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Sechs

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Arnoult verließ die Villa und ging zu seinem Wagen. Der ID 19 war zwar mehr als dreißig Jahre alt, aber immer noch gut in Schuß. Arnoult blickte auf die Uhr. 18:20. Das Clubhaus lag direkt am Yachthafen von St. Cyr, gar nicht zu verfehlen. Er startete den Motor des Citroën und gab Gas. Er wendete und prügelte den Wagen über die holprige Einfahrt. Die Hydropneumatik schluckte die Schlaglöcher und hielt den Oldtimer in der Spur. Vor jeder Biegung bremste er hart und zwang den Wagen mit dem einspeichigen Lenkrad in die Kurve. Links der schmalen asphaltierten Straße ging es steil bergab. Rechts von ihm säumten Pinien den Weg. Sie warfen lange Schatten und schluckten das fahle Abendlicht. Es war angenehm kühl und Arnoult kurbelte mit einer Hand die Scheibe herunter. Die orangefarbene Tachonadel kletterte in den Geraden auf hundertzwanzig. Das Getriebe krachte, wenn Arnoult mit der Krückstockschaltung den dritten Gang einlegte.

Plötzlich brach Arnoult in Schweiß aus. Er trat auf die Bremse, riß das Lenkrad herum, bog in einen Feldweg ein und kam nach wenigen Metern zum Stehen. Arnoult schloß die Augen und sah Suzannes Leichnam, wie ihn die Rettungskräfte aus dem brennenden Wrack zerrten. Er zitterte am ganzen Körper, fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht, berührte die brennend heiße Narbe und versuchte tief durchzuatmen. Es dauerte ein paar Minuten, bis sich sein Puls beruhigt hatte und seine Hände nicht mehr zitterten.

Ganz ruhig, es ist nichts passiert, du lebst noch, du bist nur für den Rest deines Lebens gezeichnet, aber du hast auch niemanden vorsätzlich umgebracht. Es war ein Unfall, flüsterte er immer wieder wie ein Mantra. Dabei spürte er die Spiegelscherbe, die wie eine heiße Nadel seine Stirn zerfurcht und ihm diese Wundnarbe zugefügt hatte. Als der imaginäre Schmerz abgeklungen war, atmete er erleichtert auf. Es war mal wieder gut gegangen, er hatte sich noch einmal gefangen. Arnoult ließ den Motor an, manövrierte den Citroën zurück auf die Straße und hielt sich die restliche Strecke peinlich genau an die vorgeschriebene Geschwindigkeitsbegrenzung. Nach genau fünfundzwanzig Minuten und elf Sekunden brachte Arnoult den Citroën in einer prasselnden Wolke aus Kieselsteinen und Staub zum Stehen.

Ein Alfa Romeo Twin Spark mit einem geschickten Fahrer ohne Albträume wird die Strecke sicherlich noch schneller schaffen, spottete Arnoult, als er die Scheibe hochkurbelte, ausstieg und die Wagentür zuschlug. Das Abschließen konnte er sich sparen. Das Schloß hatte vor etwas mehr als vier Wochen den Geist aufgegeben und er hatte es bis jetzt nicht geschafft, den Wagen zu Monsieur Perrilard in die Werkstatt zu bringen.

Das eingeschossige Gebäude des Yachtclubs lag einen Steinwurf weit von der Hafenmole entfernt und hatte eine verglaste Front, die zum Wasser zeigte. Die Abendsonne ließ die Aluminiumrahmen der Fenster aufblitzen, als Arnoult sich seinen Weg zwischen Tischen und Stühlen hindurch über die Terrasse zur Eingangstür bahnte, die sich automatisch öffnete, als Arnoult unter die Kamera trat, die das Gebäude bewachte. Die Tür schloß sich hinter ihm und das klackernde Geräusch der Takelage der Segelboote, die in der leichten Brise an die Masten schlug, war verschwunden. Arnoult blickte sich um. Neben einem Tresen aus Teakholz, in der Form eines Bootsrumpfes, stand eine Bühne, auf der zwei Männer arbeiteten, die Lautsprecherboxen, Verstärkeranlagen und Mikrofonständer in große Aluminiumkisten verstauten, auf denen in fetten roten Buchstaben »The Hot Samba Trio« zu lesen war. Vor der Bühne gab es eine Tanzfläche, dahinter etwa zwanzig runde Caféhaustische, um die jeweils drei Stühle gruppiert waren.

