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Mütter haben eine Geschichte Die andere Schwester

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Ach, wie sehr hätte ich mir gewünscht, dass meine Mutter offen mit mir über unsere komplizierte Familiengeschichte gesprochen hätte. Aber Informationen kamen immer nur häppchenweise und bruchstückhaft. Wenn ich nachfragte, hieß es: „Lass doch diese alten Geschichten.“

Ich bin die älteste von drei Schwestern und bekam früh viel Verantwortung aufgedrückt. Meine Mutter war berufstätig und so musste ich meine jüngste Schwester zur Sehschule und zum Logopäden begleiten. Als ich 14 war, fuhren meine Eltern drei Wochen zur Kur. Ich musste mit meiner kleinsten Schwester zu Hause bleiben und auf sie aufpassen. Nachts hatte ich schreckliche Angst, wenn im Haus irgendwas knackte. Wir beide allein zu Hause, das ging auch sonst nicht besonders gut, denn meine Schwester war sehr eigensinnig. Aus Verzweiflung sperrte ich sie irgendwann ins Klo ein, aber sie trat die Tür ein. Bis zur Rückkehr meiner Eltern war ab da meine größte Sorge: Welche harmlose Geschichte erfinde ich für meine Mutter, um die kaputte Tür zu erklären? Ich fürchtete mich vor ihrem Zorn.

Dem Maß an Verantwortung entsprach in keiner Weise die Freiheit, eigene Entscheidungen treffen zu dürfen. Einerseits musste ich früh Erwachsenenaufgaben übernehmen, andererseits wurde ich bis zu meinem Auszug aus dem Elternhaus wie ein Kleinkind behandelt. Meine Mutter übte eine rigorose Zwangsherrschaft aus und da gab es null Verhandlungsspielraum. Kleider mussten stets das Knie bedecken – in Zeiten des Minirocks! Hosen für Mädchen: verboten. Tanzkurs gestrichen, Disco und Partys kamen schon gar nicht infrage. Ich bin sofort nach dem Abitur ausgezogen. Was für eine Erleichterung, ab jetzt selbst bestimmen zu dürfen.

Ja, sie hat es sicher gut gemeint. Wollte alles richtig machen und war zeitweise auch überfordert mit Vollzeitjob, drei Töchtern und einem zunehmend pflegebedürftigen Mann. Heute denke ich, sie hatte einfach sehr viel Angst, auch aufgrund ihrer eigenen Geschichte. Und die war in der Tat abenteuerlich.

Eines Tages lag meine Mutter mit Grippe im Bett. Ich brachte ihr das Essen, damals war ich 17, und setzte mich zu ihr. Beiläufig sagte sie irgendwann: „Du hast eine Schwester, die heißt auch Luitgardis.“ Ich fiel aus allen Wolken. „Wie bitte?“ Noch eine Luitgardis? Wo kam die auf einmal her? Ich wusste von drei Halbgeschwistern aus der ersten Ehe meines Vaters. Keine hieß Luitgardis. Mit wachsendem Erstaunen erfuhr ich nun, dass mein Vater neben dieser Ehe ein Verhältnis mit seiner Sekretärin gehabt und mit dieser zwischen 1946 und 1952 weitere vier Kinder gezeugt hatte. „Diese Adriana hat er wohl sehr geliebt“, sagte meine Mutter, „aber sie hat ihn verlassen und ist wieder in ihre Heimat, nach Belgien, gegangen.“ Ich fragte: „Aber wie konntest du zulassen, dass ich auch Luitgardis genannt wurde?“ – „Bei deiner Geburt wusste ich das noch nicht“, sagte meine Mutter, „ich hab es erst später erfahren und es war ein ganz schöner Schock für mich.“

So schnell kann sich die Familie erweitern – auf einmal bekam ich vier Halbgeschwister zusätzlich beschert, der jüngste nur zwei Jahre älter als ich. Leider kam so ein Moment der Offenheit nie wieder. Meine Mutter wollte nicht mehr über Adriana reden und meinen Vater traute ich mich damals nicht darauf anzusprechen.

