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IV
Robin

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„Warum haben wir uns nicht gewehrt?“, fahre ich Andy an und blicke ihm so zornig in die Augen, als wäre er der einzige Schuldige. „Weißt du, wie viel Zeit wir dadurch einbüßen? Was ist mit unserem Plan? Mit jeder Minute werden unsere Chancen kleiner!“ Dass es mir schlicht gegen den Strich geht, mich von den aufgeblasenen Hinterwäldlern herumschubsen zu lassen, muss ich wohl nicht zusätzlich betonen.

„Robin“, unterbricht mich mein Bruder ruhig, „du darfst jetzt nicht durchdrehen. Wir werden hier schon wieder rauskommen, keine Panik. Aber wir müssen ja nicht gleich einen Krieg anzetteln. Noch dazu in einer Welt, die wir nicht kennen. Oder was meinst du?“

Die Soldaten sind inzwischen mitsamt dem Verwalter verschwunden und haben die rostige Eisentür, die uns nun von der Außenwelt trennt, krachend ins Schloss fallen lassen.

„Es war gut so“, sagt Annikki und versucht ebenfalls, uns etwas zu beruhigen. „Und es war richtig, dass du es nicht getan hast“, meint sie zu Brendan, auch wenn ich nicht weiß, was sie damit meint. „Deine Kraft erfordert sehr viel Macht, und du darfst nicht vergessen, dass du sie bereits in eurer Welt anwendest. Das allein wird dich viel Anstrengung kosten.“

„¡Incomprensible!“, zische ich und suche mit den Augen zweifelhaft nach etwas, woran ich meine Wut auslassen kann. Als ich nichts finde, schlage ich mit der flachen Hand gegen das kalte Gemäuer. Gefangen hinter Kerkerwänden, das ist doch nicht zu fassen.

„Ich bin dafür, dass wir als erstes diese Handschellen loswerden“, meint Brendan und reibt sich das Gelenk, mit dem er an mich gekettet ist.

„Und wie soll das gehen?“, fragt Dina genervt. Dann überkommt sie plötzlich ein Anfall von Verzweiflung. „Wir werden hier nie mehr rauskommen! Wir sitzen fest, bis wir verhungern!“

„Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen“, entgegne ich sarkastisch, „vorher verdursten wir nämlich.“

Angsterfüllt sieht sie mich an. Dieser Blick bringt mich fast wieder zum Schmunzeln. So naiv und hilflos tut sie mir manchmal fast leid.

„Dass ihr verdurstet braucht ihr nicht zu befürchten“, meldet sich plötzlich eine gelassene Stimme aus der Dunkelheit. „In dieser Zelle bekommt ihr jeden Morgen einen Krug faules Wasser, um den ihr euch streiten könnt! Um damit anschließend das harte Brot etwas aufzuweichen …“

Verdutzt sehen wir uns um. Unser Gefängnis misst zwölf Fuß im Durchmesser und hat die Form eines unterbrochenen Kreises. An die Wendeltreppe grenzt das eiserne Gitter, auf der anderen Seite befindet sich eine finstere nicht überschaubare Ecke. Von hier aus gesehen liegt sie im Schatten des blassen Abendlichts. Winzige Löcher unter der niedrigen Decke – Fenster, durch die ich nicht einmal meinen Kopf stecken könnte – lassen etwas fahles Licht herein, das als blasser Schein zu Boden fällt.

An der dunklen Wand kauern zwei Gestalten. Scheinbar sind sie die Einzigen, die das Verlies mit uns teilen. Vorsichtig mache ich einen Schritt auf die Schattenecke zu, um die beiden genauer in Augenschein zu nehmen. Mein Ärger ist über dieses neue Ereignis kurzzeitig verflogen. Eine junge Frauenstimme in unserem Gefängnis – ¡qué interesante!

