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Kapitel 1

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Februar 2016, bei Nürnberg


Thela stellte die Musik lauter. Sie lenkte den Wagen rückwärts aus der Parklücke und fuhr zum Ausgang, schob die Karte in den Schlitz, wartete und entnahm sie wieder. Langsam öffnete sich die Schranke. Sie legte den ersten Gang ein und fuhr auf den Fußweg vor. Ein Radfahrer zwang sie zum Halten. Dann kam eine lange Reihe Autos und Lkws. Nach gefühlt fünf Minuten konnte sie sich endlich in den Straßenverkehr einreihen. Es war 15 Uhr und jede Menge Fahrzeuge waren unterwegs. Dankbar, dass sie auf diese Weise vom Arbeitsstress abgelenkt wurde, ließ sich Thela von der Autoschlange mitschieben. Die Musik spielte eines ihrer Lieblingslieder aus den 90ern. Sie sang mit, während sie das Auto durch die Stadt lenkte.

Zehn Minuten später war sie auf der wenig befahrenen Bundesstraße angelangt und so schweiften ihre Gedanken wieder zur Arbeit. Sie hatte ein völlig unnötiges Meeting mit ihren Kollegen gehabt, in dem heftig diskutiert worden war. Allerdings ohne Ergebnis. Stattdessen zog es sich in die Länge. Thela war dann einfach gegangen. Zum Glück hatte sie einen anerkannten Grund dafür. Aber das Meeting warf sie, neben den drei Mandantengesprächen heute, zeitlich zurück. Sie hatte eine Klage einzureichen. Und Montag lief die Frist ab. Nur leider konnte sie bis jetzt weder die notwendigen Recherchen betreiben noch den Text verfassen. Also hatte sie die Wahl: Abgabe einer völlig unzureichenden Klageschrift, Wochenendarbeit oder die Hoffnung, dass sie es Montag schaffen würde. Immerhin konnte vielleicht Jo am Montag die Kinder übernehmen. So bliebe ihr wahrscheinlich noch genug Zeit – wenn nicht etwas dazwischenkam. Was nicht abwegig war. Immerhin war Februar. Und ihr Hals kratzte schon wieder gewaltig.

Sie hasste diesen Termindruck. Normalerweise gab sie notwendige Schriften etwas vor Fristende ab. Aber gelegentlich hatte sie so viel zu tun, dass sie es einfach nicht eher schaffte. Denn im Gegensatz zu den meisten ihrer Kollegen konnte sie selten Überstunden machen. Obgleich Jo ab und zu die Kinder übernahm, auch er musste seine Arbeitszeit schaffen. Und ihre Eltern hatten auch zu tun. So blieb es an ihr, sich um die Kinder zu kümmern. Was ihr ja Spaß machte. Nur hatte der Tag ab und zu einfach zu wenig Stunden.

Wahrscheinlich sollte sie Jo vor die Wahl stellen: Entweder Wochenendarbeit und er kümmerte sich um die Kinder und den Haushalt oder sie konnte Montag lange machen. Denn eine unzureichende Klageschrift nur zur Fristwahrung einzureichen, das wäre nicht ihr Stil und würde gegen ihre Prinzipien laufen.

Im Radio ertönte der Gong zur Anzeige der Nachrichten. Wieder stand die deutsche Flüchtlingspolitik an erster Stelle. Dieses Mal debattierten die Abgeordneten das „Asyl II“-Paket im Bundestag. Die Nachzugsproblematik.

So interessant und zugleich schwierig dieses Thema sein mochte, die Nachrichten zeigten Thela an, dass sie wieder einmal zu spät kam. Sie stellte ihr Auto vor der KiTa ab und beeilte sich, noch vor Anspringen der automatischen Türverriegelung im Kindergarten anzukommen. Doch leider blieb ihr auch dieses Mal ein peinliches Klingeln nicht erspart.