Warum wird eigentlich in Familien so viel unter den Teppich gekehrt und totgeschwiegen? Die Bibel tut das nicht. Offen wird von Abrahams oder Davids Frauengeschichten berichtet. Man erfährt, dass der Priester Eli ein miserabler Vater war und Absalom ein missratener Sohn. Über Mutter-Tochter-Beziehungen allerdings schweigt sich die Bibel ziemlich aus.

Meine Mutter war eine gläubige Christin. Als jedoch mein Mann und ich das erste Mal meine älteste Halbschwester Hilde in Brügge besuchten und von ihr viel über das frühere Leben meines Vaters erfuhren, schrieb meine Mutter Hilde einen Brief, in dem sie ihr verbot, über unseren Vater „schlecht zu reden“. Dabei war Hilde drei Jahre älter als meine Mutter und völlig befremdet darüber, dass die sich anmaßte, ihr Vorschriften zu machen! In der Bibel steht übrigens nirgends, dass man die Vergangenheit verschweigen und beschönigen sollte. „Die Wahrheit wird euch frei machen“, sagt Jesus, und das kann man durchaus auch auf die eigene Familie beziehen. Lügen und Geheimnisse sind nämlich oft sehr mächtig, binden Kräfte und Fantasien, wirken zerstörerisch. In der Regel ist es besser, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Dann kann man entscheiden, wie man damit umgehen möchte. Die Herausforderung dabei ist, die Mütter (und Väter) zu ehren, obwohl sie fehlerhafte und manchmal schwer schuldbeladene Menschen sind.

Als Kind habe ich den Namen Luitgardis gehasst. Jedem Lehrer musste ich ihn buchstabieren und die Mitschüler lachten. Luitgardis ist die Schutzpatronin der Flamen, hatte mir mein Vater erklärt: Luit ist das flämische Wort für Leute und gardis leitet sich ab von garder, beschützen. Leutebeschützerin also, nun ja. Nomen est omen? Mein Vater hätte sich jedenfalls nie träumen lassen, dass ich mal Pastorin werde, denn mit der Kirche hatte er nichts am Hut. Das Herz von Firmin-Peter Parasie schlug für Flandern, nicht für Gott. 1897 in Gent, Belgien, geboren, wurde er von flämischen Lehrern geprägt und hielt nichts vom belgischen Staat, der im Norden von Niederländisch sprechenden Flamen und im Süden von Französisch sprechenden Wallonen bewohnt wird. Das Miteinander war seit der Staatsgründung 1830 nicht reibungslos verlaufen, die Flamen, obschon die Mehrheit, fühlten sich von den regierenden Wallonen unterdrückt. Als Firmin-Peter studierte, spitzte sich der flämisch-wallonische Konflikt für ihn persönlich zu: 1916 schrieb er sich an der Universität Gent ein – voller Enthusiasmus, denn gerade war sie von einer wallonischen in eine flämische Universität umgewandelt worden. Zwei Jahre später jedoch folgte die Katastrophe für die Flamen: Alle seit 1916 eingeschriebenen Studenten wurden zwangsexmatrikuliert und ein Studienverbot über sie verhängt. Die Uni Gent wurde wieder wallonisch.

Kein Wunder, dass die Ex-Gandavenses, wie sich die Exmatrikulierten nannten, die schärfsten Kritiker der belgischen Regierung wurden. Mein Vater wurde Journalist, arbeitete für die Rheinisch-Westfälische Zeitung und das Deutsche Nachrichtenbüro und gründete 1930 sein eigenes flämisches Blatt, die 14-tägig erscheinende Zeitschrift Reinaert (Fuchs). Darin griff er die belgische Politik mit beißendem Sarkasmus an.

Von alledem hatte ich als Kind nur vage Ahnungen. Vieles weiß ich bis heute nicht. Mein Vater starb 1976, da war ich 22, ich kann ihn leider nicht mehr fragen. Und meine Mutter? Ich glaube, vieles wollte sie gar nicht so genau wissen. Denn mit ihrer übereilten Eheschließung hatte sie sich in etwas hineingestürzt, dessen Ausmaße sie nicht im Entferntesten ahnte.