Tatsächlich kniet auf dem Boden eine zierliche Gestalt. Sie trägt ein einfaches Leinenkleid, worunter sie zur Hälfte ihre nackten Beine verbirgt, ihre schmalen Füße stecken in geschnürten Sandalen. Über und über ist sie von Schmutz und Entbehrungen gezeichnet: Ihr dunkles Haar hängt strohig in das zarte Gesicht, das unter den Augen tiefe Schatten trägt. Mit knochendürren Armen stützt sie sich im Dreck der Zelle ab, geschüttelt von einem schrecklichen Husten. Armes hübsches Mädchen, denke ich schockiert und starre sie an. ¡Dios mío!

Auch die anderen sind nun still geworden und versuchen, mit zusammengekniffenen Augen gegen den Lichtschein zu erkennen, was ich aus meiner Posi­tion inzwischen kristallklar sehe: Eine wunderschöne junge Frau in einem furchtbaren Zustand.

„Hola, Bonita“, sage ich sanft, um ihr mein Wohlwollen zu zeigen. Und dann ernst: „Lasst uns hier verschwinden!“ Damit meine ich die anderen, die noch immer nicht gewagt haben, näher heranzukommen. Trotzdem kann ich die Augen nicht abwenden und frage das Mädchen mit meinem Blick, ob es uns folgen will. Sie hält mir stand und sieht mich lange an. Einen Moment kann ich ihren Ausdruck nicht deuten, aber dann erkenne ich mich darin selbst wieder.

„Es ist nicht so, dass wir es noch nicht versucht hätten“, erklärt sie mit fester Stimme. „Und ihr seid ja sogar noch aneinander gekettet.“

Als sie auf mich deutet, erkenne ich, dass sie die Arme frei bewegen kann – auch wenn ihre Handgelenke noch immer die brutalen Spuren der Ketten tragen.

Kurz entschlossen greife ich nach dem Shel an meiner Brust und mache mich daran, das Eisen, das mich an Brendan fesselt, zu lösen. In der Dunkelheit lässt sich das Licht nur schwer bündeln, daher dauert es länger, als ich erwartet hätte. Doch schließlich trennt der gezielte Energiestrahl unsere Hände voneinander. Ich widme mich sofort den anderen und registriere aus dem Augenwinkel, wie ein erstaunter Ausdruck über das hübsche Gesicht fliegt.

„No hay problema“, murmele ich mit einem Lächeln, auch wenn sie mich wahrscheinlich nicht versteht. Die dunklen Augen sprechen Bände. Wenn auch noch etwas zurückhaltend, aber doch auf keine Weise ängstlich. Wie ungewöhnlich.

Mein Bruder reißt mich aus meinen Gedanken.

„Wer ist das neben dir?“, fragt er das Mädchen höflich und kniet sich an meiner Seite auf den feuchten Boden, um die andere Gestalt näher in Augenschein zu nehmen. Bisher zeigte diese Person kein Interesse für die Neuankömmlinge, auch nicht, nachdem es nun acht Leute zu ernähren gilt und nicht mehr nur zwei. Das könnte zu einem ernsthaften Problem werden.

„Sie nennen ihn Rawhide. Wir kamen gemeinsam hierher“, antwortet sie kurz angebunden.

„Und wer bist du?“, frage ich neugierig.

„Mein Name ist Anjáli. Aber das ist nicht wichtig. Wisst ihr, wie wir hier rauskommen?“

„Was tut er da?“, fragt Andy weiter und lässt nicht locker. Auch Brendan und die Mädchen beobachten ihn gespannt.

„Das ist nicht so einfach zu sagen“, zögert sie und wirft einen Blick auf den jungen Mann in dem langen Gewand, der halb von uns abgewandt auf dem Boden sitzt und die Augen konzentriert geschlossen hält. Über seinen Rücken fällt langes helles Haar, im Nacken wirr zusammengebunden. Was ich von seinem Gesicht erkenne, trägt kantige Züge; seine Augen sind vermutlich tiefblau. Auch wenn Dina hinter mir steht, spüre ich an ihrem Schweigen ihre Faszination. Als ich ihre tiefen Atemzüge höre, verdrehe ich die Augen und denke mir meinen Teil. Zum Glück ist Piper die Einzige, die diese Parallele zwischen uns beiden bemerkt.

Annikki antwortet an Anjális Stelle.

