier, bevor der Mond wieder absteigt“, murmelt er griesgrämig zwischen seinen Zähnen hindurch.

„Viel Zeit bleibt uns nicht. Aber wir werden da sein!“

Der Kapitän kehrt mir den Rücken zu und schlurft hinkend die Rampe zu seinem Schiff hinauf. Der mächtige Segler liegt direkt neben mir am Kai und präsentiert sich in bester Verfassung. Auf diese Art haben wir gute Chancen, unser eingebüßtes Stück Weg bald wieder aufzuholen. Jetzt muss ich die anderen nur noch hierherbringen. Doch dazu brauche ich zu allererst den Schlüssel des Verwalters.

Schnell kehre auch ich um und laufe zurück auf die Burg.

* * *

Durch die Mauer wieder im Innenhof angekommen, husche ich geduckt und unbemerkt hinüber zum Herrenhaus. An einer geschützten Stelle werfe ich einen Blick hinein. Dann durchquere ich die Wand.

Auf der anderen Seite drücke ich mich dicht an das Gestein und beschließe es zu wagen, mir ein Bild vom Saal zu machen. Ich sehe den Säulengang, in dessen Schatten ich mich noch befinde – und stelle mir plötzlich eine Frage.

Mit meiner Hand taste ich in eine der Säulen hinein. Innen ist sie zumindest nicht hohl. Doch könnte ich mich in ihr verstecken? Diese Idee packt mich mit einem Mal, und ich versuche, mich kerzengerade in die enge Säule hineinzupressen. Und tatsächlich: Die Struktur der glatten Wand verändert sich und löst sich schließlich einen Moment auf, um mich aufzunehmen und meinen Körper zu verschlucken. Jetzt stecke ich in der Säule.

Erleichtert freue ich mich einen Augenblick über meinen kleinen Erfolg und mache mich dann daran, den nächsten Teil meines Plans zu fassen. Leider kann ich noch nicht durch Wände sehen, sodass meine Augen zusammen mit meiner Nase und einem Teil meiner Stirn in den Raum hineinragen, während ich versuche, einen Überblick über das Treiben im Saal zu gewinnen. Ich muss mich in Acht nehmen; jetzt darf nichts schiefgehen.

Der Abend ist bereits fortgeschritten; die Königin und ihre Tochter sind nicht mehr zu sehen und scheinen sich zurückgezogen zu haben. Womöglich ist Sói sogar noch bei meinen Freunden im Turm. Ich muss schnellstens zu ihnen zurück und befehle mir selbst, sofort einen Plan zu fassen, um dann mit dem Schlüssel meine Freunde und die beiden armen Menschen da oben im Verlies befreien zu können und mit ihnen zu fliehen. Wie wir das anstellen, darüber machen sie sich wahrscheinlich gerade Gedanken. Ich hoffe, dass ihnen etwas einfällt …

Meine Augen finden den Verwalter direkt neben seinem Herrn, wie als seelischen Beistand im Krieg, eine Hand auf dem hoheitlichen Thron, die andere abwartend hinter den Rücken gelegt. An einem Strick um seine Taille hängt der Schlüssel herab.

Der König ist selbst nach mehreren Stunden scheinbar wie zu Beginn in sein faszinierendes Spiel vertieft. Ich befinde mich nicht sehr weit von seiner Tafelrunde und bekomme jeden Zug und jeden Kommentar seiner Majestät mit. Gerade schickt er wieder ein ganzes Dutzend Liliputaner in den sicheren Tod und schiebt sie grob mit beiden Händen am Rand des Tischs entlang, wo sie ungeschickt und aus dem Gleichgewicht gebracht über ihre eigenen Belagerungswaffen stolpern. Eines der Geschöpfe purzelt sogar mit seiner Lanze vom Tisch herunter, doch das scheint niemand in der gehobenen Gesellschaft zu beachten. Es wäre auch ein abwegiges Bild: Der König, der unterm Tisch nach seinen Figuren sucht …

Als ich das kleine Männchen in Gedanken betrachte, wie es hilflos zwischen den riesigen Schuhen umherirrt, kommt mir plötzlich eine Idee. Grotesk, vielleicht aber auch genial, setzt sich in meinem Gehirn ein Gedanke fest, der mir vorgibt, schnell zu handeln. Eilig ziehe ich das Band aus meinem Hemd, was den Stoff auf der Brust, unterhalb des Kragens, mit einem Knoten zusammenhält. Das ist zwar mein einziger Plan, sage ich mir, aber auch mein bester.

Wie ein Lasso werfe ich den Strick nach dem winzigen Wesen unter dem Tisch aus, mitten durch die Stiefel des affenköpfigen Generals. Schon beim zweiten Versuch legt sich die filigrane Schlinge um das zierliche Wesen, und ich schleppe es flink, aber sehr unsanft zu mir heran. Die kleine Figur strampelt und schreit, doch niemand scheint sie zu vermissen. Im Saal ist es viel zu laut, um die Mäusestimme zu registrieren.