Sie lernte meinen Vater im April 1953 kennen, drei Monate später heiratete sie den 27 Jahre Älteren. Sie wusste damals: Er war aus Belgien geflohen, am Ende des 2. Weltkriegs. Zuerst nach Prag, dann nach München. Alles hatte er zurücklassen müssen, seine Bücher und, das Schmerzlichste für den passionierten Klavierspieler, seine Noten. In Prag hatte er promoviert über „Die Presse in Belgien“. In sein geliebtes Flandern konnte er nie mehr zurück: Der belgische Staat hatte ein Todesurteil über ihn und andere politisch Gleichgesinnte verhängt. Dabei hatte er sich doch immer nur mit Leib und Seele für die Flamen eingesetzt. Nun arbeitete er in Deutschland als Lehrer für Latein, Französisch und Gemeinschaftskunde. – So stellte es sich der 28-jährigen Ruth dar. Der Mann faszinierte sie und seine tragische Geschichte erschütterte sie. Er umwarb sie stürmisch, sie hatte jedoch zwei Probleme mit seinem Heiratsantrag: Firmin-Peter war von seiner ersten Frau geschieden, sie lebte in Gent. Einen geschiedenen Mann zu heiraten, kam für Ruth nicht infrage. Doch eines Tages kam eine Postkarte. Ein Freund schrieb Firmin-Peter, die erste Frau sei gestorben. Was für ein überaus passender Zeitpunkt. Ruth jedoch wurde nicht misstrauisch oder wollte es nicht werden.

Aber es gab noch ein zweites Problem: Peter war aus der katholischen Kirche ausgetreten. Für den Glauben hatte er nur Spott übrig. Sie hingegen stammte aus einer christlichen Familie. Die Eltern waren nie in der NSDAP gewesen, die sechs Kinder nicht in den Nazi-Jugendorganisationen HJ und BdM. Sie waren in der Schule vielen Schmähungen ausgesetzt gewesen, durch Klassenkameraden wie auch nazitreue Lehrer. Ruths Vater, der sich offen zu jüdischen Mitbürgern bekannte, schrammte immer an der Grenze zur Verhaftung entlang. Ruth hatte wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ nicht ihren Traumberuf Lehrerin erlernen dürfen. Nach dem Krieg gründete sie mit ihrer älteren Schwester ein Taxiunternehmen. Mit ihrem Verdienst fütterten sie die Mutter und die vier jüngeren Geschwister durch, denn der Vater war 1947 gestorben. Ruth teilte den Glauben ihrer Eltern. Ein ungläubiger Ehepartner war keine Option. Sie hatte schon einen anderen Freund deswegen abgelehnt. Was also tun mit dem Heiratsantrag dieses interessanten, aber irgendwie auch gebrochenen Bewerbers? Ruth fragte ihren Pastor. Der sagte: „Ach, ein so verbitterter Mann, dem muss man doch helfen.“ Ehe als Seelentherapie, das klang doch wirklich christlich. Ruth war sofort überzeugt. „Der braucht mich“ – das fühlte sich richtig an. Es würde schon gut gehen. Ein Jahr später wurde ich geboren, bald kamen noch zwei jüngere Schwestern dazu.

Aber es ging nicht alles gut. Ruth hatte die Altlasten ihres Mannes vollkommen unterschätzt. Bald stellte sich heraus, dass seine erste Frau noch lebte, tatsächlich starb sie sogar erst zwei Jahre nach ihm. Sie hoffte bis an ihr Lebensende, dass Firmin-Peter zu ihr zurückkehren würde. So sagt es jedenfalls Hilde, meine 95-jährige Halbschwester in Brügge. Sie ist nicht gut auf unseren Vater zu sprechen, fand ihn tyrannisch und jähzornig. Und sie hat ihm nie verziehen, dass er damals ihre Mutter mit seiner Sekretärin betrogen hat.

Der Jähzorn war geblieben. „Das ging gleich im ersten Ehejahr los“, erinnert sich meine Tante, „da flog schon mal die Bratpfanne durchs Treppenhaus“. Als Kinder haben wir erlebt, wie unser Vater, laut auf Flämisch fluchend, Tische und Stühle im Wohnzimmer umwarf und meine Mutter an den Haaren riss. Sie flüchtete sich weinend ins Schlafzimmer, wir rannten verängstigt hinterher und baten: „Mutti, lass dich doch scheiden.“ Bei einem dieser Wutanfälle ging mein Vater mit dem Brotmesser auf mich los. Ich floh in eine Ecke, hielt schützend den Arm über den Kopf, er schlug zu – die Narbe an meinem Ellenbogen sah man über Jahre. Meine Mutter sagt, sie hätte das nicht gewusst. Sie konnte mich nicht schützen. Eher war es so, dass ich oft das Gefühl hatte, ich müsse sie schützen und mich um sie kümmern. Denn oft ging es ihr schlecht, dann nahm sie Valium, um über die Runden zu kommen.