„Er ist in Trance“, sagt sie mit angestrengt gerunzelter Stirn. „Versucht er, Magie anzuwenden?“

„Er beschwört einen Nachtnebel“, bestätigt das Mädchen. „Dadurch kann man ungesehen über den Hof gehen.“

„Ist das eine Art Übung, die Vorbereitung einer Flucht?“, fragt Andy mit einem neuen Hoffnungsschimmer.

„Nun ja, vielleicht“, antwortet Anjáli zögerlich. „Wenn wir durch die Fenster könnten, wären wir schon längst verschwunden. Unsere Drachen sind in der Felsenstallung, genau wie eure vermutlich auch. Da würden sie leicht herauskommen, nur wir können den Turm nicht verlassen. Gegen das Eisen kann selbst Rawhide nichts ausrichten.“ Sie deutet auf die Gittertür und die schmalen Fenster.

„Wir werden hier rauskommen“, sage ich zuversichtlich. „Wollt ihr uns helfen und mit uns gemeinsam fliehen?“ Als ich das ausspreche, komme ich mir selbst etwas lächerlich vor. Natürlich wollen sie fliehen! Anjáli sieht mich ernst an. Ich kann ihre Gedanken nur schwer lesen, doch ein leises Stirnrunzeln verrät mir ihr Zweifeln.

„Seid mal still“, flüstert Piper plötzlich, „hört ihr das?“

Mit angehaltenem Atem lauschen wir, was sie meint. Den Wendelstein hinauf schlurfen leise Schritte. Kleine, tapsende Füße – die Schritte eines Kindes. Wir sehen uns fragend an.

Hinter den Gittern zur Freiheit kommt ein kleines Mädchen zum Vorschein, vielleicht zehn Jahre alt. Mit den Händen hält sie ihre Schürze, die sie über ihrem Samtkleid trägt und zu einer Tasche gefaltet hat. Was darin ist, kann ich nicht erkennen. Ihr dichtes schwarzes Haar hat sie zu drei dicken Zöpfen geflochten. Große Augen starren uns erschrocken an. Wir können ihr nur ebenso überraschte Blicke entgegnen. Was hatte sie erwartet? Und wer ist sie überhaupt?

„Ich habe dich im Saal gesehen“, meint Piper nach langem Schweigen.

Das Mädchen schaut sie ängstlich an. „Ihr werdet mir nichts tun, oder?“

„Hättest du nicht wissen müssen, dass wir hier sein würden?“, frage ich verwirrt. „Und wer bist du überhaupt?“

„Du bist die Prinzessin“, meint Annikki, noch immer nachdenklich.

„Nein, wir tun dir nichts“, sagt mein Bruder endlich. Warum sollten wir auch?

„Und sie werden dich auch nicht verraten“, ergänzt Anjáli und sieht mich dabei streng an.

„Natürlich verraten wir niemanden“, sage ich und zucke mit den Schultern. „Weshalb denn?“

„Weil ich ihnen Essen bringe“, antwortet das Mädchen und läuft auf Anjáli zu, die sich nun aufgerichtet hat und nahe bei ihr am Gitter steht. Aus ihrer Schürze nimmt die Prinzessin rohes Gemüse und ein Stück gebratenes Fleisch. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen; seit einem Tag haben wir nichts Vernünftiges gegessen. Ich bin versucht, einen Apfel oder eine Karotte einfach hier herüberschweben zu lassen, doch Anjáli nimmt mir meinen Gewissenskonflikt ab.

„Gib ihnen auch etwas“, meint sie, an das Mädchen gewandt. „Sie müssen völlig ausgehungert sein.“

„Das kann man sagen“, beschwert sich Dina und hält sich den Magen. Die Prinzessin macht ein paar Schritte auf mich zu und reicht mir mit lang ausgestreckter Hand eine dunkelblaue Rübe durch die Eisenstäbe.

„Ich habe nicht gewusst, dass ihr im Turm seid“, meint sie entschuldigend, „ich hätte mehr mitnehmen müssen.“

Fragend sehe ich sie an. „Wo hätten wir denn sonst sein können?“

„Unten im Keller“, antwortet sie zögernd, „dort, wo die Folterkammern sind.“

Schockiert blicken wir sie an.

