Читать книгу Traum-Zeit - Josie Hallbach - Страница 8
Kapitel 5:
ОглавлениеIch hatte die Traum-Sache bereits abgeschrieben, … deshalb staunte ich nicht schlecht, als ich in der nächsten Nacht vermeintlich aufwachte und merkte, dass ich mich erneut in einem anderen zeitlichen und räumlichen Umfeld befand. Dieses Mal lag ich aber nicht in einem Himmelbett, sondern saß am Tisch einer spartanisch ausgestatteten Mansarde.
Die junge Frau, deren Perspektive ich einnahm, versuchte bei flackerndem Kerzenlicht zu lesen. Ich vermutete, dass es die Bibel war. Allerdings wirkte die Schrift der Ausgabe dermaßen alt, dass sie für mich ein unüberwindliches Hindernis darstellte. Ich konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob sie in deutscher Sprache war. Das sich anschließende Gebet klang aber verdächtig nach Marie.
Mein Herz begann prompt schneller zu schlagen. Wo sie sich befand, konnte ihr Bräutigam kaum fern sein.
Wenige Minuten später stieg ich mit ihr zusammen eine schmale, knarrende Holzstiege hinunter. Das Interieur des herrschaftlichen Hauses sprach für die Zeit um 1900.
Dann kam der Schock. Die junge Frau blickte in einen trüben Spiegel und versuchte ihr Haar zu einem ordentlichen Zopf zu flechten. Eine verzerrte Version meiner selbst schaute mich an. Wir besaßen dasselbe schmale Gesicht mit großen, dunklen Augen unter dichten schwarzen Brauen und Wimpern. Ihre Locken kräuselte sich ebenso widerspenstig wie meine. Aber der dicke, geflochtene Zopf reichte bei ihr weit den Rücken hinab, während ich mein Haar schulterlang trage. Ihre Haut schien zudem deutlich dunkler als meine und von der Größe her ging sie mir bestenfalls zur Nase. Zumindest meinte ich das von der Relation zum Türrahmen ablesen zu können.
Die nächste Stunde verbrachten wir damit, in einem ungemütlich kühlen Haus Lampen anzuzünden, Feuer zu machen, Petroleum nachzufüllen und Wasser aufzusetzen, um anschließend das Frühstück für mehrere Personen zu richten. Es war gut, dass ich bloß Statistin sein musste, denn ich hätte bereits beim Feuer machen kapituliert. Das 21. Jahrhundert hat der Menschheit zwar jede Menge Fortschritt gebracht, die Fertigkeiten für die überlebenswichtigen Dinge scheinen aber teilweise verloren gegangen zu sein.
Natürlich hoffte ich die ganze Zeit, hinter der nächsten Ecke meinen Pseudoehemann auftauchen zu sehen. Wenn man schon getrennte Schlafzimmer bevorzugte, wohnte man doch sicher im gleichen Haus. Nirgends aber fand sich ein Anhaltspunkt für ihn. Ich begann mir bereits Sorgen zu machen. Hatten sie sich etwa getrennt? Oder war er gestorben? Dahingerafft von einer heimtückischen Krankheit, für die es damals keine Antibiotika gab. Der Krieg wäre eine weitere, plausible Erklärung für seine Abwesenheit gewesen. Mein Geschichtswissen steht zwar auf wackligen Füßen, aber dass die erste Hälfte des letzten Jahrhunderts Deutschland zwei katastrophale Kriege beschert hat, weiß jedes Kind.
In den Räumen wurde es endlich wärmer.
Zu meiner Überraschung lernte ich nun Maries Familie kennen. Dies bewog mich zu der Mutmaßung, dass es sich bei der aktuell stattfindenden Szene aus einer Episode vor der Hochzeit handeln könnte. Meine ringlosen Finger untermauerten diese Theorie. Dass meine nächtlichen Phantasien chronologisch unsortiert vorgingen, sollte mich eigentlich nicht verwundern. Ich habe auch sonst hin und wieder chaotische Tendenzen. Oder aber mein Gehirn gaukelte mir völlig andere Umstände als das letzte Mal vor und nichts, was ich über meine Hauptperson zu wissen glaubte, besaß mehr Gültigkeit.
