Читать книгу Die Krieger des Horns - Nebelmond - Josefine Gottwald - Страница 5
I
Piper
Оглавление„Nein!“ Ich reiße die Augen auf. Wieder und wieder verfolgen mich die Hexen. Sogar in meinen Träumen suchen sie mich heim, als wollten sie auf diesem Weg ihren Plan vollenden, bei dem wir sie störten.
„Was ist los?“, fragt Andy und sieht mich besorgt an. „Du hast geweint im Schlaf …“ Er streichelt mir tröstend das Haar.
Ich umarme ihn und versuche ruhig zu atmen und den Schreck aus meinen Zügen zu vertreiben. Zum Glück lebt Luna noch.
„Wie geht es ihr?“, frage ich.
„Sie ist tapfer“, antwortet er und streicht mit dem Finger über meinen Nasenrücken, „so wie du.“
Ich lächele zaghaft. Selbst in dieser Situation schafft er es, dass ich mich besser fühle.
„Ich habe keine Angst“, behaupte ich, „du bist ja da und kannst mich beschützen!“
Das entlockt ihm ein kleines Lächeln, auch wenn wir wissen, dass sein Schutz für uns beide nicht reichen wird. Ich küsse ihn kurz, dann krieche ich zum Ende der Kutsche, wo Dina sich auf dem Boden zusammengerollt hat. Die anderen schlafen noch – sogar Robin, von dem ich dachte, dass er während der ganzen Fahrt kein Auge zu tun würde. Er hat sich gegen eine der Kisten gelehnt, Brendan und Annikki schlafen Rücken an Rücken. Eine viel zu friedliche Szene für eine Hand voll gefangen genommener Staatsfeinde, die nicht wissen, was auf sie zukommt. Nur Andy hat sich scheinbar seit unserem Aufbruch in dem verlassenen Dorf keine Sekunde ausgeruht.
„Du hättest mich ruhig wecken können“, flüstere ich, um die anderen nicht zu stören. „Dann hätte ich mit dir Wache gehalten, und du wärst nicht so allein gewesen.“
„Ich war nicht allein“, sagt er leise, „du warst da und hast die ganze Zeit mit mir geredet.“ Erstaunt hebe ich die Augenbrauen. „Aber es war nichts Schönes“, fügt er mit anklagender Miene hinzu. Nach einer kurzen Pause, in der sein Blick ziellos über den Boden wandert, kehrt der sorgenvolle Ausdruck zurück. „Du hast von den Hexen geträumt, nicht wahr?“
„Mach dir keine Sorgen!“, verlange ich. „Bestimmt finden wir irgendwie einen Weg. Wenn Luna das durchsteht, kann ich es auch. Und am Ende werden wir alle erleichtert und froh sein, dass wir Fortuna und Nube retten konnten.“ Ich versuche ein Lächeln und erwarte seine Reaktion.
„Ich bin froh, dass du so denkst, Piper“, sagt er ernst. „Als wir in den Wolf Forest aufgebrochen sind, wolltest du überhaupt nicht mit, und noch vor ein paar Stunden dachte ich, du würdest am liebsten fortlaufen.“ Er kratzt sich am Ohr vor Verlegenheit, diesen Gedanken zugeben zu müssen.
Ich schüttele den Kopf. „Und die Einhörner im Stich lassen? Das dürfen wir nicht. Deswegen sind wir schließlich die Krieger des Horns und niemand anderes.“ Ich bin nicht halb so überzeugt davon, wie ich es gerne wäre. Vielleicht muss ich es mir nur immer wieder einreden, um es irgendwann zu glauben. Ich wünschte, ich wäre so optimistisch wie Dina. Wieder schweift mein Blick über die friedlich Schlafenden. Wenn man die entspannten Gesichter sieht, könnte man wirklich glauben, wir hätten uns lediglich eine Weile auf eine andere Art zu reisen verlegt und wären nicht gefangen in einem schaukelnden Gefährt, das uns wer weiß wohin bringen wird …
Ich beschließe, nach Luna zu sehen, und krieche zu dem Vorhang an der Rückseite des Planwagens. Ich schiebe den Leinenstoff ein Stück beiseite und werfe einen Blick nach draußen. Das Einhorn trabt keuchend neben der Kutsche her, sein Blick fleht mich an, es von diesem mühseligen Trott zu erlösen. Ich muss die Tränen unterdrücken, die mir in die Augen steigen, und die Erkenntnis trifft mich wie eine kalte Dusche: Nichts wird wieder gut werden. Luna kämpft noch immer um ihr Leben.
