Читать книгу Traum-Zeit - Josie Hallbach - Страница 6

Kapitel 3:

Оглавление

Ein kleiner Teil von mir hoffte, als ich mich zu später Stunde auf den Heimweg begab, dass ich erstens Florian nie wieder treffen müsse und zweitens in der kommenden Nacht meinem Fast-Bräutigam begegnen würde. Beides war ungefähr in gleichem Maße unrealistisch.

Ich wohne im obersten Stock eines fünf Parteien-Hauses ohne Aufzug. Die dazugehörige Straße befindet sich in einem etwas heruntergekommenen Teil unserer Kleinstadt und zeichnet sich durch Überalterung und einen hohen Ausländeranteil aus. Doch diese Wohnlage war das gewesen, was wir uns nach Paps Tod hatten leisten können. Außerdem hatte sich das berufliche Betätigungsfeld meiner Mutter im Prinzip direkt vor unserer Haustür befunden.

Obwohl sich mir später mehrfach Gelegenheiten boten, in eine hochwertigere Umgebung zu ziehen, hänge ich an dieser Wohnung. Sie ist konkurrenzlos günstig und meine Mitmieter gehören fast zur Familie. Ich entdecke zumindest ständig Aufmerksamkeiten vor meiner Wohnungstür. Im Gegenzug übernehme ich kleine Besorgungsdienste und putze samstags das Treppenhaus durch. Als Dankeschön habe ich freien Eintritt in der Eisdiele meiner italienischen Untermieter, die von deren erwachsenen Kindern betrieben wird.

Okay, Familienintegration hat auch Nachteile. Die rumänische Oma, deren Wohnung im zweiten Stock liegt, versucht mich seit Jahren unbeirrbar mit ihrem Enkelsohn aus Bukarest zu verkuppeln, damit dieser die deutsche Staatsbürgerschaft erhält und bei uns studieren darf. Sie mochte Florian von Anfang an nicht und prophezeite mir in schöner Regelmäßigkeit eine düstere Zukunft an seiner Seite.

Mein Ex fing mich schwankend vor der Haustür ab. Nachdem er mich in eine Ecke gedrängt und beschimpft hatte, begann er zu grabschen. Dabei lallte er etwas von Fehlinvestition und Auszahlung mit Zinsen. Er macht seinen Job in der Bausparkasse schon recht lang.

Zum Glück war er dermaßen betrunken, dass er keine ernsthafte Gefahr darstellte und ich ihn abschütteln konnte. Eigentlich tat ich sogar ein bisschen mehr als das. Der große Bruder einer Freundin aus meinem ehemaligen Jugendkreis war lange Jahre im Jiu-Jitsu gewesen und hatte mir an einem sonnigen Nachmittag einige praktische Kniffe beigebracht, die man als alleinstehende Frau gut gebrauchen kann. Durch Florian hat sich der lehrreiche Unterricht endlich bezahlt gemacht. Morgen würde sich mein Ex vermutlich fragen, woher seine schlechte Verfassung und die körperlichen Male stammten. Doch ein paar Erinnerungshilfen konnten kaum schaden und sollten ihn in Zukunft von weiteren, alkoholisierten Eskapaden abhalten.

Und dann gab es sogar noch eine unerwartete Zugabe, geliefert von einem übergewichtigen, in Feinripp-Unterhemd und Jogginghose gekleideten Senior. Herr Maifeld führt gegen eine reduzierte Mietgebühr Hausmeistertätigkeiten bei uns im Gebäude durch. Weil er diesen Job sehr ernst nimmt und sein Tätigkeitsfeld zudem weit fasst, hatte er sich zur Unterstützung einen Minigolf-Schläger mitgebracht. Bestimmt wird dieser seit Jahren irgendwo schmerzlich vermisst. Gekonnt und recht eindeutig schwang er ihn in der Hand. Auch ein alkoholisiertes Hirn versteht eine solche Sprache.

