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Kapitel 7

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„Jonas, musste das jetzt sein?“ Thelas Stimme nahm eine verdächtige Lautstärke an. Sie stand vor ihrem Sohn, die Hände in die Hüften gestemmt und blitzte ihn wütend an. Sie war kurz davor, ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Es war allein seinem Glück zu verdanken, dass sich ihre anfängliche Aggression auf dem Weg zu ihm etwas legte. Denn sie hatte noch den Herd ausschalten müssen. Diese wenigen Sekunden retteten Jonas vor dem besagten Übergriff. Und wahrscheinlich hätte dieser sowieso nichts genützt. Wie meistens. Denn es war einer jener Momente, in denen er seine Mutter herausfordern wollte. Ein Moment, in dem es in seinem Kopf „klick“ gemacht hatte und er nicht mehr überlegte, bevor er etwas tat. Und auch danach war es ihm mitsamt den Konsequenzen egal. Er war mit keiner Strafe mehr zu erreichen, rannte nur weg oder lachte seiner Mutter schadenfroh ins Gesicht.

Thela hatte mit der Zeit gelernt, dass es hier am besten war, ihn zunächst einmal nicht zu beachten. Oder, sobald noch größerer Blödsinn zu erwarten war, was in den überwiegenden Fällen zutraf, ihn einfach festzuhalten. So saß sie nun mit Jonas auf dem Sofa. Thela hielt ihn an sich gepresst und er strampelte wie ein kleines Kind wild um sich. Er brüllte sie an und schließlich heulte er als wäre ihm das Schlimmste auf der Welt widerfahren.

In diesem Moment krachte es in der Küche. Gleich darauf kam Lina angelaufen: „Mami, ich brauche einen Lappen!“ Thela stellte den wild schreienden Jonas auf seine Beine und zerrte ihn am Oberarm Richtung Küche. Nur so konnte sie den jaulenden Sohn von weiteren Dummheiten abhalten und zugleich der Ursache des Lärms in der Küche auf den Grund gehen. Als sie im Türrahmen angelangt war, machte Sie ihrer Verärgerung lautstark Luft: „Das kann doch nicht wahr sein! Könnt ihr Euch vorstellen, dass ich keine Lust mehr habe? Ich bin den ganzen Tag im Büro. Das ist anstrengend! Am Nachmittag muss Jonas unbedingt unser halbes Haus auseinandernehmen – kannst Du Dir vorstellen, wie teuer so eine Tür ist? Und unser Abendbrot kann ich nun auch nochmal machen – Lina, das war der Teig für die Pfannkuchen!“ Thela holte tief Luft. Sie wollte aufgeben. Einfach alles hinwerfen und abhauen. Jonas wand sich immer noch laut jammernd in ihrem Griff. Lina stand mit eingezogenem Kopf und schuldbewusstem Blick neben dem Brei, der sich langsam auf dem Küchenboden ausbreitete. Ein Teil tropfte noch vom Küchenschrank. Ein Rinnsal lief die Küchenschranktür hinunter. Die Eiskönigin auf Linas Pulli ließ sich den Teig schmecken.

Thela ging schnell im Kopf durch, welche Maßnahmen sie jetzt in welcher Reihenfolge ergreifen musste. Endlich ließ sie Jonas‘ Arm los. Dann entkleidete sie Lina vorsichtig und schickte sie unter die Dusche. Lina klebte die Masse in den langen, dunkelblonden Haaren. Als sie den größten Teil des Teiges aus der Küche provisorisch entfernt hatte, half sie Lina beim Waschen. Jonas hatte sich endlich etwas beruhigt und sich auf ihr Geheiß in sein Zimmer verzogen. Innerlich verfluchte sie die Zugverspätung. Mit Jo wäre alles etwas einfacher gewesen.

Später stand sie immer noch verärgert in der wieder sauberen Küche und rührte neuen Pfannkuchenteig an. Auch Lina war jetzt in Schlafanzug und Bademantel gehüllt in ihrem Zimmer und hörte Hörspiel. Jonas malte. Thela stellte nach einem Blick auf die Uhr fest, dass sie durch das Durcheinander in Verzug waren. Die Kinder würden nicht rechtzeitig im Bett sein. Da klingelte das Telefon. Thela fluchte. Immer zu den besten Zeiten.