Lina kam auf ihre Mutter zu gerannt und ließ sich in deren Arme fallen. „Hallo, Mami. Der Tobi hat mich heute geärgert. Immer will er mich fangen…“, und schon sprudelten die Worte nur so hervor. Ohne Unterbrechung erzählte Lina ihr vom gesamten Kindergartentag. Solch unwichtige Sachen, ob sie heute draußen waren, ob sie ihr Mittag vollständig aufgegessen oder heute geschlafen hatte, blieben natürlich unerwähnt. Vielmehr wurden nur die wichtigen Details ausführlich berichtet: Welche ihrer Freundinnen dieses Mal das Prinzessinnenkleid tragen, wer heute zum Prinzen auserwählt wurde und welch köstliches Essen sie den Erzieherinnen vorgesetzt hatte – man nehme einen Plastikmuffin, viel fiktiven Ketchup darauf und etliche Wollnudeln dazu.

Thela kam es oft so vor, dass sie einen Teil ihres Lebens vor der Kindergartentür ab- und dafür den anderen Teil hinter der Tür überstreifte. All ihre Gedanken zur Arbeit waren nicht mehr wiederzufinden. Stattdessen kreiste ihr jetzt im Kopf, wo denn Linas zweiter Schuh geblieben war, ob sie auch alles eingepackt hatten und wie die Nachmittagsgestaltung ausfiel. So wandelte Thela für den restlichen Tag im Mutter- und Hausfrauenkleid umher und genoss den anderen, den „Mutter-Stress“.

„Hallo, mein Schatz“, Thela küsste ihren großen Sohn auf die Wange und drückte ihn. „Hast Du schon die Hausaufgaben fertig?“ Jonas schüttelte den Kopf. Er war jetzt sieben Jahre alt und besuchte die zweite Klasse. „Wann sollte ich die denn machen? Bin doch eben erst reingekommen! Und im Hort hat Sandro wieder so viel Blödsinn gemacht. Es war wieder so laut. Und dann mussten wir noch die Autotunnel fertig bauen!“ Thela nickte. Sie schaute auf die Uhr und rechnete nach. Noch eine Stunde, dann würde auch Jo zu Hause sein. Bis dahin sollte sie vielleicht ein wenig Hausarbeit erledigen, sodass sie die Kinder im Auge hatte. An Hinsetzen und Ausruhen war sowieso nicht zu denken.

„Mama, ich hab Hunger!“ Jonas ließ sich rücklings über die Couchlehne fallen und versuchte sich im Handstand. Dabei krachte er, wie zu erwarten, vom Sofa hinunter, gerade so neben den Couchtisch. Er sprang gleich wieder auf und lachte sein „Ich-mache-gerade-Blödsinn-und-finde-das-toll-Lachen“. „Mama, spielst Du mit mir und Lore?“, Lina stand in der Tür und hielt ihre Puppe in der Hand. Sie schaute Thela mit ihren großen Augen erwartungsvoll an und … „Mama, ich will was eeesseeen!!!“, Jonas sprang zum zweiten Mal in einer halsbrecherischen Haltung vom Sofa und rannte zu ihr. Er konnte nicht gehen. Jonas musste immer rennen. Als müsste er immer der erste sein – auch dort, wo niemand sonst war.

„Jonas, hör auf mit dem Springen und schrei mich nicht so an! Du bekommst gleich ein Brot.“ An Lina gewandt sagte Thela: „Du, ich habe jetzt keine Zeit. Schau mal, dass Du was alleine spielst. Oder magst Du mir helfen? Ich habe noch viel zu tun.“ Lina schüttelte den Kopf und schaute sie böse an. „Vielleicht kannst Du ja später mit Jonas spielen. Wenn er seine Hausaufgaben gemacht hat. Und Papa kommt dann auch bald.“ Thela wandte sich in Richtung Küche: „Ach übrigens, wir müssen noch etwas vorbereiten. Oma hat doch morgen ihren Geburtstag. Jonas, kannst Du schon ein Lied oder ein Gedicht?“ Jonas folgte ihr schmollend in die Küche. „Och nein, nicht schon wieder was lernen! Außerdem will ich was Süßes!“

Im Wohnzimmer ertönte ein spitzer Schrei und dann packte Lina die höchsten Töne ihrer Wut aus. Thela stöhnte innerlich und sehnte Jos Feierabend herbei.