Als Florian endlich schimpfend um die Ecke verschwunden war, begleitete mich mein glatzköpfiger Schutzengel schweratmend bis direkt vor meine Wohnungstür. Obwohl ich ihm ununterbrochen beteuerte, dass mir nichts passiert sei, würden morgen alle im Haus Bescheid wissen, unter Garantie.

Mehr oder weniger unbeschadet in meinen vier Wänden angekommen, schloss ich sorgsam ab und empfand echte Dankbarkeit, dass es nie zu einem Schlüsselaustausch zwischen Florian und mir gekommen war.

Trotzdem brauchte ich eine ganze Weile, bis sich meine Nerven beruhigt hatten. Rein therapeutisch bemühte ich darum meinen Einfallsreichtum, um im Schlaf ins vorige Jahrhundert enteilen zu können, in dem die Welt samt ihren Männern noch in Ordnung war. Doch was den Tag über ohne Probleme funktioniert hatte, scheiterte jetzt kläglich. Ich erwachte vermeintlich traumlos am nächsten Morgen.

Dafür begegnete mir noch vor der ersten Kaffeepause ein vorwurfsvoller Blick aus grünen, von perfektem Mascara umhüllten Augen. Als Mona auf dem Weg zur Toilette an meinem Schreibtisch vorüberschlenderte, konkretisierte sich dieser Eindruck, indem sie: „Ich bin voll enttäuscht von dir“, zischte.

Florian schien das unstillbare Bedürfnis verspürt zu haben, sich bei ihr auszuheulen, bevor er seinen Kummer in Alkohol ertränkt hatte, um mir danach, von jeglichem guten Benehmen enthemmt, an die Wäsche zu gehen. Sein angestammter Sitzplatz neben dem begehrten Fenster des nahegelegenen Büros war heute Morgen verwaist, wie ich mit stiller Genugtuung feststellte. Vermutlich kühlte er gerade wesentliche Teile seines Unterleibs.

Bis zur Mittagspause konnte ich Mona hinhalten, dann zerrte sie mich hinter sich her in die Kantine. Weitere Interessenten, die sich uns anschließen wollten, ihr Freund Jochen vorne dran, grenzte sie kategorisch aus.

„Wir kennen uns seit der Grundschule…“, begann sie, Berge von Salat vor sich aufhäufend, weil sie zum gefühlt zwanzigsten Mal in diesem Jahr auf Diät war. Dabei besitzt sie schlimmstenfalls Normalgewicht. Für einen neidisch-hungrigen Blick auf meine Lasagne reichte es dennoch.

Wenn sich meine Freundin auf gemeinsame Kindheitserlebnisse beruft, ist das kein gutes Zeichen. Ich wappnete mich für Unangenehmes. Mona kann nämlich kultiviert blättrige Kost in sich reinschieben und einen parallel wie eine Verräterin dasitzen lassen, ohne Salatsoße zu verspritzen oder ein Wort zu sprechen. Leider war nicht meine fetttriefende Lasagne die Ursache ihres Unmutes. Das hätte ich leicht verschmerzt.

„Wie konntest du mir vorenthalten, dass du dich verliebt hast?“, kam es empört von ihren Lippen, nachdem ich mich minutenlang jeglicher verbalen und nonverbalen Kommunikation entzogen, mit Inbrunst meinem Essen gewidmet und so gut es ging die Ahnungslose gespielt hatte.

Augenblicklich bekam ich Mühe, zu schlucken. Ich kaute extra lange, was mir ein bisschen Zeit zum Denken verschaffte. Aber irgendwann ist ein Bissen weicher Nudelteig mit Hackfleischsoße ausgereizt und man muss seinen Wortschatz und die Gehirnzellen bemühen.

„Wie kommst du denn darauf?“ war das kreativlose Ergebnis meines Kau- und Denkmarathons. Ich sollte mir demnächst eine andere Notfall-Floskel ausdenken. Sie verliert allmählich ihre Wirkung.