„Thela, ich habe mir gedacht, vielleicht könntest Du mich mit nach Dresden nehmen. Du hast doch erzählt, Du fährst am Freitag dorthin. Ich würde mir gerne nochmal die Stadt anschauen. Wäre das möglich?“ Martha klang recht unbeschwert. Im Gegensatz dazu war sie selbst nun völlig überfordert. Sie stammelte etwas zusammen, dass sie in Dresden keine Zeit für Oma Martha habe. Und dass sie am Nachmittag wieder nach Hause fahren wolle. Und dass sie Martha nicht herumfahren könne. Doch all das schien diese nicht im Geringsten zu stören. Vielmehr schwärmte sie ihr vor, wie schön es damals in der Stadt war. Und dass sie sich vergewissern wollte, ob es immer noch so toll sei. Und sie wolle unbedingt mal die neu aufgebaute Frauenkirche sehen. Sie selbst sei doch schon so alt. 77 Jahre, wer weiß, wie lange sie noch so weit reisen könne. Bitte, Thela.

Thela stellte resigniert fest, dass ihr dagegen keine Argumente einfielen. Zumindest keine, die sie Martha entgegenhalten konnte. Sie musste sowieso allein fahren. Platz war also genug im Auto. Sie hörte das Öl in der Pfanne knistern. Bereit für den Teig. „Oma, wir machen das so. Ich hole Dich am Freitag gegen 8 Uhr ab.“ Thela hörte Martha am anderen Ende aufatmen. Sie schien zu strahlen, als sie sich verabschiedete. Anscheinend war es ihr wirklich wichtig.

Thela war müde. Sie fühlte sich ausgelaugt und kraftlos. Zu klaren Gedanken nicht mehr wirklich fähig. Sie hoffte, Jo würde bald kommen und ihr einen Teil der Arbeit abnehmen. Sie konnte nicht mehr.

Einige Stunden später lag sie wach im Bett. Trotz der späten Stunde und ihrer Kraftlosigkeit konnte sie nicht einschlafen. Sie hoffte, dass es Martha nicht zu sehr anstrengte. Immerhin würden sie an einem Tag sechs Stunden auf der Autobahn verbringen – wenn es gut lief. Wieviel Anstrengung konnte eine Frau in Omas Alter ertragen? Und würde sie die ganze Fahrt nur reden?

Eigentlich hatte sie sich doch auf diese Fahrt gefreut. Endlich einmal etwas Ruhe. Abstand von den Kindern, dem Haushalt, vom Alltag. Sie hätte etwas weniger Stress gehabt. Nun würde sie wohl keine Ruhe finden. Und die Sache mit Michael konnte sie auch vergessen. Sie hatte geplant, ihn auf dem Weg kurz zu besuchen. Jedenfalls eine fixe Idee war es gewesen. Vielleicht hätte sie es sowieso nicht gemacht. Denn Jo wollte sie davon nichts erzählen. Aber auch das war irgendwie komisch, ihn zu belügen. Jedenfalls ihm etwas zu Verschweigen. Doch was wäre schon dabei gewesen, ihren alten Arbeitskollegen zu besuchen? Wenn es schon auf dem Weg lag. Doch es hatte sich ja sowieso erledigt. Aber Martha konnte sie nicht mehr absagen. Sie hatte deren Vorfreude sogar durchs Telefon gespürt. Sie seufzte. Jetzt musste sie das Thema abhaken. Schon ihres lieben Schlafes wegen. Freitag würde sie Martha abholen.

Nachdem Thela die morgendlichen Kämpfe ausgefochten hatte und Jonas in der Schule und Lina endlich im Kindergarten waren, machte sie sich auf den Weg zu Martha. Den Abend zuvor war sie nochmals die Akte der Häußlers durchgegangen. Sie hatte sich mögliche Fragen an Lettie notiert, wusste aber nicht so recht, was sie erwartete. Warum hatte Lettie es nicht am Telefon erzählen können? Oder schriftlich? Wieso war es der Schwester ihres Mandanten so wichtig, dass sie vorbeikäme? Normalerweise war das nicht Thelas Vorgehen. Es kostete einfach zu viel Zeit und Geld, für eine einfache Aussage so weit zu reisen. Aber vielleicht war es die Art gewesen, in der Lettie mit ihr geredet hatte. Oder es lag einfach nur an ihrem Bedürfnis nach Ruhe. Der Flucht vor dem Alltag, vor der Familie. Solch eine Chance bot sich ihr nicht oft.

Nun saß sie also im Auto und genoss die Ruhe. Vorerst. Und wieder war diese Frage in ihrem Kopf: Wieso wollte Martha den anstrengenden Tagestrip unternehmen? Sie hätte doch eine von den vielen Kurzurlauben nach Dresden unternehmen können, die fast jedes Busunternehmen hier anbot. Das wäre für sie weniger anstrengend gewesen. Außerdem hatte Thela doch betont, dass sie nicht in der Umgebung herumfahren könnte, genauso wenig wie die Busunternehmen es tun würden. Doch mit diesen könnte Martha wenigstens noch einen großen Teil der Touristenattraktionen sehen. Sie würde es ansprechen.

