Читать книгу Die Krieger des Horns - Nebelmond - Josefine Gottwald - Страница 7
III
Brendan
ОглавлениеIn der Burg hatte ich wohl so etwas wie ein Empfangskomitee erwartet. Doch nichts dergleichen ist zu sehen, als wir der gebogenen Pflasterstraße hinauf in den Innenhof folgen und das letzte Tor passieren. Danach durchfahren wir einen langen Zwinger, bis wir schließlich am Torhaus vorbei in den Burghof gelangen. Doch keine Königsfamilie, keine Soldaten, keine Kerkermeister erwarten uns dort. Nur über den Hof verstreutes Gesinde. Knechte, die Dreck und Stroh zusammenfegen; Mägde mit Schürzen und Hauben, die Hühner und Schweine füttern und Körbe mit Gemüse über den Hof tragen. Ein in dunkelblaue Seide gekleideter Geistlicher, der ein Gebet murmelnd zur Kapelle hinüberschreitet. Schilder verraten die Werkstätten von Sattler, Schuster und Schmied. Eine dicke Köchin verlässt voll beladen das Zeughaus und watschelt zur Burgküche – fast frei von jeglicher Sicht, die ihr der Sack Mehl und das Netz Rüben nehmen. Aus einem kleinen Schornstein auf dem schiefen Dach steigt dort bereits Rauch auf, der das Abendmahl ankündigt.
Soeben eilt eine Gruppe bunt gekleideter Musikanten die Treppen zum Herrenhaus hinauf und betritt durch eine breite Flügeltür den großen Saal. Zwei Wachen stehen links und rechts des Portals und lassen die Gruppe passieren. Doch niemand widmet uns seine Aufmerksamkeit.
„Was ist hier los?“, frage ich, unfähig, diese Situation zu begreifen. Dabei sehe ich Annikki an, in der Hoffnung, dass sie mehr Ahnung von diesem Land hat als wir.
„Was habt ihr denn gedacht?“, fragt sie verständnislos und zuckt mit den Schultern. „Glaubt ihr, dass sie uns umbringen wollten? Das hätte man schon längst tun können!“
Das klingt zwar einleuchtend, aber ich bin noch immer misstrauisch. Wir werden den weiten Weg kaum umsonst zurückgelegt haben …
Hauptmann Estruhl lässt seine Männer absitzen. „Steigt aus!“, weist er uns an und wirkt dabei ein wenig angespannt. „Der König soll nun entscheiden, was weiter mit euch geschieht.“
Bei diesen Worten positionieren sich je zwei der Soldaten mit ihren Lanzen vor und hinter uns und treiben uns weg von unseren Pferden und Einhörnern. Auch der Drache bleibt zurück bei der Kutsche und sieht uns traurig hinterher.
Dem Hauptmann folgend treten wir zusammen mit den Soldaten durch die hohe Eichentür und hinein in den Thronsaal des Königs.
Uns erwartet ein Anblick, den ich mir nicht hätte träumen lassen. Einen so prunkvollen Saal bekommt man in unserer Welt nur noch im Film zu sehen. An den langen Seitenwänden reihen sich Säulen aneinander, an denen sich detailliert gemalte Bohnenranken emporwinden. Alle Wände sind mit wollenen Wandteppichen geschmückt, die Heldentaten von Rittern mit Drachen zeigen. Doch nicht im Kampf gegen sie, sondern gemeinsam mit ihnen. Allein diese Tatsache fasziniert mich.
Fünfzehn Fuß über uns wölbt sich eine pastellfarbene Kassettendecke und darunter – in die hohe Seitenwand eingefügt – prangen runde Bleiglasfenster, die einen Blick auf die im Meer versinkende Sonne und den Leuchtturm im Abendlicht erlauben.
Unter uns auf dem Boden breitet sich ein Mosaik aus, das das Wappen der Stadt zeigt. Eine ganze Menschenmenge trampelt auf dem backsteinroten Drachen herum, während die Musiker, die ich eben noch auf dem Hof sah, ein dramatisch klingendes Lied spielen. Dazu singen sie von sterbenden Menschen, brennenden Feuern und fliegenden Drachen. Aber die Leute hier scheinen diese Lieder völlig normal zu finden und schreiten weiter im Tanz umeinander.
Edel gekleidete Damen mit komplizierten Steckfrisuren – Wulsten, Schnecken und Hörnern – bewegen sich geschmeidig zum Klang der fremdartigen Instrumente, die für mich wie Dudelsäcke, eckige Pauken und Tambourins mit Muschelschalen aussehen. Die Männer und auch die Frauen tragen schweren, bestickten Samt oder Brokat und auffälligen Schmuck. Die Damen zeigen ausnahmslos tiefe Dekolletés, und auf ihren Köpfen sitzen Hauben und Schleier, unter denen ihre seltsamen Frisuren stecken.
