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Eins

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Die Hydropneumatik des Citroën ließ Kommissar Arnoult vergessen, daß er eine holprige schmale Straße der dritten Ordnung gewählt hatte, die unter einem malvenfarbenen Himmel parallel zur Küste durch schroffes Gebirge verlief, dessen Konturen wie geschmolzenes Glas in der Glut der Nachmittagshitze des 12. Juli funkelten. Rechts und links der Straße war der Boden karg und trocken. Übermannshohe Macchia mit Stein- und buschigen Kermeseichen, Ginster, Myrten und Mastix übernahm das Regiment, bis nur noch der blanke weiße Felsen in die flirrende Hitze emporragte. Besorgt blickte er immer wieder in den Rückspiegel und starrte auf die feuerrote Narbe, die in einer dünnen Schlangenlinie wie ein Kainsmal auf seiner schweißnassen Stirn prangte.

Es ist der Mistral, der mich immer so in Rage bringt, dachte Arnoult wütend und fuhr sich mit der Hand über sein krauses Haar, um einige Tollen dazu zu bewegen, diesen blutroten Striemen zu bedecken. Der trockene Wind aus den Cevennen war in starken Böen über das Land hinweggetobt und hatte feinen Staub wie Patina über das Gebirge des Massif de St. Beaume gelegt und die Seelen der Menschen aufgewühlt, die durch das Tosen des Windes und den heftigen Temperatursturz nächtelang nicht schlafen konnten und nun müde und überreizt ihrer Arbeit nachgingen, in der Hoffnung, während der Mittagssiesta im Schatten einer Platane oder unter der Markise eines Bistros ein wenig des verlorenen Schlafes nachzuholen. Arnoult bremste, parkte den ID 19 in einer Nische zwischen zwei hoch aufragenden Felsen, kurbelte die Scheibe hoch und griff nach der Landkarte, die er im Handschuhfach deponiert hatte. Er vergewisserte sich, daß er nur noch wenige Kilometer zu fahren hatte, bis er die D 66 in Höhe von St. Louis/Les Lecques verlassen und eine kurvenreiche Straße wählen konnte, die ihn in halsbrecherischen Serpentinen bis zu der zerklüfteten buchtenreichen Felsenküste mit den handtuchschmalen Kiesstränden hinunterbrachte, die sich von St. Cyr-sur-mer im Osten bis Bandol im Westen erstreckt. Die Villa St. Fleurie war bereits von der Straße aus zu sehen. Das ockerfarbene zweigeschossige Gebäude lag am Ende eines Feldweges, der rechts und links von hundertjährigen Palmen gesäumt war, umgeben von verdorrten Weinfeldern, deren knorrige Rebstöcke wie anklagende Finger aus dem staubtrockenen Boden ragten. Grüne verwitterte Schlagläden, die geschlossen waren, ließen das Anwesen kahl und verlassen aussehen. Arnoult parkte den Citroën zwischen dem blauen Renault der Präfektur und einem weißen Peugeot 306, der vermutlich Inspektor Roubaix gehörte. Im Schatten einer Akazie stand ein silbergrauer Alfa Romeo Twin Spark. Wem auch immer dieser Wagen gehörte, er hatte einen Sinn für Form und Farbe, entschied Kommissar Arnoult. Er erinnerte sich wehmütig daran, daß er vor seinem Unfall, der Suzanne das Leben gekostet und ihm diese Narbe wie einen zornigen Gott der Rache bescherte, mit dem Gedanken spielte, sich ein sportliches Coupé zuzulegen. Arnoult seufzte müde, straffte dann aber seine Schultern und ging mit festen Schritten auf das Haus zu.

Ein Polizist in schwarzglänzenden Stiefeln, Breeches und einem breiten Ledergürtel stand stumm wie einen Statue auf der letzten Stufe einer Steintreppe und bewachte den Eingang.

Er nickte kurz mit dem Kopf und öffnete die eine Hälfte eines schweren Portals, als Arnoult seinen Dienstausweis zeigte. Arnoult trat ein. Ein vielarmiger Kristallüster hing unter einer Stuckdecke und tauchte die Szenerie in ein gespenstisches Licht. Am Fuße einer geschwungenen Steintreppe, die in den ersten Stock führte, war mit Kreide der Umriss eines Körpers auf den braunen Bodenfliesen markiert. Aus dem Halbschatten einer Säule, die einen Gipsengel trug, löste sich ein drahtiger junger Mann mit pechschwarzen Haaren, die er geölt und nach hinten gekämmt hatte. Er trug Jeans und ein T-Shirt unter dem verwaschenen Leinensakko. Seine nackten Füße steckten in italienischen Lederslippern.

