Читать книгу Traum-Zeit - Josie Hallbach - Страница 10

Kapitel 7:

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Weil eine Grippe unter den Insassen und einem Teil des Personals grassierte, bot Marie an, die beiden Frauen im Zimmer ihrer Schwester mitzuversorgen. Die nächsten Stunden pendelte sie deshalb zwischen den Betten hin und her. Gretel, die ihre Schlafstätte direkt neben Sophie hatte, musste zudem gewickelt und umgekleidet werden.

Es macht echt keinen Spaß, einer erwachsenen Frau die schmutzige Windel zu wechseln. Vor allem, wenn die Geruchsorgane im Traum voll funktionsfähig sind. Am liebsten hätte ich diese Szene übersprungen. Doch Marie störte es nicht. Sie besaß, wie es den Anschein machte, Routine.

Dennoch mühte sie sich spürbar ab, der behinderten Patientin im Anschluss ein frisches Leinenhemd überzuziehen. Gretel wirkte keineswegs kooperativ und war zudem deutlich schwerer als sie.

Auf dem Gipfel ihrer kämpferischen Mühsal betrat ein Besucher das Krankenzimmer. Marie blickte auf und mich überflutete ohne jegliche Vorwarnung eine gewaltige Hitzewoge. Da stand er: Groß, blond und mit leuchtend blauen Augen. Ich erkannte ihn auf Anhieb wieder, obwohl er bei unserer letzten Begegnung seine Haare deutlich kürzer getragen hatte. Dennoch gab es keinerlei Zweifel, dies war ihr Ehemann.

Allerdings schien ihn Marie, im Gegensatz zu mir, nicht zu kennen, was mich vermuten ließ, dass wir erneut in der Zeit zurückgerutscht sein mussten. War dies etwa das erste Zusammentreffen meiner Ur-Urgroßeltern?

Samuel, oder wie auch immer ihr künftiger Bräutigam hieß, schritt ohne zu zögern ans Krankenbett und meinte: „Ich helfe Ihnen. Zu zweit geht es leichter.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, packte er geschickt mit an.

Marie wirkte merklich verunsichert, schwieg aber und hielt den Blick gesenkt. Erst als Gretel fertig angekleidet und wieder friedfertig in ihrem Bett lag, bedankte sie sich höflich und begab sich in die Ecke des Raumes, um sich zu waschen.

Ihr Zukünftiger trat neben sie und tauchte seine Hände ebenfalls in die blecherne Schüssel.

Mich überkam urplötzlich das Bedürfnis ihn anzufassen, um mich zu vergewissern, dass dies kein Wunschtraum war. Natürlich funktionierte das nicht, weil ich ja in Maries Körper feststeckte und diese ihm scheinbar lieber aus dem Weg ging. Zumindest schaute sie konsequent in eine andere Richtung und achtete darauf, dass sich ihre Hände nicht versehentlich berühren konnten.

Nebenbei begriff ich, dass Hygiene damals aus einer Schüssel kalten Wassers und einem Stück Seife bestand. Alle wuschen sich in derselben trüben Brühe die Hände, bis man den Inhalt wegleerte und neu befüllte. Kein Wunder, dass damals schlimme Krankheiten im großen Stil übertragen wurden.

„Sie sind Sophies Schwester, nicht wahr?“ erkundigte sich mein Traum-Mann, während er sorgsam seine Hände abtrocknete und dann Marie das Handtuch reichte.

„Woher wissen Sie das?“ Meine Ur-Urgroßmutter in spe machte immer noch einen auf misstrauisch.

„Von Ihrer Schwester natürlich.“ Er zwinkerte der Besagten zu.

Sophie strahlte ihn unübersehbar an und nicht nur Marie stand vor einem Rätsel. Es wirkte, als ob die Kleine ihn tatsächlich kennen würde.