Hinter dem Tresen machte sich Patrique Bertrand an einigen Gläsern zu schaffen, die er sorgfältig spülte und abtrocknete. Er würdigte Arnoult keines Blickes. Außer drei Männern im mittleren Alter, die braungebrannt und in Segleroutfit an einem der Tische hockten und lautstark über die nächste Regatta debattierten, und einer jungen Frau, die am Fenster saß, gab es keine Gäste. Arnoult schätzte die Frau auf Anfang dreißig. Sie trug eine dunkle Sonnenbrille und nippte an einem Weinglas, in dem sich Mineralwasser befand.

Arnoult trat neben sie: Entschuldigen Sie, Madame, wissen Sie vielleicht, wo ich Françoise Clavine treffen kann?

Sie blickte erstaunt zu ihm hoch. Obwohl sie blaß und ungeschminkt war, fand Arnoult ihre zarten Gesichtszüge mehr als attraktiv.

Sie müssen Kommissar Arnoult sein, lächelte die Frau, reichte ihm die Hand und stellte sich vor. Angenehm, Sie kennenzulernen. Ich bin die Gesuchte. Monsieur Heroult hat mich angerufen und mir erklärt, daß sie mich vernehmen wollen. Nehmen sie Platz, ich höre … seufzte sie ergeben und deutete auf den Korbsessel, der neben ihr stand. Sie müssen entschuldigen, daß ich die Sonnenbrille trage, aber ich hatte heute Morgen einen Migräneanfall und halte mich nur mit einer Aspirin senkrecht, fügte sie mit einem gequälten Lächeln an.

Wo waren sie diese Nacht zwischen ein Uhr und drei Uhr morgens?

Warten sie mal … die Salsaband spielte bis Mitternacht, danach haben wir noch etwas getrunken und sind dann zum Boot gegangen.

Wir?

Monsieur Heroult, Patrique Bertrand, seine Freundin Monique und ich … Hören Sie, es ist mir peinlich, merken sie das nicht? Sie kicherte nervös.

Ich bin wie ein Beichtvater, ich kann schweigen wie ein Grab. Arnoult lächelte freundlich.

Wissen sie, ich bin seit Januar ohne Engagement, meine Ersparnisse neigen sich dem Ende zu. Monsieur Heroult war so nett und hat mir eine Rolle in einer Abendserie für Tele 1 angeboten. Aha, nickte Arnoult gleichmütig.

Na ja, ich soll eine verheiratete Frau spielen, die mit ihrer Familie aus der Provinz nach Paris zieht. Ihr Mann hat eine gut dotierte Stellung in einem großen Unternehmen gefunden. Die gemeinsame Tochter ist fast erwachsen und geht ihre eigenen Wege. Die Frau ist oft einsam. Ihr Mann ist geschäftlich viel unterwegs und die Tochter weiht sie nicht in ihre kleinen Geheimnisse ein. Die Frau sucht eine neue Identität, dabei lernt sie einen anderen, jüngeren Mann kennen, der ihr zeigt, wie attraktiv sie noch ist …

Das klingt ja wirklich spannend, erwiderte Arnoult scheinbar interessiert, aber das beantwortet noch lange nicht die Frage, womit sie sich auf dem Boot die Zeit vertrieben haben.

Es ist so, ich brauche den Job wirklich, seufzte Françoise. Und dann ist man zu Dingen bereit, die man sonst vielleicht nicht machen würde, meinen sie das?

Ja, danke … so ungefähr. Wissen sie, wir haben Strippoker und Flaschendrehen gespielt. Bevor es ernst wurde, kam die Polizei und hat uns vom Tod Monsieur Bertrands benachrichtigt. Meine Güte, ich schäme mich so, stammelte Françoise.