Inspektor Roubaix, murmelte er zwischen zwei Zügen aus seiner Zigarette. Alors, sie müssen Kommissar Arnoult sein, schön, daß sie schon da sind, grinste er ironisch und ließ die Gitanes von einem Mundwinkel in den anderen wandern. Biejeng, lassen sie uns beginnen, knurrte er dann in dem Tonfall der Provenzalen, bei dem die Nasale wegfallen, was bien auf hochfranzösisch heißen sollte und gut bedeutete. Arnoult, der aus Paris stammte und wegen des betörenden Lichts der Provence zum Kunststudium nach Marseille gekommen war, hatte sich immer noch nicht an den einheimischen Dialekt gewöhnt, bei dem Avignon wie Awinjong und quatrevingt wie kattreweng klang. Arnoult nickte beiläufig und betrachtete interessiert die Gemälde, die an den Wänden der Eingangshalle hingen. Bis auf das Portrait eines streng blickenden älteren Herrn in einer Uniform aus der Ära Napoleons des IV, waren die anderen Bilder der Französischen Schule um Henri Eugene Augustine Le Sidaner zuzuordnen. Eines der Ölgemälde, das zwischen zwei Stilleben aus dem 18. Jahrhundert zu sehen war, zeigte eine gedeckte Kaffeetafel im Garten einer mit Efeu bewachsenen Villa. Nichts wirklich Wertvolles, konstatierte Arnoult im Stillen. Er wunderte sich allerdings über einen schmalen Schlitz im Putz der Wand, der neben den Bildern gestemmt worden war, in dem ein rotes Elektrokabel lag, das bis zur Stuckdecke verlief und oben in einem kleinen Loch verschwand.

Wenn sie mir bitte folgen wollen, Monsieur Arnoult, murmelte Roubaix, während er mit schnellen Schritten die geschwungene Steintreppe hinaufstieg, wobei Arnoult Mühe hatte, dem jungen Inspektor zu folgen. Als sie den ersten Stock erreicht hatten, standen sie in einem Flur, in dem auf beiden Seiten jeweils drei Türen zu sehen waren. Hier links in den drei Zimmern wohnen Madame und Monsieur Bertrand, das Hausmeisterehepaar. Die Umrisse der Leiche Monsieurs Bertrands haben sie bereits am Fuße der Treppe gesehen. Schräg gegenüber, am Ende des Flurs, hat Patrique, der dreißigjährige Sohn Bertrands, sein Zimmer. Patrique hat gestern Nacht im Yachthafen von St. Cyr gekellnert. Die beiden anderen Zimmer auf der rechten Seite sind laut Aussage von Madame Bertrand seit dem Tod des alten Monsieur Heroult, der vor einer Woche gestorben ist, unbewohnt. Kommissar Arnoult folgte Roubaix, der den Flur entlang ging und vor einer großen Doppeltür stehen blieb, die mit einem elektrisch betriebenen Zylinderschloß gesichert war, aber nun offen stand.

Voilà, die Gemäldesammlung der Heroults, grinste Roubaix und trat ein. Die Gendarmerie hatte zwei riesige Scheinwerfer installiert, die den fensterlosen Saal in ein grelles Licht tauchten.

Die Tür läßt sich nur öffnen, wenn man eine Zahlenkombination in diesen Kasten eingibt. Roubaix zeigte auf eine Art Tastentelefon, das an der Wand hing.

Der Strom ist allerdings ausgeschaltet, genauso wie heute Nacht, als hier jemand eingestiegen ist. Außerdem ist das Schloß unversehrt, was auch immer das heißen mag … So, und jetzt kommen wir zum Wesentlichen, erklärte Roubaix und deutete auf eine leere leicht vergilbte Fläche an der gegenüberliegenden Wand, etwa einen Quadratmeter groß. Hier hing einmal ein Picasso im Wert von ca. 1,5 Millionen Euro. Wer behauptet das? Arnoult zog die Augenbrauen hoch.

Der junge Heroult, bisheriger Alleinerbe des gesamten Vermögens des verstorbenen Seniors!

Was heißt das?

Tja, es gibt wohl noch einen unehelichen Sohn, Professor Pirez aus Buenos Aires, der seit zwei Tagen hier im Haus lebt und behauptet, daß ihm ebenfalls ein Stück des Kuchens gehört.