Bevor wir näher darüber nachgrübeln konnten, stürmte Johanna mit wehender Schürze und geröteten Wangen ins Zimmer. Sie deutete die Situation auf Anhieb richtig. Verlegen murmelte sie: „Oh, du hast Gretel bereits gewickelt und umgezogen.“ Als nächstes schaute sie zu dem Besucher und sagte ohne sonderliches Erstaunen: „Schön, dass Sie schon da sind, Herr Doktor. Wir haben Sie erst gegen Abend erwartet.“

Marie erstarrte wie vom Donner gerührt und mich verblüffte die Nachricht ebenso. Mein Vorfahre war Arzt? Bei unserer ersten Begegnung hätte ich ihn eher für einen Waldarbeiter gehalten, wegen seiner Statur und dem Geruch, der irgendwie an frisch gesägtes Holz erinnert hatte. Warum trug er dann keinen weißen Kittel? Auch wirkte er noch sehr jung, kaum älter als ich.

„Die Zwillingsgeburt verlief Gott sei Dank unkomplizierter als befürchtet“, berichtete er der Krankenpflegerin. „Da man mich, falls kein Notfall dazwischenkommt, erst wieder zur Spätvisite drüben in der Frauenklinik erwartet, habe ich beschlossen, mich in der Zwischenzeit hier nützlich zu machen. Arbeit scheint es ja, wie mir dünkt, genug zu geben.“

Ich atmete gleich mehrmals tief durch. Grundsätzlich habe ich nichts gegen Ärzte einzuwenden. Aber wieso musste er ausgerechnet Frauenarzt sein? Oder gab es damals keine klassischen Spezifizierungen und man behandelte als Mediziner einfach alles, was einem unter die Finger geriet? Dass er sich im Behindertenbereich einbrachte, sprach wohl für meine Theorie.

Vor lauter Überlegungen hätte ich beinahe einen Teil des Gesprächs verpasst.

An Marie gerichtet, fuhr der Doktor fort: „Ich heiße Langholz und bin seit einem Monat für die medizinische Betreuung dieses Heimes mitverantwortlich. Letzte Woche musste ich feststellen, dass Ihre Schwester von einem Atemwegskatharr befallen ist. Sie bekam ein paar Tage lang morgens und abends ein spezielles Präparat dagegen. Wenn Sie gestatten, möchte ich nun den Heilungsfortschritt überprüfen.“

War die Kleine etwa krank? Sie hüstelte zwar vor sich hin, doch es klang nicht bedrohlich.

Meine Vorfahrin nickte. „Selbstverständlich. Sophie ist leider sehr anfällig gegen Krankheiten jeglicher Art.“

Wir entdeckten zeitgleich die Tasche, die neben der Tür abgestellt worden war. Aus dieser holte der Arzt jetzt ein eigenartiges Gerät. Vorne gab es eine Art Trichter, der in ein langes Holzstück überging, das innen hohl schien. Dies musste ein urtümliches Stethoskop sein.

„Sie brauchen mir nicht zu assistieren, Schwester Johanna. Das kann Fräulein Reichenbach übernehmen. Dank Ihnen kennt sie sich zweifellos bestens mit der Materie aus.“ Er blinzelte der jungen Pflegerin verschwörerisch zu.

Erst jetzt fiel mir auf, dass deren weiße Haube gegen eine dunkle eingetauscht worden war. Solche standen nur echten Diakonissen zu und unterschieden diese von den normalen Pflegekräften. Johanna hatte also inzwischen ihren Eid abgelegt und wurde nun offiziell als Schwester tituliert. Allerdings würde keine wie auch immer geartete Kopfbedeckung ihren rebellischen Haarknoten vor der Auflösung retten können.