Von der Wurzel ihres Stirnhorns breiten sich Strahlen dunkelroten Blutes über den gesamten Kopf aus und laufen das Fell hinab, bis zu den Nüstern, wo sich die Tropfen der wieder aufgerissenen Wunde sammeln, um von Zeit zu Zeit eine Spur auf dem Pfad durch die Grasberge zu hinterlassen. Der Verband an ihrem Bein ist blutgetränkt. Ihre Augen sind grau und traurig geworden, und auch das Fell ist stumpf und strahlt nicht mehr in dem leuchtenden Weiß wie zuvor, als wir noch keinen Gedanken an die Hexen verschwendeten – und die Gefahr, die von ihnen ausging. Diesen Leichtsinn bezahlte Destino mit dem Leben.
Ich bemerke, dass Andy mich beobachtet, und winke ihn heran. Mein Blick sucht nach dem Hauptmann, der nun nicht mehr auf meiner Seite des Wagens reitet, sondern mit seinem smaragdgrünen Drachen die Karawane anführt, die uns in die Hauptstadt des Königreichs Drakónien bringen soll.
Luna schnauft und schüttelt den Kopf, den sie unentwegt am Boden hält. Leise rollt eine Träne über meine Wange. Der Drachenreiter neben mir wird aufmerksam, als ich ein Schluchzen unterdrücke und mir auf die Hand beiße.
„Mach, dass du wieder reinkommst! Wo sind überhaupt deine Fesseln?“
Ich blicke ihn hasserfüllt an, worauf er drohend seine Lanze schwenkt. Als wir alle in die drakónische Kutsche eingestiegen waren, begann Robin sofort, unsere Stricke mit seinen telekinetischen Fähigkeiten zu lösen, sodass wir uns besser in dem schaukelnden Gefährt bewegen konnten. Bewacht von den Drachen und ohne unsere Waffen, ergaben wir uns irgendwann unserem Schicksal.
Andy greift nach meiner Hand. Seine Züge verhärten sich, als er Luna sieht und den stechenden Blick des Soldaten.
„Gibt es Probleme?“, ruft Hauptmann Estruhl nach hinten und lässt die Reiter und die Schimmel vor der Kutsche halten.
„Sie können das nicht machen!“, fahre ich ihn an ohne nachzudenken. „Die Einhörner sind das Wichtigste in unserer Welt für die Menschen – und sehen Sie, wie Sie mit ihnen umgehen! Die Hexen haben Luna schwer zugesetzt, und anstatt ihr eine Pause zu lassen, treiben Sie sie zu Höchstleistungen an! Wenn sie an ihren Verletzungen stirbt, werden Sie daran schuld sein! Sie kommen einfach daher und nehmen uns gefangen, ohne dass uns klar ist, weshalb! Und dann bringen Sie uns meilenweit von unserem Weg ab, nur um zu überprüfen, ob wir verdächtig sind! Damit dauert unsere Reise Tage, vielleicht Wochen länger, und wir werden es nie rechtzeitig schaffen, vor Gillian und Joice bei Lilith einzutreffen und die Einhörner vor ihr zu retten! Ihnen ist überhaupt nicht klar, was Sie da tun!“ Erregt blitze ich ihn an.
Der Hauptmann nimmt mich mit ernstem Ausdruck zur Kenntnis und mustert das Innere der Kutsche durch den offenen Vorhang. Andy hat sich hinter mir aufgerichtet und sieht ihm ebenfalls fest in die Augen. Von der Erschütterung des haltenden Gefährts erwacht, regen sich nun auch die anderen und erscheinen nacheinander an der Öffnung des Wagens.
„Was ist denn los, sind wir schon da?“, fragt Dina verschlafen, aber ich antworte ihr nicht. Annikki scheint sich zu ärgern, überhaupt eingeschlafen zu sein; sie überschaut die Lage mit einem Blick. Robin beobachtet misstrauisch die Soldaten, und ich bin überzeugt, dass er auf jeden kleinen Fehler sofort anspringen wird.