Meine Mutter war allerdings auch nicht gerade ein Muster an Diplomatie, sie stand meinem Vater nicht viel nach in puncto Eigensinn. Als er älter wurde, kränker, mehr von ihr abhängig, wurde es besser. Ihr Lehrerinnen-Gehalt bildete bald den Grundstock des Familieneinkommens. Sie sah es als Fügung: Was die Nazis ihr verwehrt hatten, machte Gott möglich. Ihren Wunschberuf Lehrerin konnte sie mit 40 Jahren doch noch erlernen und bis zu ihrer Pensionierung ausüben. Da gab es dann mehr und mehr friedliche Zeiten, Fürsorge, ja auch Zärtlichkeit. Man konnte sich mit ihm über so vieles unterhalten, Politik, Musik. Opernmelodien spielte er auswendig auf dem Klavier und gab uns Klavierstunden. Er besaß und kannte alle Shakespeare-Dramen, die klassische und die einschlägige modernere Literatur, Fallada, Ibsen, George Bernhard Shaw. Und er trauerte oft darüber, dass er in dem Dorf in der Lüneburger Heide, wo wir lebten, so wenig Zugang hatte zu Opern, Konzerten, Theater. Wir machten Urlaub in Holland, da konnte er niederländisch sprechen. Und in Südfrankreich jedes Frühjahr – auch französisch sprach er gerne, seltsam eigentlich, wo er doch früher so gegen die französische Vorherrschaft in Belgien gekämpft hatte.

Ich weiß nicht, ob meine Mutter je den wahren Grund für das Todesurteil über meinen Vater erfahren hat. Und falls ja, wie hat sie, die von den Nazis Benachteiligte, das verkraftet? Ich selbst fand es erst heraus, als ich nach ihrem Tod die Papiere meiner Eltern sortierte: Kollaboration mit den Nationalsozialisten, las ich da. Mein Vater hatte wohl darauf gesetzt, dass sie die flämische Sache unterstützen würden. Aber, noch schlimmer: 1941 hatte er für die SS als Übersetzer gearbeitet. Ein Münchener Gericht erklärte das belgische Urteil 1953 für in Deutschland nicht rechtskräftig: Es sei gefällt worden, ohne die Verurteilten anzuhören, und habe nicht berücksichtigt, dass sie zu ihrer Tätigkeit gezwungen worden waren. Acht Jahre hatte mein Vater bis dahin als Illegaler unter falschem Namen in München gelebt. Nun konnte er das Versteckspiel endlich aufgeben und sich eine bürgerliche Existenz aufbauen. Nach Belgien zu reisen wagte er jedoch bis an sein Lebensende nicht mehr.

Leider ist meine Namens- und Halbschwester Luitgardis 2012 gestorben. Ich habe sie nie kennengelernt. Doch im Sommer 2012 habe ich mit meinem Mann zum ersten Mal einen Halbbruder in Gent besucht, der wie jene andere Luitgardis ein Kind von Adriana ist. Da bin ich noch einmal tief eingestiegen in die Schicksale meiner Halbgeschwister und ihrer Mütter. Ich war erschüttert und bedrückt. Doch am Morgen, bevor wir den Halbbruder besuchten, lasen wir die Losung: „Unser Gott wandte den Fluch in Segen.“ 5 Das traf den Nagel auf den Kopf, ging mir direkt ins Herz. Gott kann Schuld und schlimme Verstrickungen in Segen verwandeln. Und das gilt auch für schwierige Mutter-Tochter-Beziehungen. Für mich änderte dieser Bibelvers die Perspektive. Ich frage mich jetzt: Wo sind Gottes Spuren in der Geschichte mit meiner Mutter? Und was ist Gottes Aufgabe für mich, um diese Geschichte vielleicht anders und besser fortzuführen?

Starke Mütter - starke Töchter

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