Nachdem Schwester Johanna fluchtartig den Raum verlassen hatte, räusperte er sich und sagte zu Sophie gewandt: „So, junge Dame. Schauen wir mal, ob der Hustensaft seinen Dienst verrichtet hat. Das mit dem Abhorchen kennst du ja. Deine Schwester wird dir jetzt das Hemd öffnen.“ Auffordernd schweiften die Augen des Doktors in unsere Richtung, bevor er sich aufs Krankenbett setzte, um mit zwei Fingern nach dem Handgelenk der Patientin zu tasten. Widerspruch oder Arbeitsverweigerung standen offenbar nicht zur Debatte.

Marie begann gehorsam die Knöpfe des Kittels aufzumachen, bis er „Das genügt, danke“ sagte.

Behutsam drückte der Doktor das Hörrohr nun auf die kindliche Brust. Den Kopf schieflegend, schob er sich das andere Ende des Trichters ans Ohr. „Versuche mal zu husten.“

Die kleine Patientin strengte sich an und brachte etwas Hustenähnliches zustande. „Das hört sich schon viel besser an. Als nächstes kommt dein Herz dran.“ Er verrückte das Rohr etwas und lauschte wiederum mit ernstem Gesichtsausdruck.

Marie und ich bekamen unterdessen Gelegenheit, Doktor Langholz zu beobachten. Er sah auch bei Tageslicht betrachtet recht attraktiv aus, von seiner bleichen Haut und der altmodischen Frisur einmal abgesehen. Für einen Mann besaß er ausgesprochen schöne Hände. Außerdem gefiel mir sein dominantes Kinn, welches von einem kleinen Grübchen abgemildert wurde. Und sein Mund war der absolute Hammer, entschlossen und doch sensibel. Ich musste unwillkürlich an unseren nächtlichen Kuss denken, was zur Folge hatte, dass sich ein sehnsüchtiges Kribbeln in mir breitmachte. Gleichzeitig kaute ich hart an der Erkenntnis, neulich mit einem Gynäkologen das Bett geteilt zu haben, zumindest mental und im Traum.

"Möchtest du auch mal horchen?“

Schuldbewusst zuckte ich aus meinen unlauteren Gedanken hoch und sah die Kleine eifrig bejahen.

„Gut, dazu bräuchten wir aber eine Patientin.“ suchend schaute er sich im Raum um, bis sein Blick bei uns hängen blieb. „Wie wäre es mit deiner Schwester?“, meinte er dann, als wäre ihm die Idee gerade erst eingefallen.

Sophies bernsteinfarbene Augen leuchteten vor Begeisterung. Marie dagegen gab sich keine Mühe, motiviert zu wirken.

Das störte den Doktor nicht im Geringsten. Er nahm den Trichter von Sophies Brust und reichte ihn über das Bett. „Lassen Sie mal sehen, ob Schwester Johannas Lehrbücher bei Ihnen Früchte getragen haben. Setzen Sie das Hörrohr bitte auf Ihr Herz. Sie dürfen das Kleid dafür ausnahmsweise geschlossen lassen.“

Marie hielt das Untersuchungsinstrument unschlüssig in der Hand und brachte vor lauter Verblüffung erst einmal kein Wort heraus. Endlich stammelte sie: „W… Woher wissen Sie…?“

„Dass Sie medizinische Studien betreiben? Oh, es gibt in einem Krankenhaus deutlich weniger Geheimnisse als man landläufig denkt. Spannender fände ich zu wissen, warum Sie sich überhaupt für dieses Thema interessieren?“

„Ich möchte Diakonisse werden. So wie Schwester Johanna“, gestand Marie.

Wie bitte? Hatte ich mich verhört? Was sagte sie da? Wie kam sie denn auf so eine verrückte Idee?

„Das scheint mir ein recht ungewöhnlicher Wunsch für jemanden in Ihrem Alter zu sein. Den meisten jungen Frauen steht der Sinn doch eher nach Heiraten und eine Familie gründen“, argumentierte der Doktor. Natürlich, schließlich wollte er sie ja, wenn man meinen Träumen Glauben schenken durfte, demnächst zu seiner Frau machen.