Schnell greife ich mit der Hand nach dem Männchen und ziehe mich mit meiner Beute erneut in die Säule zurück. Geschafft.

„Du musst mir helfen, kleiner Mann“, sage ich aufgeregt zu dem Liliputaner in meiner Hand. Mein Blick schweift kurz durch den Raum, aber niemand scheint mich bemerkt zu haben.

„Lass mich los!“, schreit das Wesen zappelnd, doch mich erreicht es nur als ein Quieken und Kitzeln in meiner Faust.

„Ist ja schon gut“, antworte ich und öffne die Finger, sodass er auf der ebenen Fläche stehen kann, „aber sei leise!“

Er schaut mich verärgert an, scheint aber nicht zu wissen, was er sagen soll. Was muss er wohl von mir halten?

„Hör mal“, beginne ich erklärend, „du musst mir einen Gefallen tun. Dafür wirst du alles bekommen, was ich dir geben kann. Ich lasse dich frei, wenn du willst. Oder sorge dafür, dass du zu deinem Volk zurückkannst.“ In diesem Moment fällt mir auf, dass ich diesen Teil des Plans noch gar nicht überdacht habe. Ich werde mir etwas überlegen müssen, um das zu ermöglichen.

Die lebendige Spielfigur wägt ihre Aussichten ab. „Hm“, meint der kleine Mann nachdenklich und reibt sich das Kinn, „und du meinst, du würdest mich freilassen?“

„Natürlich“, antworte ich schnell, froh darüber, dass er nicht das andere gefordert hat, „dann kannst du gehen, wohin du willst, niemand wird dich aufhalten.“

„Also los!“, ruft er dann voller Elan. „Was willst du? Warum ist es denn überhaupt so dunkel? Wo sind wir hier?“

Das habe ich ihm natürlich noch nicht erklärt. Vorsichtig halte ich die Hand mit dem kleinen Soldaten in der winzigen Uniform an den Rand der Säule, sodass sie ein wenig hinausragt, und mein neuer Freund in den Saal sehen kann. Erstaunt schaut er mich an.

„Du besitzt magische Kräfte“, meint er bewundernd, „es muss von Bedeutung sein, dass ich dir helfe!“ Und sogleich schwillt seine Brust stolz und voller Tatendrang. Seine Motivation lässt mich fest an das Vorhaben glauben. Es muss einfach funktionieren.

„Siehst du den Verwalter?“, frage ich flüsternd. „Er steht genau neben dem König. An seinem Gürtel trägt er den Schlüssel zum Verlies im Turm. Meine Freunde sind dort; ich muss ihnen helfen und sie befreien. Dazu brauche ich unbedingt den Schlüssel! Verstehst du?“

„Der Schlüssel?“, fragt er entgeistert. „Der ist so lang wie ich selbst und aus Eisen. Du glaubst doch nicht, dass ich den tragen kann, oder?“ Mit großen Augen sieht er mich an.

„Du kannst das schaffen“, versuche ich ihn zu ermutigen. „Hier, benutze das und ziehe ihn hinter dir her, ich nehme ihn dir ab, sobald ich rankomme.“

Ich reiche ihm das Liliputaner-Lasso. Dann fällt mir ein, dass der Schlüssel ja auch festgebunden ist, und ich suche an meinem Körper nach etwas zum Schneiden.

„Was suchst du? Eine Klinge? Das musst du nicht, ich habe eine!“ Aus seinem Stiefel zieht er einen glänzenden Splitter.

„Du hast einen Dolch im Schuh?“

„Ja, so etwas Ähnliches“, meint er selbstverständlich. „Sie geben uns Scherben und Nadeln, damit wir uns gegenseitig umbringen können!“ Verächtlich verengt er die Augen.

„Jetzt hast du Gelegenheit, es ihnen heimzuzahlen“, kontere ich. „Ein kleiner Mann wie du hat die Chance, eine große Tat zu begehen!“

Er nickt mit ernstem Blick, und mein Herz macht einen Sprung.

Hektisch setze ich ihn auf dem Boden ab. Voller Eifer klettert er von meiner Hand und rennt flink mit seinen kleinen Beinchen zwischen den Riesen hindurch. Inmitten all der Samtröcke und Stiefel irrt er umher und versucht, durch die vielen Umwege die purpurfarbene Kutte des Verwalters nicht aus den Augen zu verlieren. Mich überkommt die Angst, dass er zertreten wird, und nicht zuletzt denke ich dabei auch an die Mission, doch er kommt unbeschadet am Rock des Hakennasigen an.