Erwartungsvoll starre ich den Hauptmann an und hoffe, dass meine Gebete erhört werden.
Bitte.
Für Luna.
„Wir machen eine Pause“, sagt er endlich an seine Männer gewandt, und ich atme erleichtert auf. Sofort greife ich nach meinem Rucksack und springe aus dem Wagen. Ohne mich noch einmal nach den anderen umzudrehen, bin ich im nächsten Augenblick bei meinem Einhorn. Erschöpft vom Laufen hält Luna noch immer den Kopf gesenkt und blickt mich dankbar aus ihren müden Augen an, als ich sie losbinde und von den Drachenreitern und der Kutsche wegführe. Unter einer hohen Fichte lasse ich sie grasen und reibe ihren verschwitzten Hals mit einer Satteldecke ab, die mir Andy bringt.
Danach setze ich mich neben ihr ins Moos, während Andy nach seinem eigenen Einhorn sieht. Ich folge ihm mit den Augen und merke dabei, wie erleichtert ich bin, dass er mit mir hier ist. Ein weiterer Grund, um zu überleben. Für Luna und für Andy, und natürlich unseren Auftrag.
Ich beobachte das Einhorn beim Grasen und denke daran, wie ausgehungert ich selbst bin. Annikki nähert sich mir und reicht mir einen Apfel, als hätte sie nichts anderes erwartet. Die Schmetterlingsflügel auf ihrem Rücken sind vom Schlafen zerknittert, und obwohl sie sonst so fröhlich flattern, hängen sie jetzt träge herab. Sie ist eine Zwölfe, erinnere ich mich, verwandt mit den Elfen, sie kann fliegen und beherrscht die Magie – nicht gerade etwas, woran man sich schnell gewöhnt.
„Sind die anderen in Ordnung?“, frage ich. Sie nickt und schlägt beruhigend die Augen nieder. Allen geht es gut.
„Denk nicht so viel darüber nach“, meint sie.
„Es ist schwer, das nicht zu tun, nach allem was passiert ist.“ Ich höre die Bitterkeit in meiner eigenen Stimme.
„Jetzt ist es vorbei“, sagt sie ruhig. „Wir sind vorübergehend in Sicherheit. Sie werden uns nicht verfolgen und riskieren, es mit einer Hand voll Soldaten und uns gleichzeitig aufzunehmen. Am Tag trauen sie sich ohnehin kaum aus dem Schutz ihrer Schatten. Ebenso wie unsere anderen Feinde …“
Ich erinnere mich an das Heulen der Wölfe und bin froh, dass es uns gerade nicht verfolgt. Gleichzeitig bemerke ich, dass wir nun schon eine ganze Hand voller Gegner haben. Ich frage mich, ob das je aufhören wird.
„Wenn ich überlege, was uns noch bevorsteht, mache ich mir Sorgen“, gestehe ich. Mein Blick wandert über das smaragdfarbene Gras, das so weich aussieht, dass ich mit der Hand darüber streichen muss. Es macht es mir leichter, über meine Angst zu sprechen. „Kann Luna diese Reise überhaupt unbeschadet durchstehen? Sie ist so schlimm verwundet … Gibt es keine Möglichkeit, ihr diesen Weg zu erleichtern?“ Flehend blicke ich in Annikkis Augen.
In ihrem Gesicht liegt so viel Güte, als hätte sie tatsächlich die Macht, eine Entscheidung zu treffen. „Es gibt eine Möglichkeit“, erklärt sie. „Es wäre sehr sinnvoll, deine Stute zu schonen, damit sie wieder zu Kräften kommt. Sie würde uns auf unserem Weg sonst behindern …“
Bei ihrem sachlichen Ton muss ich schlucken, aber dann gebe ich ihr recht. Noch immer bin ich mir nicht sicher, welche Ziele die seltsame Zwölfe verfolgt. Aber bisher hat sie uns geholfen.
„Erinnerst du dich an den Jäger? In meinem Haus?“, fragt sie.