Fünfzehn Minuten zu spät. Für Thela, die Unpünktlichkeit hasste, wieder eines dieser Ärgernisse, die das Familienleben mit sich brachte. Es machte sie rasend, dieser Stress vor einem Termin, einer Feier oder einer großen Fahrt. Immer wieder die notwendige Organisation, Planung und Hektik. Immer wieder Stress. Wenn sie irgendwann einmal beide Kinder aus dem Haus hatten – was wäre das für eine Ruhe. Und endlich keine Unordnung mehr.

Sie hatte sowieso schon Halsschmerzen gehabt, jetzt ging die Tendenz zur Stimmlosigkeit. Dieses ständige anweisen, schimpfen, reden. Immer wieder dasselbe. Immer wieder die gleichen Litaneien. Wahrscheinlich war genau dies die Kunst der richtigen, der guten Erziehung: Nicht aufgeben!

Jedenfalls waren sie jetzt endlich angekommen. Mit fünfzehn-minütiger Verspätung wohl gemerkt. Als sich die Haustür öffnete und Thela ein wenig später den gedeckten Kaffeetisch entdeckte, war ihr klar, dass Oma Martha auch dieses Mal ungeduldig gewartet hatte. Und wie immer waren sie die Letzten.

Thela sollte es einmal schaffen, bei einer Feier den Kaffeetisch schon gedeckt zu haben, wenn die ersten Gäste erschienen. Vielmehr war sie jedes Mal froh, wenn im Bad alle Armaturen getrocknet waren und sie den Putz-Look gegen festliche Kleidung getauscht hatte. Auch das würde sich – hoffentlich – mit dem Auszug der Kinder bessern. Irgendwann einmal.

Jetzt saßen alle fröhlich am Tisch und genossen die Köstlichkeiten, wie etwa die leckere Eierschecke. Das Rezept hatte Martha aus ihrer Heimat mitgebracht und variierte es bei jeder Feier: einmal Dresdner Eierschecke pur, dann mit Mohn und ein andermal mit Stachelbeeren. Und alles schmeckte köstlich.

Thela blickte sich um und stellte zufrieden fest, dass sowohl Lina als auch Jonas ruhig auf ihren Plätzen neben den Großeltern saßen und ihre Kuchenstücke und Kekse verdrückten. Zuvor hatten sie ihre Lieblingsoma Heidi und ihren Lieblingsopa Thomas ausgelassen begrüßt und sie mit Erzählungen über Schule, Kindergarten, Freunde und Co. überschüttet. Diese freuten sich jedes Mal sehr, wenn sie Zeit mit ihren Enkelkindern verbringen konnten. Und für Thela und Jo war es eine enorme Erleichterung.

„Na, meine liebe Thela, wie geht es Euch denn so?“ Oma Martha blickte sie erwartungsvoll an und erst jetzt registrierte Thela, dass sie angesprochen wurde. Sie erzählte ein wenig von ihren Kindern. Ein paar Anekdoten gab es da immer zu berichten. Aber Oma interessierte sowieso alles, was ihre Urenkel anging. Allerdings war sie auch den ganzen Tag allein. Den dadurch angestauten Redeschwall bekam Thela zu spüren, als sie anfing von ihrem Job zu berichten. Martha unterbrach sie dann und informierte sie wie so oft über ihre unzähligen Termine – Ärzte, Geburtstage, Rommeerunden. So beherrschte also bald sie das Gespräch und Thela freute sich, einmal nicht reden zu müssen. Ihr Hals würde es ihr danken.

Später wurden wie immer Spiele gemacht. Die Kinder waren eifrig bei der Sache. Besonders die „stille Post“ ließ beide mehrfach losprusten. Auch Martha genoss es. Sie machte jeden Spaß mit, schien sich prächtig zu amüsieren und lachte lauter als alle anderen. Das steckte bald die ganze Gesellschaft an, sodass es insgesamt eine sehr lustige Runde wurde. Thela dachte hinterher, sie hatten wohl lange nicht mehr eine so vergnügliche Familienfeier gehabt. Auch den einstudierten Vorträgen der Kinder merkte man ihren anfänglichen Protest nicht an. Martha freute sich, wie zu erwarten, wieder sehr über ihre Urenkel. Auch wenn Thela meinte, ein wenig Wehmut in Marthas Blick erkannt zu haben, als Jonas sein einstudiertes Lied zum Besten gab.


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