Allerdings stand er mit diesem Wunsch vorerst alleine da. „Mein Ziel ist es, einen Beruf zu erlernen.“ Meine Ur-Uroma straffte bei dem Wort „Beruf“ unwillkürlich die Schultern und schob ihr Kinn vor. Dadurch versuchte sie offenbar ihrer schmächtigen Gestalt etwas mehr Würde und dieser revolutionären Idee einen gewissen Nachdruck zu verleihen.

Ihr Gesprächspartner quittierte dies mit einem Schmunzeln. Vielleicht täuschte ich mich aber auch, denn er kratzte sich sogleich, als jucke ihn der verdächtige Mundwinkel. „Und wenn es Sie irgendwann reut?“, gab er nach einer knappen Pause zu bedenken. „Diakonisse zu werden, stellt eine lebenslange Entscheidung dar.“ Er studierte bei diesen Worten Maries Gesichtszüge, als könne er darin die Ernsthaftigkeit ihrer Gesinnung ablesen.

Obwohl es meine Ur-Uroma merklich Mühe kostete, seinem durchdringenden Blick standzuhalten, nahm sie die Herausforderung an und schaute nicht weg. Ihre Stimme klang sogar forsch, als sie: „Das weiß ich, Herr Doktor“ erwiderte. „Es ist keine Marotte, da bin ich mir sicher. Ich habe es seit drei Jahren als Herzenswunsch und glaube nicht, dass sich in Zukunft an meiner Gesinnung etwas ändern wird. Ich bin der Überzeugung, dass ich die Ausbildung schaffen kann. Dazuhin wäre ich auf diese Weise in der Nähe meiner Schwester.“ Die Argumente waren, im Gegensatz zu ihrer sonstigen Schweigsamkeit, förmlich aus ihr herausgeplatzt.

Die Mimik ihres Gesprächspartners wirkte, als ob er einiges darauf zu entgegnen wüsste. Er unterließ es jedoch und meinte nur: „Das ist freilich Ihre ganz persönliche Entscheidung, Fräulein Reichenbach... Falls Sie die Aufnahme-Voraussetzungen erfüllen, wird sich das Mutterhaus bestimmt freuen, eine weitere tüchtige Schwester zu bekommen. Und jetzt zeigen Sie mir bitte, was Sie gelernt haben.“

Ich hatte parallel genug Stoff zum Nachdenken. Meine Doppelgängerin und potentielle Ur-Urgroßmutter schien es ernst, mit ihrem Berufswunsch zu meinen. Wie kam es dann, dass sie doch heiratete? Es war äußerst dumm, dass mir aktuell eine Menge wichtiger Informationen fehlten.

Doktor Langholz überprüfte als erstes den korrekten Sitz des Abhörgerätes, indem er genauso aufmerksam Maries Herzschlag lauschte, wie er es zuvor bei ihrer Schwester getan hatte. Dann nickte er zustimmend, gab das Ende des Rohres an Sophie weiter und schob es dieser ans Ohr. Damit das starre Gerät gleichermaßen Maries Brust und das Ohr ihrer Schwester berühren konnte, musste sich Erstere weit über das Bett beugen.

„Hörst du dieses schnelle Klopfen?“, erkundigte sich der Arzt bei der Kleinen. „So klingt ein Herz, wenn jemand aufgeregt oder gar ein wenig verärgert ist.“

Das Mädchen stieß als Antwort ein paar unartikulierte Laute aus.

Obwohl der Doktor diese garantiert nicht zu übersetzen vermochte, zwinkerte er seiner Patientin belustigt zu. „Ansonsten würde ich sagen, deine Schwester macht einen ausgesprochen gesunden Eindruck, oder was denken Sie, Frau Kollegin?“

Sein scherzhafter Tonfall trug bestimmt nicht dazu bei, Maries Herzschlag zu beruhigen. Auch nahm er keinerlei Rücksicht auf die unbequeme Position der unfreiwilligen Testperson.