„Das Phantom?“ Obwohl ich in der Sonne sitze, spüre ich einen Schauer auf meinem Rücken, als ich an die Begegnung zurückdenke. Ein schwarzer Reiter, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Vampire zu vernichten. Ein Auftragsmörder, könnte man sagen. Aber sind wir das nicht auch?
„Uns vereint eine telepathische Verbindung“, erklärt Annikki. Wie immer kein Wort mehr als nötig. Ich blicke sie fragend an. „Der Jäger folgt uns in einigem Abstand. Er wird wissen, wie er sich um sie kümmern muss.“
Plötzlich sehe ich ganz neue Möglichkeiten. „Er hilft uns?“, frage ich hoffnungsvoll.
Annikki nickt ernst. „Ihr seht ihn vielleicht nicht, aber er ist in den Wolken über uns und in den Wäldern und Schluchten, die zurückliegen.“
Ich blicke auf die Berge in der Ferne und versuche, den Weg zu erkennen, den wir gekommen sind. Es ist nicht schwer: Die felsige Straße schlängelt sich immer auf dem sichersten Pfad um die steilen Wände herum. Vielleicht ist es ein Handelsweg, überlege ich. Vielleicht sind wir sogar schon anderen Reisenden begegnet – oder anderen Gefangenen.
Annikki lenkt meine Aufmerksamkeit zurück auf die Soldaten. „Die Drachen können ihn und sein Pferd riechen“, sagt sie, fast belustigt.
Ich beobachte die Männer, die ihre Tiere füttern oder grasen lassen, während andere, die zur Wache abgestellt sind, zu uns herüberblicken, die Lanzen fest in ihren Fäusten. Es scheint sie nicht zu stören, dass ihre Reittiere immer wieder die Köpfe wenden und in den Wind wittern. Einer der Drachen stößt einen Schrei aus, aber niemand reagiert.
Als hätte Annikki meine Gedanken gelesen, schüttelt sie fast unmerklich den Kopf. „Sie werden ihn nicht bemerken, Piper. Er hat sich daran gewöhnt, in der Unsichtbarkeit zu leben; er ist wie ein Schatten, der leise zuschlägt. Selbst die Menschen sehen ihm niemals an, was er eigentlich ist.
„Fast ein bisschen wie ich“, sage ich lächelnd, während das Wort unsichtbar in meinem Kopf nachhallt.
Die Zwölfe lächelt gutmütig. „Also was sagst du?“
Ich mustere mein Einhorn besorgt und nicke langsam. „Es sieht so aus, als wäre er unsere einzige Chance.“
Annikki erhebt sich. „Wir schaffen uns selbst eine Chance.“ Ich erkenne, dass sie das Thema abgeschlossen hat, als sie mir aufhilft und Luna genauer begutachtet. „Bis dahin besorgen wir Luna noch ein bisschen Zeit.“
Die Stute hat den Kopf gehoben und schaut in die Ferne. Vorsichtig befühle ich ihre Stirn. Sie ist heiß und geschwollen; am Ansatz des Horns klebt das trockene, dunkelrote Blut. Die Wunde beginnt zu eitern, und ich spüre neben der Hitze ein stetiges Pochen unter der Schwellung.
„Ich werde dafür sorgen, dass die Fahrt sie nicht bis an ihre Grenzen beansprucht. Ich gebe ihr etwas, das ihr die Schmerzen nimmt und die Schwellung zurückgehen lässt.“
Es sieht aus, als hätten die Hexen versucht, das Horn von der Seite her anzusägen. Sie kamen beinahe bis zur Hälfte; vielleicht hätten sie es dann abgebrochen, und Luna wäre verloren gewesen. Dann hätte selbst Annikkis geheimnisvolles Phantom nichts mehr ausrichten können.
Die Zwölfe wandert umher, als würde sie etwas suchen. „Vielleicht kann ich eine Kompresse auflegen“, murmelt sie, „mit Magie würde sie halten, und hier wachsen viele Kräuter. Wir sollten die Stelle auch kühlen und die Wunde ein wenig reinigen, sie eitert viel zu stark. Wahrscheinlich ist Schmutz hineingekommen. Ebenso das Bein …“ Sie macht eine beiläufige Bewegung in Lunas Richtung. Einen Augenblick später scheint sie uns fast vergessen zu haben. Auf der Suche nach den richtigen Zutaten entfernt sie sich langsam, und ich gestehe mir ein, dass ich im Moment nur warten und meinem Einhorn Gesellschaft leisten kann.