Erst tauchte Tante Klara auf, zumindest nannte Marie die Frau so. Es drehte sich hierbei um eine dürre, dunkel gewandete Dame mit bleicher, finsterer Miene, die wirkte als hätte sie einen Stock verschluckt, so gerade versuchte sie sich zu halten.
Der Nächste, der kam, war Onkel Konrad: untersetzt mit rotem Gesicht, was auf unbehandelten Bluthochdruck schließen ließ. Die cholesterinhaltige Nahrung, welche er auf seinem Teller auftürmte und in Rekord-Tempo hinunterschlang, hätte Mona bestimmt tief entsetzt.
Man speiste im Esszimmer, das genauso ungemütlich wirkte wie seine Besitzer, sprach kaum miteinander und der Onkel enteilte mit dem letzten Bissen nach draußen, um vom Kutscher, der unten wartete, wegchauffiert zu werden. Wenn ihm die Tante nicht „Konrad, du hast deinen Hut vergessen!“ hinterhergerufen hätte, wäre mir sogar sein Name unbekannt geblieben.
Warum lebte Marie bei Verwandten und nicht bei ihren Eltern? Waren diese etwa äquivalent zu meinen früh verstorben? Oder musste sie bereits in jungen Jahren als Hausmädchen Geld verdienen, um zum finanziellen Unterhalt der Familie beizutragen? Leider bot sich mir im Moment kein Anhaltspunkt und fragen konnte ich ja schlecht.
Kaum war der Onkel weg, erschien die dritte im Bunde: Josefine, die jugendliche Tochter, blond, mit einer Oberweite, die Männerherzen höherschlagen lässt. Eventuell lag es auch an ihrem enggeschnürten Korsett, das mir schon vom Hinschauen Atemnot bescherte. Hier war endlich jemand zeitgemäß bekleidet. Genauso hatte ich es mir vorgestellt und auf Bildern gesehen. Die Figur war ohne Rücksicht auf Verluste, sprich innere Organe und ursprüngliche Vorgaben nach dem Vorbild einer Sanduhr modelliert worden. Ihr zarter, porzellanartiger Teint wirkte jedoch echt.
Mich, beziehungsweise Marie beachtete die junge Dame nicht weiter, sondern hielt bloß auffordernd ihre Tasse in unsere Richtung. Da man zum Sprechen und Essen allerdings den Mund öffnen musste, geriet der erste Eindruck von ihr etwas ins Wanken, passend zu ihrer Zahnsubstanz. Jeder Zahnarzt wäre bei diesem Anblick entweder erbleicht oder hätte sich in Vorfreude auf einen Porsche die Hände gerieben. Ihre Vorliebe für Süßspeisen, wie die Auswahl der Frühstückszutaten unschwer erkennen ließ, in Kombination mit mangelnder Zahnhygiene, hatten einen Steinbruch zwischen den roten Lippen hinterlassen. Zahnbürste und Zahnpasta samt professioneller Zahnreinigung mussten erst noch erfunden werden.
Marie bediente ihre Familie mit der Routine jahrelanger Erfahrung. Die nahezu gleichaltrige Cousine zeigte sich ihr aber keineswegs freundlich gesinnt, beschwerte sich vielmehr, dass der Tee zu kurz gezogen und der Kuchen zu trocken geraten sei.
Nach dem Frühstück begab sich diese dann mit Leidensmiene und einer Stickarbeit aufs Sofa. Ich erfuhr im Zuge dessen, dass Josefine bald zu heiraten gedachte. Die filigrane Handarbeit, an der sie lustlos herumstichelte, sollte ein Geburtstagsgeschenk für ihren Verlobten darstellen.
Auf Marie und mich warteten nun Reinigungsarbeiten. Der Holzboden musste poliert, Teppiche ausgeklopft, Betten gemacht und Staub gewischt werden. Die hässlichen Nippes-Sachen auf den Regalen nicht zu vergessen. Hausarbeit war vor hundert Jahren ein Knochenjob gewesen und die Erleichterung durch elektrische Geräte stand bestenfalls als Hoffnung im Raum. Kochen brauchten wir aber nicht, denn dafür kam am späten Vormittag eine Zugeh-Frau, die nach der Begrüßung in die Küche eilte und dort lautstark zu werkeln begann.