Aha …, brummte Arnoult und starrte gebannt auf das Hygrometer, ein Gerät mit einem Papierband, das kontinuierlich die Luftfeuchtigkeit aufzeichnete. Er ging in die Hocke und nestelte eine Lesebrille aus der Brusttasche seines beigefarbenen Leinensakkos.

Da haben wir’s! Exakt um drei Uhr morgens stehengeblieben. Ist das die Zeit, die der Pathologe als Todesstunde bekanntgegeben hat? fragte er triumphierend, froh über seinen kleinen Sieg.

Inspektor Roubaix schluckte.

Tja, soweit sind wir noch nicht gekommen, erwiderte er mürrisch. Links neben dem leeren Fleck, den der Picasso bedeckt haben sollte, hing ein Bild von Renée Solaire, einem Künstler aus Aix-en-Provence, der in Anlehnung an ein Gemälde von Matisse reife saftige Zitronen vor einem Hintergrund aus stilisierten Lilien gemalt hatte. Hübsch, aber nicht umwerfend, dachte Arnoult. Die beiden Bilder auf der rechten Seite des Raumes waren allerdings bemerkenswerter. Zwei Aquarelle von Fotinsky. »La prostituée à Marseille« zeigte ein Mädchen in der Rückansicht, in der Eingangstür der Bar America stehend, das andere Bild, »Port du Midi«, bot dem Betrachter Fischerboote im Stil des Kubismus vor Häusern mit roten Dächern und weißen Fassaden.

Ein echter Kunstkenner hätte sicherlich auch die beiden Fotinskys mitgehen lassen, es sei denn, er wäre beim Raub gestört worden, sinnierte Arnoult. In der Mitte des Raumes entdeckte er eine Bronzeskulptur von Renata Senzo, ein männlicher Bronzekopf, dessen Lippen zu einem Kuß geformt waren.

Arnoult hatte die Künstlerin in der Galerie »Les Arcenauts« anläßlich seiner eigenen Vernissage kennengelernt, auf der seine Landschaftsaquarelle aus dem dunklen wild zerklüfteten Gebirge des Luberon und die Bilder der violetten Lavendelfelder des kargen Plateaus de Vaucluse ausgestellt waren. »Les Arcenauts« gehörte Monsieur Desnoyer, einem Kunst-mäzen und Antiquitätenhändler. Der alte Mann mit dem listigen Lächeln eines Fuchses hatte die Ausstellung für ihn organisiert, ein langjähriger Freund und Förderer, der dafür sorgte, daß sein Talent über die Grenzen Marseilles hinaus bekannt wurde. Die Galerie am Cours d’Estienne d’Orves, einen Steinwurf vom Alten Hafen in Marseille gelegen, war für Arnoult nach dem Tod von Suzanne zur zweiten Heimat geworden, in der er sich oft mit Künstlern seines Genres traf.

Unter den Aquarellen von Fotinsky stand eine Louis Quatorze Kommode, deren Schublade halb geöffnet war. Roubaix bemerkte den Blick Arnoults.

Es fehlt ein silbernes Besteck aus dem 18. Jahrhundert. Im Vergleich zu dem Picasso nicht der Rede wert, sagte er, bevor er einen tiefen Zug aus der Zigarette nahm.

Doch, ist es, erwiderte Arnoult. Es sieht so aus, als hätte hier jemand mehr oder weniger wahllos zugegriffen. Gibt es Fingerabdrücke?

Nein, nur die der Hausbewohner, das heißt von Madame und Monsieur Bertrand, die hier ab und zu einmal saubergemacht haben, von ihrem Sohn Patrique, der seinen Eltern gelegentlich zur Hand geht, und natürlich von den Heroults. Von dem verstorbenen Senior ebenso wie von seinem Sohn, dem schließlich nun alles gehört!

Den beiden weiblichen Akten, holzschnitzartig, schwarz auf ockerfarbigem Hintergrund mit Ölfarben von einem nordafrikanischen Künstler namens M’Bhoto gemalt, die auf der rechten Seite des Saales hingen, schenkte Arnoult keine Beachtung. Auch die Plastik aus Polynesien, eine mit Perlenketten und Kaurimuscheln behängte Maske, interessierte ihn nicht. Bringen sie mich bitte zu Madame Bertrand, bat er leise und wandte sich kopfschüttelnd um.

Picasso sehen und sterben

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