„Kannst du dich nicht mit Magie heilen?“, frage ich Luna.
Sie schnaubt, und es klingt abfällig.
Ich lächele. Wenn sie sarkastisch sein kann, geht es ihr wahrscheinlich schon besser.
Dann sehe ich, dass die Soldaten begonnen haben, missmutig ihren Proviant mit meinen Freunden zu teilen. Vielleicht bleibt mir noch ein Moment, bis sie mich holen.
Während das Einhorn neben mir grast, nehme ich das lederne Buch aus meinem Rucksack, das mir Andy gab. Ein guter Moment, um den ersten Eintrag zu machen.
Seit drei Tagen sind wir nun unterwegs. Wir haben unsere Suche begonnen und wurden doch gleich wieder von ihr abgebracht. Während die Vampire Gillian und Joice zwei unserer Einhörner zu Liliths Tempel bringen, werden wir von einer drakónischen Patrouille in die Hauptstadt dieses Landes eskortiert, das außer Krieg nicht viel zu kennen scheint.
Wir müssen abwarten, was uns hinter den Toren Dracgstadts erwartet. Wie man dort über unser Schicksal entscheidet. Aber ich bin froh, dass ich nicht allein bin.
Ich fordere Luna auf, zurück zu den anderen zu gehen, und sie fragt mich unterwegs, was ich geschrieben habe.
„Kannst du etwa nicht lesen?“, necke ich sie. Sie schubst mich mit ihrer Nase, aber im selben Moment verzieht sie das Maul vor Schmerzen. Ich streiche ihr tröstend über den Hals und suche mit den Augen nach Annikki.
Beim Wagen werden die Stimmen lauter. Robin hat sich vor den Soldaten aufgebaut und ist scheinbar auf dem besten Weg, sich ernsthaft mit ihnen anzulegen. Ohne Zweifel stand uns das seit unserem Zusammenstoß bevor; er ergab sich nur uns zuliebe, doch insgeheim habe ich geahnt, dass er früher oder später auf die Barrikaden gehen würde.
„Was ist passiert?“, erkundige ich mich bei Brendan, und er erklärt mir die Entwicklung der Auseinandersetzung.
„Einer der Soldaten meinte zum Hauptmann, er fände es reine Zeitverschwendung, die Gefangenen hier einfach anhalten und aussteigen zu lassen, zumal wir bald in Dracgstadt wären. Darauf sagte Hauptmann Estruhl, niemand außer ihm habe zu entscheiden, ob und wo wir halten und eine Pause machen. Der Soldat bezeichnete ihn als leichtsinnig, uns hier frei herumlaufen zu lassen, und der Hauptmann wies ihn zurecht und sagte, dass wir keine Feinde wären, wogegen der andere schon protestieren wollte. Hier mischte sich Robin ein und forderte eine Erklärung für unsere Gefangennahme, wenn wir doch nicht als Verdächtige angesehen werden. Ein ganz einfaches Dilemma.“ Er zuckt mit den Schultern.
„Ich kann mir gut vorstellen, was er davon hielt“, sage ich – unschlüssig, ob ich das Ganze leichtfertig abtun kann. Gedankenverloren murmele ich: „Hoffentlich macht er keine Dummheiten!“
Wahrscheinlich streiten sie schon eine Weile. Jetzt geht es gerade darum, ob der Hauptmann einen Fehler gemacht hat, indem er uns mitnahm oder aber wir uns nur zur falschen Zeit am falschen Ort befanden. Sicher stimmt beides irgendwie. Vielleicht hätten wir uns mit unserem Auftrag rechtfertigen können, doch von den Einhörnern scheinen die Männer kaum beeindruckt. Aber dürfen sie uns denn einfach so festnehmen und abtransportieren? Dabei fällt mir ein, dass wir die Gesetze in diesem Land gar nicht kennen. Wer weiß, wozu man hier noch alles berechtigt ist? Oder wofür man eingesperrt wird …
Während Hauptmann Estruhl immer wieder auf seinen Befehl von oberster Stelle verweist, der ihn eindeutig dazu auffordert, alle verdächtigen Personen im Umkreis in die Hauptstadt zu bringen, beharrt Robin stur auf seiner Sichtweise, nach der es für unsere Schuld – selbst einen Verdacht – keinen Hinweis gibt. Sein Blick ist finster, und seine Stirn liegt in Falten. Ich bemerke, wie ich nur darauf warte, dass er irgendetwas mit seinen Gedanken davonfliegen lässt. Als deutliche Drohung, oder vielleicht sogar als direkten Angriff.