Um Punkt zwölf Uhr verließ Marie das Haus und machte sich auf den Weg zu einem mir unbekannten Ziel. Ich begleitete sie durch die Gassen einer mir fremden Stadt. Mich überschwemmte dabei eine Woge der Unwirklichkeit. Ich meinte, versehentlich in einen Historienfilm geraten zu sein, bei dem ich genötigt wurde, die Hauptrolle zu spielen. Pferdedroschken holperten an mir vorüber, antike Fahrräder schwankten samt ihren wagemutig Aufsitzenden halsbrecherisch über das Kopfsteinpflaster und tatsächlich entdeckte ich ein einzelnes Automobil, das ich so nur aus dem Museum kannte.
Obwohl meine Doppelgängerin rasch ausschritt und wann immer es möglich war, den Blick auf den Boden geheftet hielt, bemerkte ich, dass wir auffielen. Man starrte uns entweder unverhohlen an oder ignorierte uns übertrieben deutlich. Warum verhielten man sich ihr gegenüber so merkwürdig?
Die Erklärung boten mir kurz darauf ein paar harmlos wirkende Buben, die am Straßenrand mit Murmeln spielten. Als wir an ihnen vorbeiliefen, riefen sie: „Negerliebchen!“ und streckten uns höhnisch die Zunge raus. Einer warf sogar einen Stein nach Marie, verfehlte sie aber glücklicherweise. Niemand rügte die elenden Rotzbengel für dieses flegelhafte Benehmen. Offenbar genügte früher eine braune Hautfarbe, um in der Öffentlichkeit gebrandmarkt zu werden.
Endlich ließen wir die Hauptstraße hinter uns und schlugen einen Feldweg ein. Marie hob die Augen. Gleichzeitig schien eine Last von ihren Schultern zu fallen. Ihr Schritt wurde leichter. Hier waren wir allein. Ein kleines Tannenwäldchen lag zu unserer rechten, Vögel zwitscherten fröhlich, Bienen summten und der Wind rauschte in den Zweigen. Sogar ein Bach schlängelte sich munter plätschernd durch dieses fast unberührte Paradies. Die friedvolle Landschaft wirkte wie Balsam auf der Seele. Leider würde dieses Stück Natur in den nächsten hundert Jahren bestimmt einer Neubausiedlung oder einem Industriegebiet zum Opfer fallen.
Unser Ausflug endete vor einer Diakonissenanstalt, wie man an den sich in Tracht befindlichen Schwestern leicht erkennen konnte. Vor meinen Augen entfaltete sich ein weitläufiges, hügeliges Areal, das bis zum Waldrand reichte und aus vielen großen und kleinen Häusern, nebst einer Kirche bestand.
Das mehrstöckige Gebäude mit den hohen Fenstern, welches Marie ansteuerte, trug am Portal den in schnörkelige Buchstaben gesetzten Schriftzug „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken.“ Darüber stand in großen Lettern: „Schwachsinnigen- und Krüppel-Anstalt“.
Was für eine schreckliche Formulierung! War das damals die normale Bezeichnung für geistig und körperlich behinderte Menschen? Was wollte Marie hier? Hatte sie etwa ähnlich gelagerte Ambitionen wie ich und verbrachte ihre Freizeit ehrenamtlich in diesem Heim?
Meine Nase wurde gleich beim Betreten der Örtlichkeit mit einer höchst unerfreulichen Geruchsmischung konfrontiert. Ich begann automatisch flach zu atmen und dachte lieber nicht über die Quelle dieses Gestanks nach. Marie schienen diese ekelerregenden menschlichen Ausdünstungen nicht weiter zu stören. Sie sprang förmlich die geschwungene Holztreppe bis in den zweiten Stock hinauf und wurde dabei von allen Seiten freundlich begrüßt. Man kannte sie und besaß offensichtlich keine Vorbehalte gegen dunkelhäutige Menschen. Nicht nur die ihr entgegeneilenden Diakonissen, auch einige Patienten nickten grüßend oder lachten erfreut bei ihrem Anblick. Von einer bekam sie zu meinem Schrecken sogar eine stürmische Umarmung.
Schließlich betrat Marie ein Zimmer am Ende des Korridors und wurde dort sehnsüchtig von einem schmächtigen Mädchen erwartet. Die Kleine hatte dunkelblondes, welliges Haar, markant bernsteinfarbene Augen und helle Haut. Trotz der äußerlichen Unterschiede war mir aber klar, dass die zwei Schwestern sein mussten.
