Читать книгу Traum-Zeit - Josie Hallbach - Страница 11
Kapitel 8:
ОглавлениеEin paar Tage später kam mir die Idee, meine Tante anzurufen. Sie freute sich von mir zu hören und erkundigte sich nach Neuigkeiten. Ich berichtete ihr von meiner Trennung.
„Schade, Florian machte eigentlich einen recht netten Eindruck“, meinte sie, beließ es aber dabei. Ich auch.
Wir plauderten dafür eine Weile über dies und das, vorzugsweise über ihre Töchter, wovon eine den falschen Freund und die andere den falschen Beruf habe. Die jüngste, Svenja, stellt eine pubertäre Dauernervenprobe dar.
Irgendwann kam ich auf das eigentliche Anliegen meines Anrufes. „Sag mal, weißt du eigentlich wie deine Urgroßeltern hießen?“
„Lass mich raten, du warst bei deiner Oma zu Besuch?“, gab sie anstelle einer Antwort resigniert von sich. „Es wird immer schlimmer. Man könnte seit Neuestem denken, Uroma Marie wäre eine enge Vertraute für sie gewesen. Dabei kannten sich die zwei nicht mal besonders gut.“
„Echt jetzt?“, brachte ich überrascht heraus.
„Sie starb, soviel ich weiß, Ende der Fünfziger. Da war Mutter zehn Jahre alt. Meine Großeltern betrieben eine Landwirtschaft und wohnten nicht im selben Ort. Da sah man die Verwandtschaft nur selten.“
„Und dein Urgroßvater?“
„Er ist bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen.“
„Oh... War er Soldat im zweiten Weltkrieg?“
„Nicht im zweiten, im ersten. Kurz vor der Geburt seines jüngsten Sohnes wurde er eingezogen. Er hat im letzten Kriegsjahr an der russischen Front als Lazarettarzt gedient. Zumindest wurde mir das erzählt.“
Ich verdaute schwer an dieser Information. Eine lange Ehe war Marie offenbar nicht beschieden gewesen „Wie viele Kinder hatten die beiden denn?“
„Fünf. Eine recht sportliche Leistung für Zeit, in der sie ein Paar waren. Mit dreißig wurde meine Urgroßmutter bereits Witwe und alleinerziehende Mutter. Doch irgendwie scheint sie sich durchgekämpft zu haben. Bis zu ihrem Tod arbeitete sie sogar als Physiotherapeutin, obwohl sie nie in einer Schule gewesen war und es den Beruf als solchen noch gar nicht gab. Das hat mir eine alte Diakonisse erzählt, die mit ihr befreundet gewesen sein musste. Man hat sie im Krankenhaus sehr geschätzt…. Maries ältester Sohn, Großonkel Elia, studierte später wie sein Vater Medizin und leitete bis 1943 eine Behindertenanstalt im Norden Deutschlands. Weil er sich weigerte, seine Patienten im dritten Reich auszuliefern, wurde er eingesperrt und verstarb später im Gefängnis an einer Lungenentzündung. Hanna, also meine Großmutter, wohnte bis zu ihrem Tod hier ganz in der Nähe, auf dem Bauernhof ihres Mannes. Dann gab es noch eine Anne Sophie, die früh an Typhus verstarb. Ein weiterer Sohn, Daniel, fiel im zweiten Weltkrieg und Jonathan, der Jüngste wanderte mit zwanzig Jahren nach Amerika aus. Dort leben seine Nachfahren bis heute. Doch das weißt du ja.“
„Hieß die Familie zufällig Langholz?“
„Deine Oma scheint dich ja genauestens informiert zu haben. Wenn ihr Gedächtnis nur in anderen Dingen so gut funktionieren würde. Ihr Sparbuch suchen wir bis heute.“ Tante Sabine seufzte leidgeprüft. „Aber immerhin haben wir das Bild gefunden, das bei ihr jahrelang im Schlafzimmer hing. Sie hat uns alle des Diebstahls bezichtigt. Helmut entdeckte es hinter dem Schuhregal, als wir das Haus räumten.“
„Da wird sich Oma aber freuen.“
„Sicher, bloß weiß ich nicht, ob es sinnvoll ist, es ihr noch mal zu geben. Sie bringt es fertig und versteckt es gleich wieder. Aber ein Gutes hat es: Dadurch konnte ich dir detailliert Auskunft geben. Mutter hat nämlich freundlicher Weise die Namen der Personen und die wichtigsten Daten auf der Rückseite vermerkt, vermutlich aus Angst, sie zu vergessen.“
