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Kapitel 2

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Als Martha aufwachte, wusste sie nicht, wo sie sich befand. Sie öffnete die Augen. Alles war dunkel. Nur durch die schmalen Schlitze der Rollläden drang das spärliche Licht der Straßenlaternen.

Jetzt fiel es ihr wieder ein. Natürlich, wo sollte sie auch sein. Seit Jahren war sie jeden Morgen in ihrem Haus aufgewacht. Wieso sollte es heute anders sein? Und dann kam ihr der gestrige Tag wieder vor Augen. Ihr Geburtstag. 77 Jahre. Ganz schön alt. Und doch staunte sie manchmal, dass es immer mehr Menschen wurden, die jünger waren als sie und immer weniger, die älter waren. Dabei konnte sie sich noch so gut an längst vergangene Ereignisse erinnern. Als wäre das gestern gewesen und nicht ihr 77. Geburtstag.

Martha wollte aufstehen. Wie immer war es viel zu früh am Tag. Aber ihr Kopf drängte. Doch ihr Körper rebellierte. Jedes ihrer Körperteile schien zu schreien: Ich bin müde! Lass mich noch schlafen! Sie spürte, dass ihre Arme und Beine einfach nicht wollten. Sie wollten einfach liegen bleiben. Ruhe haben. Das Nichtstun genießen.

Martha überlegte, was sie heute alles zu tun hatte. Es war so viel aufzuräumen. Die Essensreste waren zum Glück schon verstaut. Doch das Geschirr wartete, in der Spülmaschine und daneben. Tische und Stühle mussten wieder an ihre Plätze. Und gegen neun Uhr kamen Thomas und Heidi zum Helfen. Bis dahin wollte sie schon einen großen Teil geschafft haben. Sie musste also aufstehen.

Martha setzte sich auf und lehnte sich an das Kopfende des Bettes. So saß sie und schaute zum Fenster. Kein Laut von draußen. Ruhe. Dunkelheit. Nicht einmal die Finsternis entfernte sich langsam. Sie blickte auf die Uhr. Kein Wunder – es war kurz nach sechs. Es würde noch gut eine Stunde dauern bis es hell wurde. Sie rutschte ein Stückchen in ihre Kissen zurück. Ihre Arme fühlten sich an, als würden sie heruntergezogen. Wieder ins Bett hinein. Und den Beinen erging es ebenso. War sie gestern tatsächlich keinen Marathon gelaufen? Ihr ganzer Körper wollte liegen bleiben. Aber das Geschirr wartete. Und es musste unterm Tisch gesaugt werden. Lina war gestern nicht die Einzige gewesen, die ihr Essen auch dort verteilt hatte. Auch die Küche war zu wischen. Es gab wirklich so viel zu tun. Sie schloss die Augen.

Aber eigentlich konnte sie das alles doch mit ihren Kindern gemeinsam machen. Und bis neun war es noch viel Zeit. Martha rutschte tiefer in ihre Kissen, rollte sich auf die Seite und gönnte ihren Gliedern noch ein wenig Ruhe. Ihr Kopf arbeitete indes auf Hochtouren. Aber zum Glück gab es genügend zu planen für den heutigen Tagesablauf.

Eine Stunde später war Martha beim Anziehen. Sie frühstückte eine Kleinigkeit, trank ihren Tee und putzte Zähne. Danach nahm sie sich zunächst den Geschirrspüler vor. Das Ausräumen ging langsam voran. Und als sie die schmutzigen Gläser eingeräumt hatte, musste sie zunächst eine Pause einlegen. Sie setzte sich auf die Bank in der Diele. Und schon fielen ihr wieder etliche Dinge ein, die sie noch zu erledigen hatte. Doch ihr Atem ging noch zu schnell und ihr Rücken schmerzte.

So wanderte ihr Blick zum Geschenketisch. Sie hatte wieder eine Menge bekommen. Viel zu viele Süßigkeiten, etliche Blumen und Kleidung. Doch was sollte man einer alten Frau auch anderes schenken? Sie brauchte nichts. Vor allem keine Süßigkeiten. Na, ihre Damen von der Rommeerunde würden sich freuen. Und all die anderen gelegentlichen Gäste.

Sie nahm den Stapel Post in die Hand und blätterte durch. So viele Menschen hatten an sie gedacht. Goldene Schnapszahlen und Zahlenräder zierten die Karten. Doch dann hielt sie den Brief in der Hand. Ihr wurde plötzlich flau im Magen. Schnell legte sie den Stapel beiseite. Den Brief steckte sie unter den Haufen Zeitschriften, der neben ihr auf der Bank lag. Bloß weit weg. Wie kam der denn zwischen die Glückwunschpost? Ihr war immer noch übel. Sie stützte ihren Kopf auf die Hände. Starrte vor sich hin. War plötzlich ganz weit weg. Die Übelkeit verwandelte sich in einen dicken Kloß im Hals. Dort hing er. Und machte sich breit. Und als er drohte, höher zu klettern, stand Martha mit einem entschiedenen Seufzer auf. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung und versuchte sich an den schmutzigen Schalen, in denen am vorigen Abend Naschereien dargeboten wurden. Sie lenkte ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Einräumen der Spülmaschine.

Dann fiel ihr Blick auf den riesigen Rotweinfleck. Das war ihr gestern Nacht passiert. Als alle Gäste gegangen waren. Sie hatte versucht, ihn zu entfernen. Aber so richtig geglückt war es nicht. Sie entschied, dass genau jetzt der passende Moment war, es nochmals zu versuchen. Sie schrubbte mit einer Aggressivität und Entschlossenheit auf dem Boden herum, dass ihr ganz schwindelig wurde. Doch nicht lange, dann musste sie ihre nächste Pause einlegen. Sie saß auf dem Boden, den Kopf an den Türrahmen gelehnt und hoffte, ihre einst so große Energie möge wiederkehren. Doch das tat sie nicht. Vielmehr musste Martha ihren Körper zum Weitermachen zwingen. Sie fühlte sich einfach nur schlapp. Martha stellte fest, dass sie heute mehr Pausen einlegen musste. Abgesehen davon, dass sie seit geschätzt zehn Jahren am Tag nur noch die Hälfte dessen schaffte, was sie früher täglich zustande gebracht hatte. Damit hatte sie sich allmählich abgefunden. Dennoch wurde die Dimension eine neue. Diese Langsamkeit, dieses „ich-will,-aber-ich-kann-nicht“. Es deprimierte sie, ihre Kraft nach und nach schwinden zu sehen.

Martha setzte von Neuem an, den Fleck zu beseitigen. Vielleicht sollte sie es nochmal mit Salz probieren? Aber der Fleck musste doch weggehen. Marthas Fingerknöchel wurden weiß. Ihre Arme schmerzten. Sie atmete noch schneller. Geh endlich weg! Ich will Dich nicht auf meinem guten Teppichboden. Verschwinde! Weg mit Dir! Ich will Dich nicht! Weg! Doch der Fleck schien sich eher zu verbreitern, als dass er an Farbe verlor. Martha schrubbte weiter. Und immer weiter. Sie schien rasend vor Wut. Oder Traurigkeit. Oder Schmerz. Dieser beschissene Brief. Ich will ihn nicht. Ich will es nicht! Geh weg! Sie schmiss den Lappen in die andere Ecke der Diele. Martha war so erschöpft, dass sie sich wieder an den Türrahmen lehnte und die Augen schloss.

So saß sie, bis ihr Sohn mit seiner Frau kam.


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