Ich komme mir vor wie in der Zeit zurückversetzt, umgeben von so vielen seltsamen Erscheinungen. Auch meine Freunde bekommen die Münder vor Erstaunen kaum zu und sehen sich um, als würden sie die Welt nicht mehr verstehen.
Uns gegenüber, an der kurzen Seite des Saals, ist ein runder Tisch aufgebaut, um den mindestens ein Dutzend eigenartig aussehender Leute sitzen: Manche mit grüner oder blauer Haut, einige mit seltsamen Auswüchsen auf den Köpfen. Ein paar von ihnen ähneln Menschen, doch einer hat den Kopf eines Affen und ein anderer den eines Fischs und darüber ein Goldfischglas mit Wasser – wohl, um atmen zu können! Eine Frau trägt statt Haaren rote Korallen, die sich wie ein Baum verzweigen und hoch aufragen. Die mit Abstand merkwürdigsten Leute, die ich je sah. Und das, obwohl ich selbst die Pooka und die Vilvuks im Wolf Forest kennengelernt habe! Ungläubig schüttele ich den Kopf. Doch die fremden Wesen bemerken uns kaum, da sie völlig vertieft zu sein scheinen in das, was sich auf dem Tisch abspielt.
In einem schweren fellbezogenen Thron sitzt der König und denkt nach, das Kinn auf die Faust und den Ellbogen auf den Tisch gestützt. Auf seinem Haupt trägt er einen edelsteinbesetzten Silberreifen als Krone.
Für uns hat er überhaupt keine Augen. Er scheint noch nicht einmal bemerkt zu haben, dass wir eingetreten sind, doch bei der Menschenmasse, die uns in ihrem Treiben regelmäßig die Sicht verdeckt, sind ein paar unscheinbare Krieger wohl auch nicht nebenbei zu registrieren.
„Seid gegrüßt, König Sevard vom marmornen Fels und Königin Solae, Sonne des Ostens!“, spricht der Hauptmann mit fester Stimme und übertönt sogar die Musik, was die Künstler irritiert einhalten lässt, den König jedoch nicht einmal dazu bewegt, den Blick zu heben.
Die Frau neben ihm nickt dem Hauptmann wohlwollend zu – hier muss es sich wohl um die Königin dieses Reichs handeln. Mäßig interessiert folgt auch sie dem Geschehen auf dem Tisch, doch der König selbst scheint ganz und gar gebannt davon.
Er starrt auf ein großes Feld, das wie eine Karte aussieht, die direkt in die Tischplatte geschnitzt wurde: Berge und Täler lassen sich ausmachen, und sogar Flüsse und Meere, in denen Wasser fließt! Ich recke neugierig den Hals und erkenne, dass verschiedene Teile der Karte mit Beschriftungen wie Drakónien, Surália und Vineta versehen sind. Auf einigen der Felder stehen winzige modellierte Burgen aus Lehm oder Ton, manche zerfallen, manche in Beschuss. Überall auf dem Feld sind kleine Armeen aus lebenden Figuren verteilt, die umherlaufen, schwere Belagerungswaffen schieben und mit etwas wie brennenden Streichhölzern schießen, was gelegentlich einige von ihnen umkippen lässt.
König Sevard gibt noch immer keine Antwort. Doch plötzlich scheint ihm ein Einfall gekommen zu sein. Er geht eifrig zu Werke, verschiedene Armeen hin- und herzuschicken, und gibt den Befehl: „Sturm auf die Burg! Das wäre doch gelacht, wenn wir nicht Vierströme noch erobern würden!“
Erfreut reibt er sich die Hände und richtet sich dann an uns, wobei er das erste Mal von seinem Schlachtfeld aufsieht.
„Was gibt es, Hauptmann?“, fragt er ungeduldig. „Ich befinde mich im Kriegszustand!“
„Mein König, dies sind Verdächtige, auf die wir an der westlichen Grenze stießen, in den inneren Limithen.“
„Nun, wie Waldmenschen der Grasberge sehen sie nicht gerade aus!“, lacht er; und der ganze Tisch stimmt mit ein.
„Was befehlt Ihr, soll mit ihnen geschehen, mein König?“
„Ich habe jetzt keine Zeit, selbst Entscheidungen zu treffen, holt meinen Entscheidungsfäller!“, meint der König ungehalten. „Oder noch besser: Sperrt sie einfach ins Verlies, vielleicht wird sich später jemand darum kümmern.“ Plötzlich stößt er einen Freudenschrei aus: „Sieg! Die Südlande gehören mir! Jetzt ist es nicht mehr weit bis Atlantis!“
Jubelnd reibt er sich die Hände und schiebt seine Armee ein Feld vor, wobei die kleinen Figuren hilflos durcheinanderstolpern und stürzen. Dann nimmt er erst einmal einen kräftigen Schluck aus einem silbernen Bierkrug.