Statt ihm zuzustimmen, schüttelte Sophie allerdings den Kopf. Zusätzlich zuckte ihre Hand.

Das irritierte den Fachmann. „Nicht? Du denkst, dass deine Schwester krank ist?“, hakte er erstaunt nach.

Dieses Mal nickte Sophie und versuchte ihm etwas mitzuteilen, was er wiederum nicht kapierte. Marie, die deutlich besser begriff, was ihre kleine Schwester da äußerte, zog energisch das Hörrohr weg, reichte es dem Doktor und brachte sich auf der gegenüberliegenden Bettseite in Sicherheit.

Allerdings machte das die Situation definitiv komplizierter, weil mein künftiger Ur-Uropa nun neugierig geworden war. „Deine Schwester hat Schmerzen“, vergewisserte er sich bei Sophie, denn das konnte selbst ein Unbedarfter aus ihrer Mimik deuten. „Wo hat sie denn die?“

Sophie bemühte sich sichtlich, ihm das zu erklären, doch Doktor Langholz war ebenso schwer von Begriff wie ich. Außerdem versuchte Marie uns parallel abzulenken.

Als Konsequenz runzelte der Arzt missbilligend die Stirn. „Wäre es nicht einfacher, Fräulein Reichenbach, Sie verwendeten Ihre Energie darauf, mir zu erklären, wo Ihre gesundheitlichen Probleme liegen, statt Ihre Schwester durcheinander zu bringen?“

Das hatte Marie ganz offensichtlich nicht vor. „Es ist nichts Wichtiges“, wiegelte sie ab und gab Sophie ein unmissverständliches Zeichen, sich da rauszuhalten.

„Dann teilen Sie mir eben das Unwichtige mit. Haben Sie nun Schmerzen oder nicht?“

„Nein, äh ich meine, zurzeit nicht.“ Maries Verlegenheit wurde fast greifbar.

„Sie verspüren also manchmal Schmerzen“, rätselte der Arzt unbeirrt weiter.

„Sophie übertreibt ganz schrecklich. Sie hat neulich mitbekommen, wie ich unpässlich war und von Schwester Johanna ein Mittel dagegen bekam. Das ist alles“, gestand Marie schließlich. Ihre Wangen brannten inzwischen vor Scham. „Jetzt muss ich aber dringend los. Ich bin spät dran.“

Das stimmte. Es war schon nach drei Uhr.

„Kann ich Sie trotzdem kurz sprechen. Vor der Tür vielleicht?“

Marie erschrak spürbar. Laut sagte sie: „Ja, sicher“, räumte die Kinderbibel in die mitgebrachte Umhängetasche, nahm ihr gestricktes Umschlagetuch vom Stuhl und verabschiedete sich von den Zimmerinsassinnen. Zuletzt umarmte sie ihre Schwester.

Neben der breitschultrigen, hochgewachsenen Gestalt des Stationsarztes schien meine Ur-Uroma beinah zu verschwinden. Dazu trug er eine dermaßen ernste Miene zur Schau, dass selbst mir flau im Magen wurde. Irgendetwas stimmte da nicht.

„Die Lunge Ihrer Schwester ist gerade komplett frei. Das ist die gute Nachricht“, begann der Doktor nach einigem Zögern.

„Aber es gibt auch eine schlechte Nachricht, nicht wahr?“, kombinierte Marie mit bangem Herzen.

