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Kapitel 9:

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Es wunderte mich nicht im Geringsten, dass ich in der nächsten Nacht erneut auf Zeitreise ging. Schließlich hatte ich das Familienbild auf meinem Handy so oft angeschaut, dass mein Display vom ewigen Zoomen demnächst Abnutzungserscheinungen zeigen musste.

Ich fand mich, beziehungsweise Marie mit Onkel Konrad am Tisch beim Abendbrot wieder. Das Esszimmer sah genauso steif und unpersönlich aus wie beim letzten Mal.

Von Tante Klara und Josefine war nichts zu sehen, doch ich meinte im Verlauf des Gespräches herauszuhören, dass die Cousine inzwischen geheiratet hatte und die beiden Frauen einen netten Abend miteinander verbrachten und nebenbei deren neues, häusliches Umfeld aufzuhübschen gedachte. Wahrscheinlich fehlten ein paar gehäkelte Spitzendeckchen oder unpraktische Staubfänger für die Vitrine, musste ich boshaft denken.

Der Onkel schien ausnahmsweise bester Stimmung zu sein und hatte beim Essen kräftig dem Rotwein zugesprochen. „Wie alt bist du letzten Monat geworden? 18 nicht wahr?“, erkundigte er sich plötzlich mehr oder weniger zusammenhangslos.

Marie nickte vorsichtig. Ich nahm diese Information dagegen erstaunt zur Kenntnis, weil ich meine Vorfahrin für deutlich älter geschätzt hätte, als ich sie im Spiegel erblickte. Auf dem Foto, das mir Tante Sabine zugeschickt hatte, war sie es als Mutter von viereinhalb Kindern dann ja auch.

„Somit bist du im heiratsfähigen Alter. Wir sollten uns über deine Zukunft Gedanken machen. Vielleicht hast du ja bereits einen heimlichen Verehrer?“

„Nein. Außerdem möchte ich Diakonisse werden“, packte Marie die Gelegenheit beim Schopf und brachte mutig ihren Berufswunsch vor.

„Im Ernst?“ Man merkte dem Onkel die Verblüffung an. Dann lachte er schallend, als hätte sie einen Witz gemacht. „Du meine Güte. Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Eine dunkelhäutige Diakonisse, wo gibt es denn so was? Ich denke, wir finden eine bessere Verwendung für dich.“ Seine Hand legte sich unvermittelt auf ihren Arm.

Ich spürte Maries Abneigung überdeutlich. Sie wäre am liebsten aufgesprungen und nach draußen gerannt.

„Was hältst du davon, wenn du mich in nächster Zeit vermehrt in der Firma unterstützt?“, schlug er mit schmeichelnder Stimme vor. „Ich kann eine tüchtige, sprachlich begabte Hilfskraft wie dich gut gebrauchen.“ Seine Hand wanderte noch ein Stück weiter nach oben.

In mir begann eine Warnglocke zu läuten.

„Ich möchte lieber mit Krüppeln und Schwachsinnigen arbeiten“, beharrte Marie und ignorierte die Hand so gut sie konnte.

„Das liegt daran, weil du es nicht besser kennst. Wenn du dich in Zukunft etwas entgegenkommender zeigst, finden wir bestimmt eine befriedigende Lösung. Es muss nicht zu deinem Schaden sein. Du wirst dich wundern, wie großzügig ich sein kann. Deine Tante braucht von unserem Abkommen nichts zu wissen.“ Mit einem Mal grabschten die Finger direkt nach ihrer Brust.

Marie schnellte mit einem entsetzten Aufschrei hoch, wurde aber vom Onkel hart gegen den Esszimmertisch gedrängt.

