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Eine verlassene Frau? – Die Perspektive wechseln

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Eine andere Geschichte schleppt Ute mit sich herum. Ihr geschiedener Mann hat sie vor 20 Jahren wegen ihrer besten Freundin verlassen und ist jetzt mit dieser verheiratet. Ute kann den beiden nicht vergeben. Das belastet auch ihre Tochter, die bei der Trennung 21 war. Die Verbitterung ihrer Mutter ist für sie schwer auszuhalten. Immer wieder muss sie sich die alten Geschichten anhören. Über den Mann, der ihr Vater ist und an den sie auch gute Erinnerungen hat. Beim Vaterunser lässt Ute die Bitte „Wie wir vergeben unsern Schuldigern“ immer aus.

Ute ist eine gewissenhafte Frau. Darum ist es schwer für sie, wenn andere sich scheinbar locker über Grenzen hinwegsetzen. Ihre Freundin hat ihr den Mann ausgespannt. Seit 20 Jahren trägt sie den beiden das nach.

Nach-tragen: Wenn man das wörtlich nimmt, wer trägt denn da die Last? Es ist so, als ob Ute einen schweren Stein hinter ihrem früheren Mann und seiner Frau herschleppt, ihnen den nachträgt. Die merken davon gar nichts. Ute selbst quält sich und müht sich ab mit der Last, wird krumm und gebeugt. Und auch die Tochter kriegt ihren Teil davon ab. Sie hat einerseits ständig Schuldgefühle und den Eindruck: Ich kümmere mich nicht genug darum, dass es Mutter besser geht. Und andererseits empfindet sie Wut und ärgert sich, dass ihre Mutter es sich so schlecht gehen lässt und alle Aufmunterungsversuche nicht helfen.

Wie wir vergeben unsern Schuldigern – Vergeben würde bedeuten, den Stein wegzuschmeißen, der auf Utes Seele lastet und sie bitter macht. Sich von dem Stein befreien geht leichter, wenn Ute an die schönen Seiten in ihrem Leben denkt. An alles, was gut lief und wofür sie dankbar sein kann: zwei gesunde Enkelkinder, einen Beruf, der ihr Freude macht, nette Nachbarn und Freunde. Es ist nicht Schicksal, sondern Utes Entscheidung, aus welchem Blickwinkel sie ihre Geschichte erzählt.

Ich denke an eine vor Kurzem verstorbene 87-Jährige, die bereits im zweiten Ehejahr mit gerade geborenem Kind von ihrem Mann verlassen wurde. Sie hat nie wieder geheiratet und bis zu ihrem Tod über sich gesagt: „Ich bin eine verlassene Frau.“ Was für eine niederschmetternde Selbstwahrnehmung. Und was macht das mit der Tochter, wenn ihre Mutter sich nur aus dieser Perspektive sieht? Es gäbe über diese Frau und auch über Ute sicher mehr und Wertschätzenderes zu berichten. „Ich bin eine gute Mutter. Eine liebevolle Oma. Eine beliebte Nachbarin. Eine zuverlässige Kollegin und Freundin. Ich habe ein erfülltes Leben, auch ohne Mann.“

Sicher, es ist beeindruckend, wie gewissenhaft Ute mit dem Vaterunser umgeht. Aber hilft das, so ein amputiertes Vaterunser? Wie fühlt es sich an, wenn man es betet und diesen Satz auslässt: „Wie wir vergeben unsern Schuldigern“? Da hegt und pflegt man doch die Verbitterung bei jedem Gebet. So kann sie munter weitergedeihen und ihr Gift ins Gemüt träufeln lassen.

Auch wenn Utes Seele anfangs noch nicht hinterherkommt: Vielleicht sollte sie probieren, das Vaterunser wieder vollständig zu beten. Manchmal stellt man dann fest, dass man da hineinwächst, nach und nach. Die Wirkung dieses Gebets würde nicht nur Ute, sondern auch ihre Tochter von einer schweren Last befreien. Sie beide könnten selbstbewusster und mit geradem Rücken durch die Welt gehen. Und die Tochter muss nicht Mutters Jammern seufzend ertragen und dagegen ankämpfen, sondern sie wird stolz auf ihre Mutter sein. Denn ihr wurde zwar übel mitgespielt, aber sie hat sich nicht unterkriegen lassen. Sie ist gelassen und großmütig und macht das Beste aus ihrem Leben. Und eines Tages, vielleicht bei der Hochzeit des Enkelkindes, kann Ute mit ihrem früheren Mann und dessen Frau auf das junge Paar anstoßen.

Starke Mütter - starke Töchter

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