Und das soll ich ihnen glauben?

Aber ja, fragen sie Monique, sie ist in der Küche und hilft beim Kochen, soll ich sie holen?

Tun sie das. Arnoult nickte und blickte hinter ihr her.

Eine Figur wie ein junges Mädchen, intelligent, hübsch und keine Arbeit? Er schüttelte den Kopf. Wieder machte sich ein Ziehen auf seiner Stirn bemerkbar. Bitte nicht jetzt, murmelte Arnoult und blickte zu der Schauspielerin hinüber, die an dem Tresen irgendwelche Verhandlungen führte. Françoise Clavine wechselte ein paar Worte mit Patrique Bertrand und wartete einen Augenblick, bis ein Mädchen von Anfang zwanzig, mit schwarzem Bubikopf und einem silbernen Nasenpiercing, aus der Küche kam und ihren weißen Kittel auszog. Zum Vorschein kam ein Minirock samt Top, das den Blick auf einen gepircten Bauchnabel freigab, in dem ein kleiner Straßstein glitzerte. Sie trug Netzstrümpfe und hochhackige Sandaletten, die ihre langen schlanken Beine betonten.

Hi, ich bin Monique, darf ich mich setzen? Sie nahm im letzten freien Korbsessel am Tisch Platz, schlug ihre Beine übereinander, wobei für einen kurzen Augenblick ihr weißer Slip hervorblitzte, verschränkte die Arme vor ihrer vorwitzigen kleinen Brust und starrte Arnoult herausfordernd an. Womit verdienen sie ihren Lebensunterhalt, Mademoiselle Monique? Arnoult atmete tief durch und räusperte sich.

Ich bin Kellnerin und Küchenhilfe … aber nicht mehr lange … Patrique und ich wollen heiraten und ein eigenes Lokal aufmachen, verkündete sie stolz.

Und der hat nichts dagegen, wenn seine Freundin beim Strippoker und Flaschendrehen mitspielt? Langsam aber sicher wurde er müde. Er haßte es, ein Verhör zu führen und gleichzeitig seine Narbe unter Kontrolle zu halten. Das Wundmal war wie eine Polizeisirene. Wenn er nicht aufpasste, spiegelte sich jede noch so kleine Gefühlsregung in der Farbe dieses häßlichen Striemens.

Ach was, der ist doch kein Kind von Traurigkeit, wir sind jung und noch nicht verheiratet. Andere Mütter haben auch hübsche Söhne und Christophe Heroult, oh làlà, den würde ich nicht von der Bettkante schubsen. Außerdem läßt der immer ordentlich was springen und das kann ich gut gebrauchen. Das heißt, sie waren tatsächlich zu viert auf dem Boot und wollten sich die Zeit ein bißchen miteinander vertreiben, habe ich sie da richtig verstanden?

Aber ja doch, was ist daran so schlimm? tat Monique erstaunt.

Nun gut, sie können wieder an ihre Arbeit gehen, entließ sie Arnoult mit einem Schulterzucken und wandte sich stattdessen wieder Françoise Clavine zu. Hm, hm … brummte er.

Kommissar Arnoult, bevor sie einen schlechten Eindruck von mir bekommen, möchte ich sie im Auftrag von Christophe zu einer Bootstour auf seiner Yacht in die Calanques einladen. Was soll ich da? Arnoult blaffte sie mürrisch an.

Ich denke, er möchte ihnen ein wenig über seinen Halbbruder und den verschwundenen Picasso erzählen. Christophe würde ungern auf die Präfektur kommen und er hatte den Eindruck, beim letzten Gespräch mit ihm seien sie so kurz angebunden gewesen. Bitte tun sie ihm den Gefallen, mir zuliebe, flehte Françoise fast.

Na schön, wann soll es losgehen? Arnoult seufzte müde und erschöpft.

Wenn es ihnen nichts ausmacht, erwarten wir sie morgen gegen elf Uhr am Hafen. Das Schiff heißt Petite Fleur und ist eine weiße vierzig Fuß lange Yacht. Sie liegt dort drüben zwischen dem Zweimaster und diesem doppelstöckigen Kabinenkreuzer. Françoise deutete vage in Richtung der Hafeneinfahrt.

