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Kapitel 9
ОглавлениеIch nahm Frau Mattheis sanft am Arm und zog sie behutsam von der Straße zu einer niedrigen Mauer, die einen kleinen Platz mit einem Kruzifix einrahmte.
»Setzen Sie sich bitte«, bat ich sie freundlich. Zuerst kam sie meiner Aufforderung nach, sprang dann aber sofort wieder auf. Sie sah sich aufgewühlt um, als suchte sie nach jemandem.
»Meine Schwester«, murmelte sie aufgelöst. »Wo ist meine Schwester?«
Mir schwante mit einem Mal, wessen Leiche die Feuerwehr im Haus gefunden hatte. Ich sah kurz zu Gerd und gab ihm stumm zu verstehen, dass ich Hilfe benötigte.
»Es tut mir sehr leid, was hier passiert ist. Sicher, das ist eine große Tragödie für Sie«, sagte ich, selbst leicht überfordert. Es war das erste Mal, dass ich einer solchen Situation steckte. Ich hielt Frau Mattheis fest und hinderte sie daran, auf die andere Straßenseite zu gehen. »Warten Sie! Es ist besser, wenn Sie hierbleiben.« Sie sah mich mit einem verständnislosen Blick an.
»Wieso? Was ist? Wer sind Sie überhaupt?«
»Mein Name ist Peter Kampmann. Ich bin von der Kriminalpolizei.«
Sie stutzte. »Krimi…? Wieso?«
»War Ihre Schwester Zuhause?«, fragte ich ruhig.
»Ja, natürlich. Ich muss unbedingt wissen, ob es ihr gut geht.« Sie versuchte energisch, sich aus meinen Griff zu befreien. Aber ich hielt stand.
»Frau Mattheis, bitte! Es kann sein, dass sich Ihre Schwester im Haus befand, als es abgebrannt ist«, sagte ich gerade heraus, was mir aber alles andere als leicht fiel.
Sie wollte etwas erwidern, doch sie brachte kein Wort über die Lippen. Ich sah die Panik in Ihren Augen erneut aufflackern.
»Bitte, setzte Sie sich! Sie helfen uns und vor allem sich selbst, wenn Sie versuchen, ruhig zu bleiben. Wir müssen zunächst klären, was passiert ist.« Ich drückte sie wieder auf die Mauer und sie ließ mich gewähren. Blume kam nun mit zwei Sanitätern herbei geeilt.
»Kümmern Sie sich um sie, sie hat einen Schock«, sagte ich zu den Männern vom Roten Kreuz.
Dann zog ich Gerd etwas von ihr weg. »Das ist Frau Mattheis«, erklärte ich ihm leise. »Es ist ihr Haus.«
»Besser: War«, entgegnete Blume. »Aber wer war dann im Haus? Ihr Mann?«
»Die Schwester, wie es aussieht.«
»Oh, verdammt«, murmelte Gerd, kratzte sich am Kinn und sah mich an, als hätte er gerade eine Eingebung gehabt. »Und wenn das Mädchen ihre Tochter war…«
»Wir müssen Sie fragen!«, sagte ich entschlossen, auch wenn ich wusste, dass der Zeitpunkt nicht ungünstiger hätte sein können. Ich wartete einen Moment und beobachte, wie die Sanitäter Frau Mattheis behutsam zum Krankenwagen führten. Der eine nahm ihr den Mantel ab, setzte sie auf die Einstiegskante und sie rollte träge ihren linken Blusenärmel hoch. Der andere holte eine Manschette und legte sie um ihren Oberarm, um den Blutdruck zu messen. Dabei sprach er immer wieder beruhigende Worte. Mir war sehr unwohl bei dem Gedanken, sie erneut aufregen zu müssen. Aber mir blieb keine andere Wahl. Ich zog den Umschlag aus meiner Tasche und eines der Bilder der Sofortbildkamera heraus. Mit zwei Fingern deckte ich das Gesicht des toten Mädchens ab und hielt das Foto dann hinter meinem Rücken. Mit einem ziemlich dicken Kloß im Hals trat ich näher, während sie sich gerade den Ärmel wieder herunterstreifte.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte ich, mit einem steifen Lächeln auf den Lippen. Frau Mattheis starrte ins Leere.
»Blutdruck neunzig zu fünfzig«, ließ mich einer der Rotkreuzler wissen. »Sie sollte sich auf jeden Fall hinlegen.«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Es ist so furchtbar. Wenn meine Schwester tot ist…«
»Noch können wir es nicht mit Bestimmtheit sagen«, entgegnete ich und war bemüht, ein wenig tröstend zu klingen. »Wohnen Sie zusammen mit ihr in dem Haus?«
»Nein. Sie war zu Besuch. Sie sollte sich um Karin kümmern, während meiner Nachtschicht.«
»Karin ist Ihre Tochter?«, fragte ich und hatte mit einem Mal ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend.