„Was wollt Ihr denn mit diesem Reich der Dichter und Denker?“, äußert die Königin belustigt. „Ihr habt doch gar keinen Sinn für die Kunst!“
„Aber für den Handel und den Krieg! Atlantis ist ein fruchtbares Land mit zwei Ernten im Jahr, exotischen Tieren und Pflanzen – und vor allem Oreichalkos, dem feurig schimmernden Metall!“ Er sieht seine Königin belehrend an, und in seinen Augen blitzt etwas, das entweder Leidenschaft oder Wahnsinn sein muss. Ich fühle mich entschieden unwohl in dieser Gesellschaft.
„Ach, so ist das“, entgegnet seine Gattin einsichtig. Dann erhebt sie sich zum Tanz. „Von diesen Dingen verstehe ich nicht viel. Lasst wieder Musik spielen und uns an der Poesie vergnügen!“
„Ja, lasst die Musik weiterspielen!“, fordert auch der König, „und Ihr, Hauptmann, geht mir aus den Augen und stört mich nicht auf dem Schlachtfeld!“ Nun spricht er schon fast zornig.
„Ich soll sie ins Verlies sperren, mein König?“
„Ja ja, nun sperrt sie schon ein und verschwindet!“
„Zu Befehl“, bestätigt der Hauptmann knapp, und er und seine Männer packen uns an den Kleidern und zerren uns eilig wieder auf die Tür zu.
„Nein!“, ruft Andy. „Das dürft ihr nicht! Was ist das denn für eine Tat für den Herrscher eines so ruhmreichen Landes!“ Mit aller Kraft versucht er, sich zu dem König umzudrehen.
„Nun geht schon!“, entgegnet König Sevard kurz und winkt ab, als könnte er uns damit fortwischen. Die Soldaten drängen uns durch die Menge nach draußen.
„Wir sind Auserwählte auf einer wichtigen Reise!“, platzt Dina plötzlich heraus und greift zu ihrem letzten Argument. Dabei fällt sie beinahe die Treppen hinunter. Widerwillig stolpern wir ihr hinterher, doch plötzlich schrecken wir alle zusammen. Vor uns steht ein groß gewachsener Mann mit einer riesigen Geiernase und einem flachen Hut auf dem Haupt.
„Jetzt nicht mehr“, entgegnet er kühl und bedenkt Dina mit einem abfälligen Blick, „das werde ich zu verhindern wissen.“ Mit einer eleganten Handbewegung finden sich unsere Hände aneinander gekettet.
„Und wer bist du? Der Folterknecht?“, herrscht ihn Robin an und reißt grob an meinem Handgelenk. Ich will sofort schreien, doch ich beschließe rechtzeitig zu schweigen. Mit den Augen suche ich den Hof nach Clip und den Einhörnern ab.
„Vor euch seht ihr den hoheitlichen Verliesverwalter, das übrige Personal lernt ihr früh genug kennen.“ Die Gestalt dreht uns den Rücken zu. „Und jetzt los, ihr habt hier nichts mehr verloren!“
Dinas Augen funkeln böse. „Was fällt euch eigentlich ein!“, schreit sie und greift reflexartig an ihren Hals, nach dem Shel. Wieder ein Ruck, diesmal an meiner anderen Hand.
Angespannt stehen wir alle mitten auf dem abendlichen Burghof, nur durch eine Tür aus Eichenholz getrennt von einer ausgelassen feiernden Gesellschaft. Der König widmet sich vermutlich wieder seinem Spiel, während ich um mein Leben fürchte. Fieberhaft überlege ich, ob ich versuchen soll, einen Moment die Zeit anzuhalten, und blicke verunsichert von einem zum anderen. Andy und Annikki starren stur die Soldaten an und verziehen keine Miene, doch ihre Hände haben sie zu Fäusten geballt. In Pipers Gesicht steht die Angst geschrieben. Leise rasseln unsere Ketten.
„Warte noch“, befiehlt Annikki durch ihre zusammengebissenen Zähne und blickt weiterhin fordernd in die Augen des Hauptmanns. Dabei weicht sie kein Stück von meiner Seite. Das gibt mir Kraft und das Gefühl, die richtige Entscheidung treffen zu können, auch wenn ich ihre Worte nicht verstehen kann.
Robin senkt schnaubend den Blick und schließt einen Moment die Augen. „Es ist nicht zu fassen, wie duldsam ihr seid“, murmelt er missmutig und presst seine Hände zusammen, sodass die Knöchel weiß hervortreten. Ich erwarte schon, dass es den Soldaten gleich die Beine unter dem Körper wegzieht, aber der Verwalter kommt Robin zuvor.
„In den Turm mit ihnen!“, schreit er und packt persönlich Dinas Hand, die er wütend hinter sich herzieht.
Robin wehrt sich mit aller Kraft, aber als er sieht, dass es nichts bringt, knurrt er nur noch vor sich hin. Widerwillig steigen wir in den Turm hinauf.