„Jetzt tu nicht so prüde, Mädchen. Du willst es doch in Wirklichkeit ebenso. Deine Mutter hatte schließlich auch nichts dagegen, sich für Geld und eine gesellschaftliche Stellung einem älteren Mann anzubiedern.“

Ich geriet äquivalent zu Marie in Panik. Diese versuchte verzweifelt, die aufdringlichen Finger abzuschütteln und sich von dem zum Unhold mutierten Onkel freizumachen. Keuchend vor Gier und wie von Sinnen umklammerte er seine Nichte und versuchte ihr gleichzeitig das Kleid hochzuschieben. Jetzt näherte sich auch noch sein sabbernder Mund. Als sich seine Lippen fordernd auf ihre pressten und seine Zunge ekelhaft feucht nach einem Zugang suchte, verlieh ihr dies ungeahnte Kräfte. Obwohl Marie keine Übungsstunde in Jiu-Jitsu absolviert hatte, verhielt sie sich angesichts dieser Horrorsituation erstaunlich besonnen. Weil der Onkel mindestens das Doppelte wie sie wog, hatte sie ihm gewichtsmäßig wenig entgegenzusetzen. Aber sie nutzte seine Abgelenktheit, während sich seine Finger am Hosenschlitz zu schaffen machten, trat ihn erst vors Schienbein, stieß anschließend mit aller Kraft ihre Faust in seinen Magen und tauchte, während er japsend nach hinten gegen den Stuhl kippte, unter seinen Armen hindurch.

Aus dem Zimmer stürzend, rannte sie direkt gegen Tante Klaras Korsett versteifte Gestalt. Die schien diese Situation richtig einzuschätzen und bestimmte mit eiskalter, schneidender Stimme: „Geh sofort in deine Kammer, Marie.“

Das ließen wir uns kein zweites Mal sagen. Dennoch hörte ich, wie sie das Esszimmer mit den Worten „Konrad, dafür bist du mir eine Erklärung schuldig“ betrat.

In ihrer Dachstube angekommen, rückte Marie den Tisch vor die Tür, weil diese nicht abschließbar war und lehnte sich schwer atmend dagegen. Voller Abscheu versuchte sie dann, die Speichelspuren von Gesicht und Hals zu wischen. Immer noch zitternd legte sie sich anschließend ins Bett. Sie wagte es nicht einmal, sich auszuziehen, sondern schlüpfte in ihrer kompletten Kleidung unter die Decke.

Sie hatte einen Schock erlitten. Das war glasklar. Bestimmt war sie nicht einmal richtig aufgeklärt worden. Dies fand, wenn man den entsprechenden Romanen und Filmen Glauben schenken mochte, erst kurz vor der Hochzeit statt, wenn überhaupt.

Ich hätte ihr einiges dazu mitteilen können, zumindest theoretisch. Hinter seliger Unwissenheit kann sich im 21. Jahrhundert niemand verstecken. Dafür gibt es bereits ab der Grundschule den entsprechenden Unterricht, von der Freizügigkeit der Medien ganz zu schweigen. Außerdem habe ich ja Mona. Den praktischen Teil der Aufklärung hatte in schöner Regelmäßigkeit, Florian angeboten zu übernehmen, war jedoch auf taube Ohren, abwehrende Hände und zu guter Letzt ein gezielt platziertes Knie gestoßen. Stellte dieser Traum etwa die Konsequenz aus seinem Übergriff von neulich dar? Möglicherweise hatte ich die unerquickliche End-Episode unserer maladen Beziehung doch nicht unbeschadet weggesteckt.

Seltsamer Weise hörte die Geschichte an dieser Stelle nicht auf, was ich eigentlich erwartet hätte. Nach einem gefühlten Sekundenschlaf durfte ich meine Ahnfrau in einen neuen Morgen begleiten.

Wir trafen sehr bald auf ihre Tante. Diese schaute drein, als habe sie über Nacht ein Magengeschwür bekommen. Sie wollte das Frühstück im Wohnzimmer einnehmen. Der Grund dafür dürfte sein, dass der Speiseraum noch Spuren des gestrigen Kampfes trug. Marie hatte es bisher nicht gewagt, ihn zu betreten.

Onkel Konrad konnte ich zu meiner Erleichterung nirgendwo entdecken. Er musste das Haus in den frühen Morgenstunden ohne Mahl verlassen haben.