„Schau dich im Spiegel an, Mädchen. So sieht man nicht aus, wenn man frisch mit jemandem Schluss gemacht hat, ohne dass ein Neuer im Spiel ist.“ Mona besitzt in diesem Punkt etwas Erfahrung. Jochen ist mit Abstand ihr bisher langmonatigster Freund. Für sie spielen klassische Werte, wie ein Familienmodell, das aus einem verheirateten Paar samt den genetisch dazu passenden Kindern besteht, keine wirkliche Rolle. Sex gehört für sie so unverkrampft zum Leben, wie ihr Yoga-Kurs mittwochabends. Warum sich unsere Freundschaft trotz der unterschiedlichen Lebensphilosophien derart lange gehalten hat, ist eigentlich ein Rätsel. Wahrscheinlich liegt es daran, dass Mona gleichzeitig offen, geradlinig und hundert Prozent treu ist, zumindest mir gegenüber.

„Da gibt es niemand Konkreten, äh ich meine Reellen“, probierte ich eine letzte Ausflucht, aber keine sonderlich ernstzunehmende, weil ich nebenbei gegen ein akut aufsteigendes, pubertäres Kichern ankämpfen musste. Wie jedes Mal, wenn ich an bestimmte Aspekte meines zurückliegenden Traumes dachte.

„Erzähl mir keinen Mist. Ich kenne dich besser als jede andere. Außerdem weiß ich zufällig, dass man als Christ nicht lügen darf.“ Mona hat es zwar selbst nicht mit Religion, was aber keinesfalls heißen soll, dass sie nicht bestens Bescheid wüsste. „Entweder du kiffst inzwischen, was ich mir bei dir schwer vorstellen kann oder da ist ein Mann im Spiel, der interessanter Weise nicht Florian heißt.“

Daraufhin beging ich meine nächste Inkonsequenz, bereits die zweite innerhalb von 24 Stunden. Obwohl ich gestern noch der Überzeugung gewesen war, dass Schweigen angesichts irrer, wenig plausibler Erlebnisse mit Gold belohnt wird, verlagerte sich meine Haltung jetzt spontan Richtung Silber. In mir schwappte das Bedürfnis hoch, etwas von dem, was mir widerfahren ist, in Worte zu fassen, um herauszufinden, ob das überhaupt funktionierte oder sich genauso verrückt anhören würde, wie das, was ich empfand.

Während ich über den Tisch gebeugt, flüsternd meine nächtlichen Erinnerungen vor meiner ambitionierten Hobby-Analytikerin auszubreiten begann, fing ihr Gesicht verräterisch an zu zucken. Der linke Mundwinkel und das entsprechende Augenlid waren betroffen, ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie sich amüsierte.

Die erste Zwischenfrage bestätigte es mir. „Und wie war‘s?“

Mein Bericht hatte mittlerweile die Stelle erreicht, wo mein vermeintlicher Bräutigam zu mir ins Bett stieg. „Was?“

„Na, ihr seid doch hoffentlich zur Sache gekommen.“ Der Humor brach sich endgültig Bahn. Ihr Gesicht sprühte förmlich vor Belustigung. Die Gabel stieß unterstützend mitten in die Gurkenscheiben und pikste eine davon mitleidlos auf. Mona liebt plastische Gesten! Vielleicht wollte sie meine Geschichte aber auch bloß abkürzen, weil wir in einer viertel Stunde an unserem Arbeitsplatz eintreffen sollten.

„Natürlich nicht. Er war überaus rücksichtsvoll“, glaubte ich meinen Schein-Ehepartner verteidigen zu müssen. Nebenbei schaute ich mich peinlich berührt nach ungebetenen Lauschern um. Mir ist vorher nie aufgefallen, wie durchdringend Monas Stimme sein konnte.