„Sophie, mein Schatz. Wie geht es dir heute? Sind deine Halsschmerzen besser geworden?“ Marie drückte das Kind herzlich an sich.
Bei dem Namen begann es in meinem Ohr zu klingeln. Hatte der Bräutigam ihn nicht in der Hochzeitsnacht erwähnt?
Ich hätte nun erwartet, höchstens ein unverständliches Stammeln als Antwort zu bekommen, denn das arme Mädchen zeigte eine ausgedehnte spastische Lähmung, wovon die Gliedmaßen und das Gesicht betroffen waren. Ein Mundwinkel hing nach unten, der Kopf saß schief auf dem Hals und die Hände und Arme befanden sich in einer verkrümmten, komplett verspannten Position. An den Beinen sah es vermutlich nicht besser aus, obwohl sich das schwer beurteilen ließ, weil sie unter der Bettdecke verborgen lagen.
Zu meiner Verblüffung teilte sich die Kleine jedoch mit, durch Gesten, Zuckungen, Blinzeln und ganz unterschiedliche Laute.
„Das ist jammerschade“, antwortete Marie und konnte diese Sprache wohl ohne weiteres verstehen.
In diesem Augenblick betrat eine junge Pflegekraft mit einem vollbeladenen Tablett das Krankenzimmer. Ihr rundes Gesicht strahlte wie ein Vollmond unter dem schief sitzenden, weißen Häubchen hervor und auf der sommersprossigen Nase saß eine winzige Nickelbrille. Auch der Rest von ihr bot wenig Ecken und Kanten. Ich fand sie auf Anhieb sympathisch. „Heute stehen Erbsen und Kartoffelpüree auf dem Mittagstisch. Eine deiner Leibspeisen, Sophie“, berichtete sie so begeistert, als hätte diese gerade einen Sechser im Lotto gewonnen.
„Du bist ja doch da, Johanna“, meinte Marie daraufhin verwundert. „Meine Schwester hat steif und fest behauptet, du hättest heute frei.“
„Das habe ich auch fast. Der Zug fährt in zwei Stunden. Mein ältester Bruder vermählt sich morgen.“
„Oh, das freut mich.“
„Ich freue mich auch. Nur muss ich bis dahin eine akzeptable Frisur gefunden haben. So kann ich mich auf der Feier keinesfalls blicken lassen.“ Sie strich, nachdem sie das Tablett auf Sophies Nachttisch abgestellt hatte, missmutig durch ihr feines Haar, das sich offenbar ungern von einer Haube bändigen ließ. „Ist es nicht schlimm genug, rothaarig zu sein? Ständig hängen Strähnen herab. Schwester Hulda von der Frauenstation hat mich heute Morgen deswegen sogar gerügt. Und Schwester Inge behauptet immer, sie hätte noch nie eine so schlampig aussehende Schülerin gehabt.“ Seufzend gab sie den Versuch auf, ihren kupferfarbenen Flaum wieder geordnet unter die Kopfbedeckung zu bringen.
„Unsinn. Ich finde deine Haare hübsch“, tröstete sie Marie. „Sei froh, dass du keine Naturlocken hast. Gestern sind mir bei dem Versuch die verfilzten Stellen aus meinem Zopf herauszubekommen zwei Zinken vom Kamm abgebrochen.“
„Man kriegt im Leben halt selten das, was man sich wünscht. Davon können die meisten hier ein Lied singen.“ Schwester Johanna ließ ihren Blick mitleidig einmal durchs Zimmer schweifen. „Nun muss ich aber weiter, sonst bringe ich meine Arbeiten nicht mehr zuwege. Bis Montag.“
„Du kannst Schwester Inge ausrichten, dass ich nachher ein paar eurer Patientinnen mit nach draußen in den Park nehme und ihnen aus Sophies Kinderbibel vorlese.“
„Famos. Wir sind heute ohnehin schlecht aufgestellt. Sie wird sehr erleichtert sein“, verabschiedete sich die junge Schwester und winkte uns herzlich zu.
Kurz darauf erschien eine alte Diakonisse mit einem weiteren Essenstablett und machte sich dran, die beiden anderen Frauen, die sich mit Sophie das Zimmer teilten, zu füttern. Die zwei lagen apathisch da und gaben nur ab und zu lallende Töne oder ein Stöhnen von sich. Das Haar hatte man ihnen kurzgeschoren und sie trugen leinene Kittel als Kleidung.