Tante Klara befahl, kaum, dass das Essen weggeräumt war, ihre Nichte zu sich. „Setz dich“, bestimmte sie in einem Tonfall, der keinen Widerspruch erlaubte. Ihr Mund zeigte sich noch schmallippiger als sonst und auf ihrer Stirn standen gleich mehrere neue Falten. „Ich habe heute Nacht kein Auge zugetan und deinem Onkel ergeht es nicht besser. Er ist sehr aufgewühlt.“

Meine Ahnin nahm diese Information erstmal schweigend zur Kenntnis.

„Ich verstehe nicht, wie du uns das antun konntest.“ Die Nasenflügel der Tante begannen zu beben und ihre Stimmlage schraubte sich steil nach oben. „Wir haben unser ganzes Vertrauen in dich gesetzt, dir eine Heimat geboten, dich und deine Schwester all die Jahre finanziell unterstützt und nun das.“

„Was habe ich denn getan?“, brachte Marie entgeistert heraus.

„Das wagst du zu fragen? Tu nicht so unschuldig. Du hast dich gestern deinem Onkel angeboten und Geld dafür verlangt. Und weil er ablehnte, kam es zu dieser unseligen Auseinandersetzung. Du brauchst gar nicht zu versuchen, ihn jetzt bei mir anzuschwärzen.“ Tante Klara rührte bei diesen Worten allerdings nervös in ihrer Kaffeetasse und blickte vorsichtshalber in eine andere Richtung.

„Das stimmt nicht.“

Als Reaktion fiel der Löffel klirrend in die Untertasse. „Schluss, kein weiteres Wort mehr in dieser Sache. Ich dulde deine Aufsässigkeit nicht länger. Allein, wenn ich dran denke, wie schamlos du dich an Josephines Hochzeit aufgeführt hast. Es wird Zeit, dass du unter die Haube kommst und ein Ehegatte dir Manieren beibringt, bevor es zu spät ist.“

„Ich will nicht heiraten“, widersprach Marie angesichts der vorherrschenden, explosiven Atmosphäre überaus mutig. „Ich möchte Diakonisse werden und Krankenpflege lernen.“

„Diakonisse? Wer hat dir denn diesen Unsinn in den Kopf gesetzt? Dazuhin werden sie dich dort kaum nehmen. Bei den barmherzigen Schwestern hält man nichts von mannstollen Weibern. Du kannst von Glück reden, wenn du einen Bräutigam abkriegst. Die Männer werden sich bei deinem Aussehen, deiner mangelhaften Bildung und deinem aufsässigen Wesen keinesfalls um dich reißen. Ganz abgesehen von deiner bedauernswerten Schwester, die mitversorgt werden muss.“

Jetzt war es um Maries Ruhe vollends geschehen. Sie fuhr erschrocken vom Stuhl hoch. „Was? Ihr wollt meine Schwester ebenfalls loswerden?“

Der Drachen von einer Tante hüstelte daraufhin gekünstelt und schlug eine etwas tiefere Tonlage an. „Mein liebes Kind. Du bist hier nicht in der Lage, Forderungen zu stellen. Dein Vater hat uns schließlich nur einen Sack voller Schulden hinterlassen.“

„Drum will ich ja arbeiten gehen.“

Tante Klara seufzte schwer geprüft angesichts von so viel Ignoranz. „Spar dir deine Widerrede. Es ist eine beschlossene Sache. Dein Onkel wird heute anfangen, sich nach geeigneten Kandidaten umzuhören.“ Sie zeigte an, dass das Gespräch an dieser Stelle beendet sei.

Dies hätte Marie besser akzeptiert, aber in ihr kochte angesichts dieser Willkür eindeutig das Blut. „Und was ist, wenn ich mich weigere?“

Daraufhin richtete Tante Klara zum ersten Mal an diesem Morgen den Blick auf ihre junge Verwandte. „Du weißt genau, dass du nicht länger hierbleiben kannst. Dazuhin würde sich dein Onkel bei einer Zuwiderhandlung genötigt sehen, deine Schwester im Armenhaus der Stadt unterzubringen und du kannst dir sicher denken, was das bedeutet.“

An dieser Stelle wachte ich auf. Ich brauchte dieses Mal echt lange, bis ich mich in meiner Gegenwart zurechtfand.

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