„Mensch Ronja!“ Das Glitzern in ihren Augen erlosch und die Gabel samt der aufgespießten Gurkenscheibe erstarrte mitten auf dem Weg zum Mund. „Da träumst du schon mal von einer Hochzeitsnacht und könntest sogar als brave Christin ohne schlechtes Gewissen hemmungslosen Sex haben und was passiert? Dein Unterbewusstsein bastelt sich einen Spießer dazu, der auf Brüderchen und Schwesterchen macht.“ Die Gurke kehrte mit einem heftigen Klirren zu ihren Artgenossen zurück und Mona schob mit angewidertem Gesichtsausdruck ihren Teller von sich. „Oder sah er abgrundhässlich aus?“

„Nein, du hättest ihn garantiert süß gefunden. Er erinnerte mich ein bisschen an „Legolas“, nur mit kürzeren Haaren und hübscheren Ohren.“ Wir haben in der Vergangenheit mal mit Freunden „Herr der Ringe“ geschaut. Der Elbenprinz liegt, wie ich weiß, auf Monas Beliebtheitsskala ganz vorne.

Auf der sonst makellosen Stirn meiner Freundin bildete sich eine steile Falte. „Dann ist es schlimmer, als ich befürchtet habe. Was dir fehlt, ist offensichtlich. Flo sieht das genauso.“

„Ach, hat er mir darum gestern betrunken aufgelauert?“ Eigentlich hatte ich den letzten Akt unserer unrühmlichen Beziehungsglosse mit ins Grab nehmen wollen, doch Mona schafft es immer wieder, mir meine letzten Heimlichkeiten zu entlocken.

Das Geständnis machte sie einen Moment lang perplex. Dies zeigten ihre sich zusammenziehenden Pupillen. Ansonsten hatte sie sich erstaunlich gut unter Kontrolle.

„Es ist nichts weiter passiert“, fühlte ich mich trotzdem genötigt zu erwähnen. „Zumindest mir. Flo traf es härter.“

„Okay, das ergibt Sinn“, kam es zögernd von ihrer Seite. „Deswegen ist er heute krankgemeldet… Warum hast du eigentlich ausgerechnet jetzt mit ihm Schluss gemacht?“

Eigentlich hatte ja Florian mit mir Schluss gemacht, doch für solche Detailfragen schien mir der falsche Zeitpunkt zu sein. „Es war längst überfällig. Wir passen nicht zusammen.“

Mona gab zu meiner Überraschung ohne Widerspruch nach. „Vielleicht war das mit euch einfach mein Wunschdenken. Soll ich ihn mir vorknüpfen? Jochen will nachher ohnehin bei ihm vorbeischauen.“

Ich schüttelte heftig den Kopf.

„Na gut, er wird darüber wegkommen“, lenkte sie ein. „Möglicherweise ist er das sogar schon, denn er hat gestern dein Hintergrundbild von seinem Handy gelöscht und seinen Beziehungsstatus auf Facebook geändert.“ Anschließend hakte Mona das leidige Thema ab und schaltete auf Optimismus um. Irgendwo in ihrem Innern muss sich ein Knopf befinden, den man bei Bedarf betätigen kann. Langfristiges Sorgenmachen zählt nicht zu ihren herausragenden Eigenschaften. „Kopf hoch, Ronja. Da draußen wartet bestimmt ein netter, frommer Prinz auf dich. Ihr werdet eine perfekte Romanze haben, heiratet, bekommt einen Stall voll lockenköpfiger, rehäugiger Kinder und lebt christlich und zufrieden bis an euer Lebensende, während ich einsam und von meinen unzähligen Affären frustriert in einem Seniorenheim vor mich hinvegetiere.“ Wenn Mona bei diesen Worten nicht aufmunternd gegrinst hätte, wäre ich fast auf die Idee gekommen, sie könne ihre Worte ernstmeinen.