Mir stockte der Atem. „Du hast dieses Bild gerade vor dir?“
„Klar. Denkst du, ich habe unseren Familienstammbaum im Kopf? Es befindet sich bei Mutters sonstigen Sachen. Alles, was an verwertbaren Dingen auftaucht und nicht ohnehin bei ihr im Pflegeheim gelandet ist, kommt zu mir ins Gästezimmer. Sogar ein paar ihrer ehemaligen Möbelstücke stehen dort rum. Wenn du zufällig Bedarf an einer wurmstichigen Kommode hast, könnte ich dir behilflich sein.“
„Unter Umständen hätte ich diesen tatsächlich.“ Bei Dingen, für die andere keine Verwendung mehr finden, erwacht in mir immer sofort Ehrgeiz, neue Nutzungsmöglichkeiten zu kreieren. Vielleicht liegt es an meinen schwäbischen Spargenen, in Kombination mit meiner Unfähigkeit, Sachen wegzuwerfen. Oder dass jahrelang, als Mutter nicht mehr arbeiten konnte und sich aus Stolz weigerte, Almosen anzunehmen, es in unserem Leben finanziell eng zugegangen war… Obwohl ich inzwischen ein gutes Einkommen habe, kann ich schwer von diesem Verhaltensmuster lassen. Das wissen die Leute aus meiner Umgebung und fragen nach, bevor sie Möbel auf den Sperrmüll und Kleidungsstücke in den Container geben. Entsprechend sieht es in meiner Wohnung aus und genauso zusammengewürfelt kleide ich mich.
„Wer ist auf dem Foto denn drauf?“
„Im Prinzip alle, von denen wir eben geredet haben, inklusive Uropas Tochter aus erster Ehe. Keine Ahnung, wie sie hieß. Ihr Name ist so stark verwischt, dass ich ihn nicht entziffern kann. Doch ich meine mich zu erinnern, dass sie später Diakonisse wurde. Das Bild muss gemacht worden sein, bevor Uropa in den Krieg zog. Übrigens steht fest, dass du deiner Ur-Uroma erstaunlich ähnlich siehst.“
Mein Mund fühlte sich plötzlich trocken an. „Könntest du das Bild und die Rückseite abfotografieren und mir per WhatsApp schicken?“
Meine Tante ist diesbezüglich modern ausgestattet, vermutlich sogar auf einem neueren Stand als ich. Das kommt davon, weil ein Teil ihrer Töchter fast nur noch auf diesem Wege mit ihr kommuniziert.
„Klar, mach ich.“
Fünf Minuten später brummte mein Handy. Ich öffnete mit zittrigen Händen die Nachricht und wurde nicht enttäuscht. Mir schaute mein Ebenbild vom Spiegel entgegen, samt ihrem Ehemann, Doktor Langholz. Er stand, sie mehr als einen Kopf überragend, neben ihr. Auf dem Arm hielt er ein kleines dunkelhäutiges Mädchen mit wildem lockigem Haar, das seine dicken Ärmchen vertrauensvoll um seinen Hals geschlungen hatte. An seiner anderen Seite befand sich eine ernst dreinblickende Jugendliche mit blonden langen Zöpfen, vermutlich die besagte Tochter aus erster Ehe. Marie, deren vorgewölbter Bauch eine weitere Geburt ankündigte, hatte ihre Hand auf einen schelmisch grinsenden dunkelhaarigen Jungen mit Brille gelegt. Die Sehhilfe wirkte mittlerweile fast wieder modern und hätte aus dem aktuellen Optikerkatalog stammen können. Zwei strohblonde Kinder, bei denen die Verwandtschaft zum Vater schwer zu leugnen war, ein Junge und ein Mädchen, vermutlich Hanna und Daniel, tummelten sich zu Füßen des Ehepaares.
Das Foto kam für die damalige Zeit, in der man Menschen am liebsten geordnet in Reih und Glied positionierte, ausgesprochen lebendig daher. Marie blickte jedoch im Vergleich zu den anderen ziemlich melancholisch drein, wobei das dem Anlass geschuldet sein dürfte. Die Vorstellung, dass Samuel ein Jahr später bereits tot war und auch keine der übrigen Personen mehr lebte, tat mir weh.
Kurz vor dem Einschlafen traf mich dann noch eine weitere Erkenntnis. Etwas, beziehungsweise jemand fehlte auf dem Gruppen-Porträt. Warum war mir das nicht gleich aufgefallen? Niemals hätte man diese Person vergessen oder mit Absicht ausgegrenzt. Sophies Abwesenheit konnte folglich nur eines bedeuten…