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Kapitel 6

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Martha wischte sich ihre Hände an der Schürze ab. Sie nahm die dreckige Pfanne und spülte auch diese fein säuberlich. Danach der kleine Topf. Über Jahrzehnte hatten sich diese Handgriffe in ihren Tagesablauf eingefügt. Sie spürte das heiße Wasser, den Schaum und den Lappen, der durch ihre Finger glitt. Langsam, sehr langsam wischte sie mit diesem über die silberne Oberfläche des Topfes. Plötzlich war der Dreck weg. Der Topf glänzte von außen.

Martha hielt ihn hoch über die Spüle und betrachtete ihr Gesicht im spiegelnden Aluminium. Das Wasser tropfte in das Becken. Martha sah nicht viel von sich. Und das, was sie sah, war schmal und verzerrt. Den Mund konnte sie erkennen, die Augen gerade so. Sie senkte den Topf langsam wieder ins Wasser. Das Innere des Topfes füllte sich schnell. Trotz des Schaums und des mittlerweile recht trüben Wassers konnte sie den verkrusteten Boden erkennen. Sie krallte den Schwamm und scheuerte im Topf herum. Alles langsam. Sie nahm den leichten Geruch des Spülmittels wahr. Es roch unnatürlich, aber noch nicht zu penetrant. Sie hasste diese chemischen Gerüche. Es roch so giftig. Deshalb musste es genau dieses Spülmittel sein. Ohne Zitronenduft. Oder einen der anderen unangenehm riechenden, künstlichen Gerüche. Früher hatten sie das Spülmittel selbst hergestellt. Mit gehobelter Kernseife. Jetzt war das schlicht nicht mehr notwendig.

Sie hörte das Ticken der Uhr. War es schon immer so laut? Die Zeit, sie verlief so schnell. Tick. Tack. Tick. Tack. Sollte es jetzt vorbei sein? Die Zeit um, einfach so? Sie hatte wieder den Krankenhausgeruch in der Nase. Der weiße Kittel. Sein ernstes Gesicht. Voller Sorge, aber zugleich ein aufmunterndes, immerwährendes Nicken. „Die Chancen stehen 50:50.“ Tja, so einfach war es. Das weite, große Leben in eine einfache Formel gepackt. Möglichkeiten, schillernde Vielfalt, Einzigartigkeit – das alles stand oder fiel mit dieser einen Formel. Nicht viel für ein ganzes Leben. Viel zu einfach für diese Komplexität. Und doch war es die Wahrheit. Die einzige, echte Wahrheit. Er sollte es klar aussprechen. Das hatte er getan.

Und nun stand sie hier, tat das, was sie jeden Tag tat und wischte sich mit dem nassen Handrücken die Träne weg. Eine zweite tropfte ins Wasser. Noch eine. Und noch eine. Wieso ich? Wieso immer ich? Jetzt liefen ihre Tränen unkontrollierbar und sie steigerte sich in diese Frage hinein. Sie hatte so sehr gehofft, es wäre vorbei. Nie wieder. Doch nun wurde sie eingeholt. Und der Brief bestätigte nur schmerzhaft das Gesagte: Welchen Weg wirst Du gehen?

Ein paar Tage später saß Martha in ihrem Sessel und machte Sudoku. Sie hatte zum Mittag Grießbrei angerührt, weil sie keine große Lust zum Kochen und nichts aus der Gefriertruhe geholt hatte. Diese fehlende Mittagsplanung war sonst nicht ihre Art, aber zurzeit fiel ihr alles schwerer. Sie war unkonzentriert und oft schlecht gelaunt. So war es meistens, wenn sie eine Entscheidung fällen musste, es aber nicht tat. Dieses Mal war es heftiger. Es ging um so viel. Es ging um ihr Leben. Da war schlechte Laune das geringste Übel. Trotzdem oder gerade deshalb fühlte sie sich furchtbar.

Sie schaute auf die Kästchen im Block hinunter und stellte fest, dass die meisten Zahlen noch fehlten. Wie sollte es auch anders sein? Sie beschloss, die Sache heute zu klären. Es brachte einfach nichts. Es wurde nicht besser. Im Gegenteil. Und sie würde versuchen, alles pragmatisch anzugehen. Ohne große Emotionen. Einfach nach den Fakten.

Martha legte den Block beiseite und erhob sich. Sie ging in die Diele zur Geburtstagspost und suchte den Brief heraus. Sie setzte sich an den Tisch und hielt den Umschlag vor sich hin. Sie starrte auf das Papier. „Klinikum“ stand dort. Das Kuvert war bereits geöffnet. Vor ein, zwei oder drei Wochen – die Zeit verging zu schnell – hatte sie den Inhalt bereits gelesen. Widerstrebend und nur flüchtig. Zumindest konnte sie damals feststellen, dass es das Gleiche war, was der Arzt erzählt hatte. Sie wollte es nochmals schriftlich haben. Und hier waren sie nun, die Fakten. Die Möglichkeiten.

Martha überflog nochmals die Papierbögen und fing an, langsam und genau zu lesen. Die Sachen, die sie nicht verstand, markierte sie gelb. Ab und zu schrieb sie mit Bleistift etwas daneben. Eine Frage. Eine Anmerkung. Eine Bewertung. Es war, als würde es nicht um ihr Leben gehen.