So aber entgegnete ich nur: „Dann werde ich dich dort besuchen und meine Enkelschar zur Aufmunterung mitbringen.“

Der Rest des Tages verlief für meine momentanen Verhältnisse halbwegs unkompliziert. Dennoch hatte ich am Abend eine kleine Existenzkrise und fragte mich, ob ich diesen Job und all das, was gerade mein Leben ausmachte, die nächsten zehn oder wieviel Jahre auch immer durchziehen wollte. Sich Tag für Tag mit einem mies gelaunten, nachtragenden Ex arbeitstechnisch konfrontiert zu sehen, stellt man sich schließlich keineswegs spaßig vor. Außerdem gestand ich mir ein, dass mich Bausparverträge beängstigend wenig interessieren. Und entgegen der optimistischen Prognose meiner Freundin rechnete ich auch nicht damit, demnächst einen, diesmal qualitativ hochwertigen und vor allem dauerhaften, Prinzen auftauchen zu sehen, der meinem Dasein neue Bedeutung verleihen würde. Aschenputtel ist zwar mein Lieblingsmärchen, doch inzwischen erreicht selbst mich ab und zu die Realität.

Dabei hatte ich mich als kleines Mädchen stets bemüht, mir eine schöne, heile Parallelwelt aufzubauen.

Es begann, als meine Eltern lautstark ihre Konflikte austrugen, die mit einer weinenden Mutter und einem die Tür zuschlagenden, das Haus verlassenden Vater endeten. Weil ich nicht fliehen konnte, zog ich mich in meine Gedanken zurück. Dort erschuf ich die perfekte Großfamilie, einen Ort voller Wärme und Geborgenheit.

Meine Zeit als Halbwaise und einziges Kind einer alleinerziehenden, sich in den Wechseljahren befindlichen Mutter unter einer Horde Senioren, die ich im Freilandmuseum zubringen musste, halfen auch nicht weiter. Während sich die Erwachsenen über Fundraising, Renovierungsmaßnahmen, Besucherzahlen, Putzpläne und Öffnungszeiten unterhielten, strich ich durch die verschiedenen Häuser und versuchte mir, mangels Alternativen und Spielkameraden - ich durfte keine Freundinnen mitbringen und irgendwann ist man mit den meisten Kinderbüchern durch -, in meiner Phantasie auszumalen, wer hier gewohnt haben könnte. Ich bastelte ein ganzes Dorf zusammen. Es gab Abenteuer zu bestehen und rotzfrechen Jungs zu trotzen.

Erschwerend kam hinzu, dass fast alle Kids in meinem Alter ein Handy besaßen, meine Mutter mir solche Freuden aber standhaft verweigerte. Wahrscheinlich stammt meine spärlich ausgeprägte Technikaffinität hiervon. Mein einziger Zugang zum Internet blieb über Jahre hinweg ein lächerlicher PC, der völlig veraltet und äußerst unzuverlässig in einer Ecke unseres Wohnzimmers verstaubte und bloß in Sonderfällen von mir genutzt werden durfte. Ich war vermutlich das einzige Kind, das nahezu medienfrei aufwuchs, weil meine Mutter an gefährliche Strahlung glaubte.

Das hinderte sie nicht daran, Krebs zu bekommen, der nach vielen Krankenhausaufenthalten und Therapieversuchen ihrem Leben und Leiden ein Ende setzte. Mutter hatte, wenn überhaupt, einen Hang zur Esoterik gehabt. Deshalb war ihr mein Interesse an Religion von Beginn an „ein Dorn“ im Auge gewesen. Es hatte folglich gute Argumente gebraucht, um in die Mädchenjungschar gehen zu dürfen und später nach meiner hart erkämpften Konfirmation in den Jugendkreis. Die Krankheit lenkte ihre Energien aber bald in eine andere Richtung und sie besaß anschließend selten genug Kraft, um neben ihrem eigenen Dasein, auch noch meine Geschicke zu verwalten.

Umso mehr erstaunte mich, dass die Verwandtschaft meines Vaters, zu der wir seit seinem Selbstmord keinen Kontakt mehr hielten, größtenteils fromm war. Sie tauchte an Mutters Beerdigung auf, füllte mit einer unspektakulären Selbstverständlichkeit ein Defizit in meinem Leben und gehört seither zu mir.