Er wirft einen Blick zurück zu mir und scheint erst jetzt zu bemerken, dass ich in einer Säule hocke. Verwirrt vergisst er für einen Moment, was er tun sollte, und starrt mich an. Doch ich ermuntere ihn, weiterzumachen. Wieder sehe ich mich aufmerksam um. Sicher gibt es hier auch Wachen, die für den reibungslosen Ablauf und die Sicherheit des Spiels sorgen und den Saal die ganze Zeit über gründlich beobachten. Du musst dich beeilen, mein Freund!

Die Samtfasern des Gewands müssen ihm wie lange Stricke vorkommen, als er flink daran emporklettert. Meine Angst, dass ihn jemand entdecken könnte, wird dabei noch ein ganzes Stück größer. So ein Liliputaner auf der Kleidung ist immerhin nicht so leicht zu übersehen wie eine Fliege. Ich werde immer nervöser in meiner Säule.

Doch im nächsten Augenblick hat er den Schlüssel erreicht und klammert sich mit aller Kraft daran fest. Mir bleibt beinahe das Herz stehen, als ich ihn wie ein Pendel am Rock des Verwalters hin- und herschwingen sehe. Mach bloß, dass du wieder zurückkommst, denke ich aufgeregt. Dann stürzt er in die Tiefe.

Mit seinem winzigen Schwert hat er das Tau durchtrennt und ist mitsamt dem Schlüssel auf den Boden gefallen. Doch dort scheint ihn niemand zu suchen; alle haben nur Augen für das Kriegsspiel auf dem Tisch – gerade ist der König dabei, sich mit dem fischköpfigen General auf offenem Feld ein Gefecht zu liefern: Kiesel schießen über die Tischplatte, und König Sevard schlägt vor Erregung die Faust auf seine Landkarte, sodass die winzige Armee unter einem Erdbeben erzittert.

Selbst der Verwalter ist so gefangen in seiner zweiten Welt, dass er nicht bemerkt, wie sich der schwere Eisenschlüssel von seinem Gürtel löst und neben ihm scheppernd zu Boden fällt.

Mein Gott, denke ich, schon der zweite Sturz aus solcher Höhe innerhalb weniger Minuten. Der arme Wicht muss wirklich etwas aushalten, um in die Freiheit zu gelangen. Ich fürchte um das Leben dieses kleinen Mannes, der so Großes vollbringen kann. Ich warte und hoffe.

Zwischen den Beinen eines Mitspielers taucht er schließlich wieder auf. Er hat ein Stück des Weges unter dem Tisch zurückgelegt – kluges Kerlchen! Hinter sich her schleppt er angestrengt meinen Strick, an dem er den Schlüssel befestigt hat. Er zieht mit aller Kraft. Komm schon, ein kleines Stück noch, bete ich innerlich, dann kann ich vielleicht rauskommen und dich einsammeln! Ich sehe hilflos zu, wie der Zinnsoldat sich abmüht, als müsste er mit bloßen Händen einen Baum aus dem Wald holen. In meinem Kopf höre ich das Eisen laut über den Boden kratzen und zucke erschrocken zusammen, doch um uns herum feiern die Leute ausgelassen und tanzen durch den Saal.

Nur noch ein paar Schritte. Ich bereite mich auf eine schnelle Bewegung vor. Dann eskaliert die Situation. Eine der Wachen an der gegenüberliegenden Seite des Saals starrt wutentbrannt auf das gespannte Seil auf dem Boden.

Noch hat er niemanden alarmiert, doch wenn er erst den Schlüssel sieht, hat unser Vorhaben keine Chance mehr. Ich muss handeln, sofort! Mit zwei schnellen Sätzen bin ich bei dem kleinen Mann und hebe ihn mit dem Band auf, das ich flink heranziehe, um nach dem Schlüssel zu greifen. Dann trete ich die Flucht an. Doch nicht zurück in die Säule, das wäre jetzt verschwendete Zeit. Mit beiden Dingen fest in den Händen, renne ich sofort auf die Außenwand zu – jeder kann mich sehen! Schon schwillt hinter mir der erste Protest an, und hektische Schritte werden laut. Zuerst verstummt die Musik, dann entsteht verwirrte Empörung – und Angst.

„Da ist ein Mann direkt in die Wand gegangen!“, höre ich eine Frau aus der Ferne kreischen, während die Soldaten sich am Eingang sammeln, um den Hof zu untersuchen. Ich bin schon längst an der Mauer entlang und von der Seite zurück in den Turm gelaufen. Wie sollen sie auch wissen, dass ich, der offenbar magiekundige Ketzer, einer der Gefangenen des Königs bin? Als ich die Stufen hinaufsteige, überlege ich fieberhaft, wie wir aus diesem ganzen Schlamassel herauskommen. Hoffentlich haben die anderen einen Plan!

Die Krieger des Horns - Nebelmond

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