Als sie fertig war, legte sie die Zettel beiseite. Sie starrte aus dem Fenster heraus. Eine Blaumeise stibitzte ein oder zwei Körner aus dem Vogelhäuschen im Garten. Schnell flog sie wieder weg. In den nächsten Holunderstrauch. Martha nahm dies alles nicht wahr. Sie blickte einfach nur durchs Fenster. Ohne Ziel. Im Gedanken all die Möglichkeiten mit ihren mehr oder weniger hohen Chancen. Und mit allen Nebenwirkungen und Risiken. Da waren die Methoden der Schul- und die der alternativen Medizin. Da waren unterschiedliche Darreichungsformen – intravenös oder medikamentös. Es war eine Vielzahl an Behandlungen, den wenigsten wurden jedoch gute Chancen zugerechnet. So schränkte sich der Kreis der Möglichkeiten also ein. Doch selbst die beste Therapie kam nicht über fünfzig Prozent. Aber was sagt das schon? Wieso sollte es nicht auch dieses Mal klappen. Ein Wunder. Das Beste vom Besten.

Marthas Blick schweifte über die Wände in der Diele und blieb an ihrem Hochzeitsfoto hängen. Plötzlich verspürte sie das innere Bedürfnis, alte Zeiten heraufzubeschwören. Die schönen Erinnerungen waren die besten. Sie halfen – weg von der Traurigkeit, von tristen Gedanken, von notwendigen Entscheidungen. Martha ging ins Wohnzimmer und holte die Kiste aus der Schrankwand. All ihre Erinnerungen in diese kleine Kiste gepackt. Nicht größer als ein Schuhkarton. Vorsichtig hob sie den Deckel ab und griff nach dem ersten Einsteckalbum. Vor Jahren hatte sie die alten schwarz-weiß Bilder in eine gut geschützte Ordnung gebracht. Nun hielt sie diese Kostbarkeiten vorsichtig in ihrer faltigen Hand und blätterte die erste Seite um.

Er hielt sie fest im Arm. Sie standen auf dem Terrassenufer in Dresden. Es war 1961. Im Hintergrund die Elbe, ein Raddampfer und der Rat des Bezirkes. Plötzlich spürte sie wieder den leichten Wind auf der Haut. Die Sonne prasselte auf ihre Gesichter. Die vielen Menschen um sie herum. Sie genossen ebenso den herrlichen Sommertag. Alle waren gut gelaunt. Touristen fotografierten. Andere schleckten Eis. Sie zuckte zusammen als einer der Dampfer sein tiefes Signal ertönen ließ. Es war ein freudiger Ton, der stetig anschwoll und nach einem kurzen Aufbäumen schließlich schwieg. Einige Menschen auf der Terrasse winkten den Passagieren des Schiffes zu. Und dann legte die „Diesbar“ ab.

Sie strich sanft über das Foto. Über sein Gesicht, seinen Arm und blieb auf der Hand, die ihre fest umschloss, liegen. Was würdest Du tun? Was würdest Du mir raten? Habe ich eine echte Chance? Wie lange werde ich kämpfen müssen? Wo bist Du jetzt? Ich brauche Dich so sehr! Ich fühle mich so allein.

Das andere Foto zeigte sie vor der Semperoper. Und da der Fürstenzug. Und hier stand er vor der Ruine der Frauenkirche. Ein trauriges Relikt.

Martha blätterte ein paar Seiten weiter und entdeckte das einzige Foto von ihr bei der Arbeit. Sie saß auf einem Schemel und melkte. Sie hatten den Kuhstall etwas umgebaut und neue Kühe erworben. Sie konnte den Duft des Stalls riechen. Kuhmist und frische Milch. Die prall gefüllten Euter der Kühe und eine Katze, die um ihre Beine strich.

Die nächsten Bilder zeigten den Hof und das Wohngebäude, die Scheune und ihren geliebten Gemüsegarten.

Sie nahm ein anderes Album aus der Kiste und blickte in zwei strahlende Kindergesichter. Hier waren sie nun, ihre zwei Jungen. Steffen, der Ältere, blickte auf Thomas herab. Sie hatten sich an den Händen gefasst und standen vorbildlich, bereit für das Foto. Sie erinnerte sich, welcher Kraftakt das war. Keiner der beiden wollte stillstehen. Und dann schmollte der eine, später bekam der andere einen Lachanfall. Es wunderte sie noch immer, wie sie das Foto letztlich doch zustande gebracht hatten. Weiter hinten folgten alte Familienbilder, Fotos von einigen, wenigen Festen.

Martha schloss das Album und legte es vorsichtig in die Kiste zurück. Lange blickte sie die Alben an, wie sie da ordentlich in der Kiste lagen. Und dann, ganz langsam, erschien auf ihrem Gesicht ein Ausdruck der Zufriedenheit. Sie lächelte leicht vor sich hin und schien sich noch in einer anderen Zeit zu befinden. Martha hatte etwas Wesentliches begriffen. Sie verstaute die Kiste an ihrem Platz. Ihre schlechte Laune war weg. Sie fühlte sich gestärkt und hatte einen Sack weniger zu tragen. „Danke für die Hilfe, Paul“, flüsterte sie leise. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen.


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