Dann dachte sie wieder an die Häußlers. Sie konnte es verstehen, dass ihr Mandant nur das Beste für seine Mutter wollte. Sie sollte möglichst ihren Willen bekommen. Und nicht leiden müssen. Aber hatte sie wirklich gelitten? Wieviel hatte sie denn mitbekommen? Sicher, durch die Sonde war ihr Körper weiterhin lebensfähig. Aber wo war ihre Seele? Ihr Geist? Hatte diese Frau von all dem noch ein Empfinden? So war es doch nur vernünftig, die Ernährung einzustellen. Oder?

Das größte Problem war doch, dass die Menschen keine Ahnung davon hatten, wie das Leben nach dem Tod ausschaut. Dass sie nicht wissen, wie es sich im Koma anfühlt. Es gibt Spekulationen und vereinzelt auch Erfahrungsberichte derer, die aus dem Koma wieder erwachten. Aber was stimmte denn wirklich? Was stimmte für den einzelnen Menschen? Erlebten es alle gleich? Und welche Rolle spielte der Glaube dabei?

Martha erwartete sie mit einem kleinen Köfferchen bepackt vor der Haustür. Sie sah aus, als wollte sie das gesamte Wochenende verreisen. Thela sagte nichts. Sie verstaute den Koffer im Auto. Dann setzte sie sich hinters Lenkrad und fuhr los. Martha zeigte die ganze Fahrt über eine fast kindliche Freude. Ihr Mund und ihre Augen waren von etlichen Lachfalten umgeben. Sie strahlte Thela an. Es war nicht zu übersehen, dass sie die Entscheidung für diese Tagestour keine Minute bereute. So stand auch ihr Mund nicht still. Vor lauter Aufregung schien sie ganz aufgekratzt und erzählte Thela von der vergangenen Woche. Von den erledigten Hausarbeiten – sie hatte die Gardinen im ganzen Haus abgenommen, gewaschen und wieder aufgehangen – von ihren Terminen und den Treffen mit ihren Freundinnen mitsamt Rommeespiel. Thela versuchte, aufmerksam zuzuhören und nickte ab und zu. Dennoch stellte sie mit Bedauern fest, dass ihre Ruhe nun vorbei und an Entspannung endgültig nicht mehr zu denken war. Sie fragte sich zum wiederholten Male, ob Martha bewusst war, dass sie in Dresden nicht viel Zeit haben würde. Schließlich wollte sie nicht erst in der Nacht wieder Zuhause sein. Doch sie brachte es nicht übers Herz, die offensichtlich fröhliche Martha darauf hinzuweisen. Also versuchte sie weiter zumindest mit einem Ohr zuzuhören und zu hoffen, dass der Redefluss demnächst jedenfalls etwas abnehmen würde.

Nach einer Weile wollte Martha näheres zum Grund ihres beruflichen Ausflugs wissen. Thela erzählte kurz, lenkte aber bald das Thema wieder auf Martha. Es war leichter so zu tun, als würde man zuhören, als selber zu erzählen. Letzteres war vor allem beim Autofahren anstrengender. Also wollte Thela wissen, was Martha in Dresden suchte. Denn soweit sie wusste, war ihre Oma nicht direkt in Dresden groß geworden, sondern in einem kleinen Städtchen in der Sächsischen Schweiz. So fragte sie mehr aus Höflichkeit und um nicht selbst reden zu müssen, welchen Bezug Martha zu Dresden hatte.

Wie erwartet und von Thela erhofft, begann Martha daraufhin einen längeren Monolog über ihre Kindheit und Jugend zu halten. Thela musste also nur gelegentlich nicken oder ein „Ja“ oder „Achso“ von sich geben, konnte im Übrigen aber ihren eigenen Gedanken nachhängen. Oder einfach nur abschalten auf „Ruhe“.

Doch leider war dies nicht so einfach wie gedacht. Thela war nämlich von Natur aus ein sehr neugieriger und interessierter Mensch. Deswegen musste sie unweigerlich zumindest mit einem Ohr den Erzählungen von Martha lauschen. Diese sprach von einer Zeit, die Thela so nicht kannte und nie erlebt hatte. Letztlich hörte sie gespannt zu. Sie war vom Erzählten so gefesselt, dass sie sich gelegentlich ermahnen musste, genauer auf den Straßenverkehr zu achten.


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