„Ja. Ich habe bei der Untersuchung letzte Woche festgestellt, dass Sophies Herz schwach und unregelmäßig schlägt. Nun hat sich meine Vermutung leider gefestigt. Es rührt nicht von der momentanen Erkältung her. Wahrscheinlich hat sie von Geburt an einen Herzfehler. Wurde diese Diagnose von einem meiner Kollegen bereits untermauert?“

Marie schüttelte den Kopf und wagte erst einmal nicht nachzufragen. Weil er allerdings ebenfalls beharrlich schwieg, gab sie sich einen Ruck. „Was bedeutet das?“

Es gehört bestimmt nicht zu den liebsten Tätigkeiten eines Arztes, der Überbringer schlechter Nachrichten zu sein. „Dass Ihre Schwester so alt wurde, grenzt eigentlich an ein Wunder. Es liegt sicher an der liebevollen Betreuung. Ich kenne kein anderes, derart schwer behindertes Mädchen, das sich in so guter Verfassung befindet. Sie hat kaum Versteifungen an den Gliedmaßen. Von Schwester Johanna habe ich mitbekommen, dass Sophie sogar Lesen gelernt hat, wie auch immer Sie geschafft haben, ihr dies beizubringen. Auch die Laute- und Gestensprache, mit der sie kommuniziert, finde ich sehr interessant.“

„Meine Schwester ist klug. Sie kann sich bloß schwer mitteilen.“ Marie wusste mit Komplimenten gerade wenig anzufangen. Das Urteil des Arztes hatte ihr einen Schock versetzt. Als Konsequenz daraus kämpfte sie mit den Tränen. „Wieviel Zeit bleibt uns noch?“ Ihre Stimme klang ganz dünn und brüchig.

„Das weiß ich nicht.“ Der Doktor legte in einer spontanen Geste des Mitgefühls eine Hand auf Maries Schulter. Meine Ur-Uroma zuckte daraufhin aber so heftig zusammen, dass er sofort wieder auf professionelle Distanz ging und sich räusperte. „Jede Infektion stellt eine ernste Gefahr für sie dar. Andererseits ist Sophie erstaunlich zäh. Vertrauen Sie einfach förderhin auf unseren Herrgott. Als Christenmensch darf man sich seiner Hilfe gewiss sein“, erwiderte er schließlich.

Mit seiner letzten Aussage hatte er selbstverständlich Recht. Sophies Zukunft lag in Gottes Hand. Für meine Urahnin brach dennoch ihre Welt zusammen. „Gibt es denn nichts, was man dagegen tun kann, außer Beten, meine ich?“, fragte sie verzweifelt.

„Kaum. Verbringen Sie so viel Zeit wie möglich mit ihr, am besten an der frischen Luft. Sobald sie Krankheitszeichen zeigt, werden wir sie behandeln. Mehr zu tun bleibt uns nicht. Sie wird im Heim von den Schwestern gut versorgt.“

In Maries Inneren schien sich ein Geschwür gebildet zu haben, das jederzeit zu platzen drohte. Sollte dies vor Ort passieren, dürfte es um ihre mühsam aufrechterhaltene Fassung geschehen sein.

Ich empfand die Ungerechtigkeit, in der meine Ur-Uroma zu leben genötigt war, einmal mehr überaus schmerzlich. Hundert Jahre später würde es Herzmedikamente, spezifische Operationstechniken und eine professionelle Betreuung für Sophie geben. Doch damals musste man notgedrungen die Gegebenheiten akzeptieren.

„Ihr eigenes Herz, Fräulein Reichenbach ist übrigens völlig intakt“, fuhr Doktor Langholz fort, als Marie nur dastand und mit zitternden Händen Knoten in ihr Wolltuch knüpfte, aber kein Wort mehr herausbrachte. „Ich habe vorhin einen kleinen Trick angewandt, weil ich dachte, dass es sinnvoll sei, zu überprüfen, ob es sich um ein erbliches Leiden handelt und ich Sie Beide nicht beunruhigen wollte.“ Er räusperte sich erneut und nickte ihr dann abschließend zu. „Und wegen Ihrer monatlich auftretenden Beschwerden dürfen Sie bei Bedarf gern in meiner Sprechstunde vorbeischauen. Dieses Problem haben viele junge Frauen und man kann da in der Regel gut Abhilfe schaffen.“

Traum-Zeit

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