„Obwohl sie nicht einmal wissen, wer wir sind?“, fragt Piper entrüstet.

„Eben darum“, antwortet die Prinzessin kurz. Dann wechselt sie schnell das Thema. „Ich bin übrigens Sói“, sagt sie, „hier, nimm auch etwas!“ Immer noch hält sie mir die seltsame Rübe hin. Ich nicke schweigend und nehme dem Mädchen das Gemüse aus der Hand. Etwas misstrauisch begutachte ich es und frage mich, ob es wohl schmackhaft ist. Normalerweise würde ich einfach hineinbeißen, aber in einer Welt, in der es giftige eierlegende Beutelratten gibt …

„Kennt ihr so etwas nicht?“, fragt Anjáli, als sie meine Reaktion bemerkt. „Als wir herkamen, mussten wir uns auch daran gewöhnen, aber diese Wurzeln sind wirklich sehr nahrhaft!“ Lustvoll beißt sie in eine ähnliche Rübe von gelber Farbe.

„Warum seid ihr denn hier drin?“, fragen Andy und Piper fast gleichzeitig, als hätte sie die ganze Zeit über nichts anderes beschäftigt.

„Wilderei“, antwortet nun zum ersten Mal Rawhide mit tiefer Stimme, wenn auch kurz angebunden. „In ihren Augen sind wir Wilddiebe.“

Dina starrt ihn an, als könnte sie nicht glauben, dass er eben tatsächlich gesprochen hat. Aber er scheint schon kein Interesse mehr an uns zu haben.

„Eigentlich waren wir nur auf der Durchreise“, ergänzt Anjáli, „aber wir mussten uns versorgen. Sói war dabei, als man uns gefangen nahm, seitdem bringt sie uns abends ein Zugemüse. Aber ihr Vater darf davon niemals etwas erfahren!“

„Sonst kann ich nicht mehr herkommen“, ergänzt die Prinzessin beschwörend.

„Sói, du musst uns helfen!“, redet Piper plötzlich auf das Mädchen ein. „Wir müssen unbedingt fort von hier, wir haben einen wichtigen Auftrag! Du musst uns sagen, wie wir hier rauskommen!“

„Einen Auftrag?“, fragt Anjáli überrascht. Doch vorerst muss sie sich mit der Antwort gedulden. Eindringlich blicken wir auf das kleine Mädchen. Sie überlegt lange. Mir kommt der Gedanke, Anjáli zu fragen, auf welcher Durchreise sie eigentlich waren, möglicherweise könnten wir ein Stück des Weges gemeinsam zurücklegen. Immerhin kennen sie sich hier besser aus als wir.

„Das würde ich gerne“, beginnt die Prinzessin. „Ich denke oft darüber nach, wie es geht, aber den Schlüssel zum Verlies hat nur der Verwalter. Ohne ihn funktioniert es nicht. Und der ist so kalt und böse, dass er selbst für Gold nicht auf seine Folterprozeduren verzichten würde …“

Aus ihrem Blick spricht traurige Ehrlichkeit. Einen Moment lang kommt ein verzweifeltes Schweigen auf. Wertvolle verschenkte Zeit. In mir beginnt es erneut zu kochen.

„Gut“, antwortet Andy sachlich, „wir dürfen keinen Augenblick verlieren. Ich werde herausfinden, wie wir hier am schnellsten wegkommen. Der Verwalter hat den Schlüssel, sagst du?“ Sói nickt verwirrt. „In Ordnung, darum kümmere ich mich. Übernehmt ihr alles Weitere. Wir brauchen unsere Waffen wieder und die Pferde und Drachen. Zu Fuß kommen wir sicher nicht weit, also werde ich versuchen, einen anderen Weg zu finden …“

Er tauscht einen langen, vielsagenden Blick mit Piper. Dann macht er einen Schritt durch das Gitter und verschwindet. Innerlich muss ich jubeln – endlich kommen wir hier weg!

Die Krieger des Horns - Nebelmond

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