Ich werde sie schon finden, wenn sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen, verabschiedete sich Arnoult, stand auf und ging, ohne sich noch einmal umzublicken, zu seinem Wagen. Er öffnete die Tür, ließ sich ächzend hinter das Lenkrad in den Sitz fallen, tastete nach der Flasche Evian, die er unter dem Beifahrersitz fand und nahm einen tiefen Schluck, bevor er den Strohhut ins Gesicht schob. Jetzt hieß es warten und sich entspannen. Fünf Minuten später verließ Françoise Clavine das Clubhaus. Sie sah trotz ihres Migräneanfalls blendend aus in ihrem knielangen Sommerkleid, der schlanken Figur, den langen Beinen und den Riemchensandalen mit dem halbhohen Absatz. Sie öffnete die Tür des weißen Renault Clio, der etwa zwanzig Meter entfernt im Schatten einer Platane geparkt war, startete den Motor, gab Gas und verließ den Parkplatz in einer Staubwolke. Arnoult stieg aus, ging zu dem Clubhaus und fand wenig später den Hintereingang, den er gesucht hatte. Die schwere Eisentür war unverschlossen und öffnete sich zu einem Lagerraum, in dem Weinkartons, Kisten mit Thunfisch- und Tomatendosen, Säcke mit Zwiebeln und Knoblauchbündel in eisernen Regalen, die die Mauern entlang liefen, gestapelt waren. Die nächste Tür führte ihn in einen Flur, der hinter der Bar lag. Aus der Küche, die links von ihm lag, hörte er, wie Monique mit jemandem lachte und schäkerte. Von dort war nicht zu befürchten, daß man ihn entdeckte. Er wandte sich nach rechts und schlich den Flur entlang.

Patrique Bertrand war immer noch mit seinen Gläsern beschäftigt und bemerkte ihn nicht, als er lautlos hinter ihn trat.

Kann es sein, daß sie ihre Freundin auf den Strich schicken? Arnoult flüsterte und stieß ihm gleichzeitig den Zeigefinger wie einen Pistolenlauf in die Rippen. Bertrand zuckte zusammen und ließ das Glas fallen, das in den Ausguß fiel und in tausend kleine Stücke zersprang.

Kommissar Arnoult, was fällt ihnen ein, sind sie wahnsinnig? Bertrand war wachsbleich und seine Stimme zitterte.

Oder kann es sein, daß sie sich von Françoise Clavine eine kleine sexuelle Gegenleistung erhofften? Arnoult blieb ungerührt. Bertrand faßte in die Brusttasche seines weißen Hemdes und fingerte eine Packung Gauloise hervor, nahm ein Bic-Feuerzeug vom Tresen, steckte die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug, bevor er antwortete.

Selbst wenn es so wäre, was geht sie das an?

Da haben sie sicherlich recht, Bertrand, trotzdem haben sie meine Frage noch nicht beantwortet.

Monique ist ein süßes kleines Ding, das gerne zeigt, was sie hat, zumal, wenn sie ein bißchen Geld dafür bekommt. Hören sie, Monsieur, Heroult ist kein Kind von Traurigkeit und hat ein paar Flaschen Champagner springen lassen. Immer wenn Monique beim Strippoker verloren hat, mußte sie mit einem Kleidungsstück bezahlen, während Heroult und Mademoiselle Clavine sich freigekauft haben.

Wie waren sie denn an dem Spiel beteiligt? Na, was ein Kellner so macht, füllt die Gläser, mischt die Karten, sammelt das Geld ein, grinste Bertrand anzüglich. So, und jetzt muß ich mich an die Arbeit machen, wenn sie mich bitte entschuldigen wollen, knurrte Bertrand und wandte sich wieder seinen Gläsern zu.

Ich hoffe, der Abend hat sich für sie gelohnt. Wir sehen uns noch, Bertrand, höhnte Arnoult, drehte sich um und verließ die Bar auf demselben Weg, den er gekommen war.

Picasso sehen und sterben

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