Aus dem Augenwinkel fixiert er den Drachen, in dessen Satteltaschen unsere Waffen verstaut wurden. Im nächsten Moment hält er ein Schwert in der Hand. Die Soldaten weichen erschrocken zurück, als die Waffe durch die Luft und über ihre Köpfe hinweg in seine Hände gleitet. Der Hauptmann blickt ihn überrascht an.
„Was ist …“, stammelt er, doch Robin lässt ihn nicht ausreden. Estruhl hat seine Lanze beiseite gestellt und trägt nun nur noch ein Kurzschwert an seinem Gürtel, womit er dem Anderthalbhänder eindeutig unterlegen ist. Er pariert einige Angriffe, doch schon nach kurzem Kampf sieht er sich der Klinge Shiraana gegenüber, die auf seine Brust gesetzt ist, und lässt seine Waffe sinken. Noch immer verblüfft blickt er Robin direkt in die Augen.
Mir stockt der Atem, und ich vergesse für einen Moment, dass ich mich um mein Einhorn kümmern wollte. Ich wage nicht, daran zu denken, was als nächstes passiert.
„Hör auf mit dem Blödsinn!“, höre ich Andy sagen und sehe seinen Bruder verächtlich die Nasenflügel blähen.
„Wieso?“, fragt Robin scharf und geht noch einen Schritt auf den entwaffneten Hauptmann zu.
„Das ist kein fairer Kampf mehr“, entgegnet Andy in einem fast schon gleichgültigen Ton. „Er hat kein Schwert, das kann doch jeder. Kinderkram, Robin. Warum hältst du dich damit auf?“
Ungeachtet der übrigen Drachenreiter, die uns mit ihren Lanzen einkreisen, verwendet er diese banalen Argumente, um Robin wieder zur Vernunft zu bringen. Er würde nicht einsehen, dass er keine Chance hat, erkenne ich. Ich dränge mich dichter an Andy heran und taste nach seinen Fingern. Robins Blick springt zu uns.
Ich sehe das besorgte Gesicht von Annikki, die mit einem Strauß harziger Zweige und fremder Kräuter zurückgekehrt ist und nun ein bisschen enttäuscht, aber auch hoffnungsvoll Robins Reaktion beobachtet. Dina sieht man deutlich die Entrüstung über seine Unbeherrschtheit und den Wunsch einzugreifen an, Brendan hingegen blickt unsicher von einem zum anderen. Ihm ist gar nicht wohl bei dem Gedanken, hier demnächst Reste von sich gegenseitig umbringenden Verrückten entsorgen zu müssen. Zumal wir dann vermutlich selbst die nächsten wären.
„Bitte, Robin“, sage ich leise. „Du machst es uns nur schwerer.“
Und endlich lässt er Shiraana sinken und wendet seinen Blick von dem immer noch ruhigen Hauptmann ab. Die Soldaten mustern ihn misstrauisch, als er ihnen den Rücken zukehrt. Dina verpasst ihm eine Ohrfeige für sein Benehmen – ihre Art, ihm zu zeigen, wie töricht sie es findet, sich mit den drakónischen Drachenreitern ein Duell zu liefern. Mit einer geschickten Bewegung greift Robin sie am Arm und hält sie fest.
„Lass das bleiben!“, fährt er sie an und schiebt sie unsanft von sich weg.
Andy hat nur einen strengen Blick für ihn übrig und gibt ihm mit einem Nicken zu verstehen, wieder in die Kutsche einzusteigen. Annikki nimmt mir Luna ab und bedeutet mir, den beiden zu folgen. Wir müssen uns alle ein wenig beruhigen.