Diese vor vier Jahren neuentdeckte Familie besteht aus meiner Tante Sabine, deren Mann und den drei Töchtern, die allesamt jünger als ich sind. Oma lebte am Anfang ebenfalls bei ihnen, weil sie davor mehrfach in Gefahr gestanden hatte, ihr Haus abzufackeln, indem sie Herdplatten zum Heizen anließ, sich aussperrte und irgendwann nicht mehr allein heimfand.

Meine Tante verbrachte daraufhin drei Jahre ihres Lebens Tag und Nacht am Rande eines Nervenzusammenbruchs, bis sie ihre Mutter schließlich in ein Pflegeheim brachte.

Mit meinen Cousinen verstehe ich mich relativ gut, obwohl wir uns in fast jeder Hinsicht unterscheiden. Sie zelebrieren gerade den kollektiven Atheismus, indem sie jedes christliche Programm boykottieren, um sich damit demonstrativ von ihrer einengenden, elterlichen Erziehung abzugrenzen. Zudem sind alle drei Pferdenärrinnen und verbringen jede freie Minute in einem Reitstall, während ich Pferde hauptsächlich von Postkarten, Tiersendungen und Stickern kenne. Für Reitstunden hatte es in meiner Kindheit kein Budget gegeben, genauso wenig wie für etwaige Haustiere. Meine Ansprüche waren von Hund, Katze und Zwergkaninchen bis auf einen Wellensittich gesunken. Doch selbst davon hatte meine Mutter nichts wissen wollen. Im Freilandmuseum gäbe es genug Ferkel, Hasen und Gänsekinder, waren ihre Worte. Ich wette, sie hat nie versucht, mit einem Küken zu spielen. An meiner linken Wade befand sich monatelang das Andenken einer übereifrigen Gänsemutter.

Rein äußerlich hätte man mich auch nie zu meiner Familie sortiert. Ich komme mir neben diesen amazonenartigen Menschen wie ein kleines, schwarzes Schaf vor. Alle, bis auf meine Oma, sind langbeinig, strohblond, besitzen blaue Augen und einen hellen Teint. Weil meine Eltern optisch ebenso dahin tendiert hatten, bin ich als Kind heimlich davon überzeugt gewesen, adoptiert worden zu sein.

Tante Sabine klärte mich jedoch auf, dass es in unserer Familie neben dem nordischen, auch einen südländischen Zweig gäbe, der sich zwar nie generell durchgesetzt habe, doch ab und zu mal unerwartet in Erscheinung trete. Es muss früher ein altes Fotoalbum existiert haben, in dem dies eindrücklich dokumentiert war, welches aber -wie auch immer- abhandengekommen ist.

Das -wie auch immer- heißt mit höchster Wahrscheinlichkeit Oma Helene. Die ehemalige Besitzerin neigt nämlich dazu, Dinge, die ihr wichtig sind, zu verstecken, aus Angst, dass sie gestohlen werden könnten. Ihre Brille, der Pass und selbst der Geldbeutel sind regelmäßig hiervon betroffen. Hinterher weiß sie natürlich nicht mehr, wohin diese Sachen gelangt sind und beschuldigt ihre engsten Familienangehörige, sie zu berauben.

Vermutlich wird das Fotoalbum irgendwann aus den Tiefen des Kleiderschrankes, hinter den Blumenvasen oder gar im Keller zum Vorschein kommen.

Außer diesen sechs mir nahen Anverwandten gibt es noch -wie ich inzwischen weiß- einen entfernten Großonkel, der vor Urzeiten nach Amerika ausgewandert ist, wenige Male für einen Kurzbesuch anreiste, vor einigen Jahren verstarb und von dessen Nachkommen man seitdem nie wieder etwas gehört hat.

Traum-Zeit

Подняться наверх