Nachdem Marie ihre Schwester ebenfalls gefüttert hatte, bewegte und massierte sie deren Gliedmaßen durch. Dies tat sie in meinen Augen äußerst geschickt.
Zum Schluss wurde Sophie gewickelt. „Ich weiß, dass du lieber auf den Nachtstuhl sitzen möchtest, aber es geht leider nicht. Dafür fehlt das Personal.“
Das Mädchen malte mit ungelenker Hand Zeichen in die Luft und stieß einige Laute aus, bei denen selbst ich als Laie merkte, dass sie keinesfalls lustig klangen.
„Ja, ich auch“, antwortete Marie. „Doch wir müssen dankbar sein, dass Onkel Konrad dieses Heim für dich bezahlt und ich jeden Mittag zu dir kommen darf. Wenn ich eine Möglichkeit finde, werde ich dafür sorgen, dass du wieder bei mir wohnen kannst. Das verspreche ich. In Ordnung?“
Sophie nickte zwar, aber in ihren Augen schimmerte es feucht.
Eine halbe Stunde später brachte Marie ihre Schwester nach draußen. Sie hatte sie zuerst huckepack die Treppe hinuntergetragen, im Schlepptau weitere agile Behinderte, die wie Fohlen um sie herumsprangen oder an ihrem Kleid zerrten. Ich wunderte mich, wie eine schmächtige Frau gleichzeitig so stark sein konnte. Es kostete sie scheinbar kaum Anstrengung, ihre menschliche Last in den altmodischen Rollstuhl mit hölzernen Rädern zu hieven und das sperrige Gefährt über die geschotterten Wege zu schieben.
Nach wenigen Metern gelangten wir zu einer Parkbank. Dort ließ man sich nieder, die Behinderten teilweise im kurzgemähten Gras sitzend. Marie las nun aus einer antiquarisch anmutenden Kinderbibel vor. Wiederum konnte ich die Schrift schwer entziffern, doch die Geschichte kannte ich. Sie handelte vom barmherzigen Samariter.
Zwei pomadisierte Herren in Anzügen und weißen Kitteln, vermutlich Ärzte, liefen an der Gruppe vorbei. Der eine beobachtete meine Doppelgängerin durch sein Monokel genauso unverhohlen wie es die Leute auf der Straße getan hatten. Marie tat jedoch, als bemerke sie dies nicht.
Sophie war mittlerweile auf ihrem Schoß platziert. Die übrigen Patientinnen wurden immer wieder am Arm oder Kopf berührt, persönlich mit Namen angesprochen oder bekamen geduldig erklärt, was sie wissen wollten.
Mich faszinierte, wie liebevoll, klug und ohne Vorbehalte Marie mit diesen fremdartigen Menschen umging. Obwohl ich selbst kaum etwas verstand, merkte ich, dass sie aus der Vielzahl von wirren, verwaschenen Äußerungen Sinn ableiten und mit jeder einzelnen Patientin auf der für sie passenden Ebene kommunizieren konnte.
Um drei Uhr mit dem Schlag der Kirchturmglocke endete die Vorlesestunde. Marie lieferte ihre Patiententruppe wieder auf Station ab. Beim Abschied weinte Sophie.
Im Haus der Verwandten wartete weitere Arbeit auf uns, die erst mit dem Anrichten des Abendessens und dem Aufräumen der Küche endete. Um 21 Uhr durfte Marie erschöpft Feierabend machen.
Josefine hatte sich währenddessen mit Freundinnen vergnügt und gelangweilt am Klavier falsche Töne produzierend die Stunden totgeschlagen. Nun plauderten Mutter und Tochter im warmen Salon und besaßen offensichtlich kein schlechtes Gewissen, die junge Verwandte derart hart für sich schuften zu lassen.
Im Herzen die soziale Ungerechtigkeit empfindend, kehrte ich mit Marie in ihre kalte, spartanische Dachkammer zurück. Ich kam mir schäbig vor, wegen meiner bequemen Lebensart, die aus einem technisierten Haushalt, Fertigprodukten und meinem vollklimatisierten Arbeitsplatz samt dem entsprechenden Einkommen bestand, das mir den Luxus der Eigenständigkeit ermöglichte.
Wir schliefen gemeinsam ein, nur durfte ich im Gegensatz zu Marie im Jahr 2016 erwachen.