Plötzlich sah Frau Mattheis ruckartig auf und sprang in der nächsten Sekunde von ihrem Platz. »Oh Gott, was sage ich ihr, wenn sie nach Hause kommt?«, murmelte sie gedankenversunken und lief aufgeregt vor dem Wagen umher, die Finger vor sich verschränkt. »Wie soll ich ihr das alles nur beibringen?«
Ich bemühte mich, sie mit Gesten und in beruhigendem Ton wieder zu besänftigen. »Wir werden Ihnen in jeder Weise helfen«, sagte ich und fragte direkt: »Wo geht ihre Tochter zur Schule?«
»Hier in Arnsbach.«
»Wie alt ist sie?«
Jetzt bedachte mich Frau Mattheis mit einem gleichermaßen argwöhnischen wie ängstlichen Blick. »Warum wollen Sie das wissen?«
Ich räusperte mich, doch der Kloß saß fest in meinem Hals. Meine Stimme war rau, als ich ihr antwortete: »Heute Morgen wurde im Wald bei Rod am Berg ein Mädchen tot aufgefunden.«
Ihre Augen weiteten sich. Ein paar Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, sah sie mich nur verständnislos an. Dann erst schien das Gesagte bei ihr angekommen zu sein. Sie fragte nur: »Was?«
Ich nickte. »Wir konnten sie bisher nicht identifizieren.«
»Aber wie kommen Sie darauf, dass das meine… was hätte sie in Rod am Berg gesollt?« Die Frau lief mit einem Mal eilig los, die Straße entlang. Ich rannte sofort hinterher.
»Frau Mattheis, bitte!«, rief ich atemlos. »Wo wollen Sie hin?«
»Zu Schule! Ich muss wissen, dass es Karin gut geht!«
»Warten Sie!« Ich überholte sie und stellte mich ihr in den Weg. Nach wie vor hielt ich das Foto in meiner mittlerweile krampfenden Hand. Jetzt zeigte ich es ihr. »Erkennen Sie die Kleidung wieder?« Es war eine absolute Holzhammer-Taktik, aber ich wusste mir in dem Moment keinen anderen Rat mehr. Ich brauchte endlich Gewissheit.
Frau Mattheis schlug die Hände vors Gesicht. »Oh, nein! Lieber Gott, nein!«
Sie sank vor mir auf die Knie. Schnell ging ich in die Hocke, um sie aufzufangen, damit sie mir nicht mit dem Kopf auf dem Pflaster aufschlug.
»Was ist mit meiner Karin passiert? Wo ist sie?« Sie hielt sich an meiner Jacke feste, zog daran. Ich spürte, wie ihr Körper zitterte.
»Frau Mattheis, bitte beruhigen Sie sich! Atmen sie tief und gleichmäßig ein und aus.«
Die Frau war kurz davor, zu hyperventilieren. Ich sah auf, wollte nach den Sanitätern Ausschau halten, doch der sie begleitende Arzt hatte uns zum Glück schon gesehen und war auf dem Weg. Als wir gemeinsam versuchten, die vollkommen aufgelöste Frau aufzurichten, schlug diese wie wild um sich.
»Nein! Lasst mich! Ich muss zu meiner Karin!«
Wir hielten sie fest, mussten beide alle Kraft aufwenden, dass sie uns nicht auskam und womöglich in ihrem Zustand noch vor ein Auto lief.
»Frau Mattheis, das geht jetzt nicht. Bitte, sie müssen sich beruhigen!« Das sagte sich so leicht. Aber wenn diese arme Frau tatsächlich an einem Vormittag ihre Tochter, die Schwester und ihr Heim verloren hatte, welche größere Katastrophe hätte es für sie noch geben können?
»Ich gebe Ihnen etwas zur Beruhigung!«, sagte der Mediziner und klappte seinen Koffer auf. Er nahm ein kleines, braunes Schraubglas heraus, öffnete es und ließ zwei Kapseln in seine Hand gleiten. »Hier, schlucken Sie das!«
Frau Mattheis schüttelte den Kopf und versuchte weiterhin, sich aus meinem Griff zu befreien.
»Ich will nichts! Ich muss zu Karin!«
Ich wünschte in diesem Moment, er hätte ihr eine Spritze geben können, damit sie sich endlich etwas beruhigte. Frau Mattheis bekam einen Weinkrampf und ich fühlte, wie es sie wieder zu Boden zog. Sie gab ihre Gegenwehr auf. Ich steckte schnell das Foto in den Umschlag zurück und diesen in meine Jacke.
»Geben Sie sie mir!«, sagte ich und hielt dem Arzt die Hand hin. Er reichte mir die kleinen, weißen Kapseln und ich führte sie an den Mund der Frau. »Schlucken Sie das bitte! Dann geht es Ihnen gleich besser.«, Ich spürte, wie mir, trotz des kühlen Wetters, der Schweiß von der Stirn lief.
»Hier!« Der Arzt reichte mir noch eine kleine Glasflasche mit Wasser.
Ich war mir nicht sicher, ob die Frau überhaupt noch etwas mitbekam. »Bitte nehmen Sie die Medizin! Es ist wichtig!«, wiederholte ich energisch. Jetzt kam sie meiner Aufforderung nach. Ihre zitternde Hand nahm die Pillen und sie steckte sie sich in den Mund. Sie schluckte sie direkt herunter, ohne das Wasser. Dann hockte sie sich auf den Boden, die Beine vor sich angewinkelt. Sie krümmte sich, wie in einer Kugel, zusammen.
»Das wird rasch wirken. Dann werden Sie sich entspannen«, erklärte der Arzt.
Ich stand auf und wischte mir die Schweißperlen mit dem Jackenärmel ab. Beinahe war ich versucht, ihn zu bitten, mir auch ein paar von den Dingern zu geben.
»Passen Sie auf sie auf, ja?«, sagte ich stattdessen und klopfte dem Mann anerkennend auf die Schulter. Dann ging zu Blume, der gerade mit dem Brandobermeister sprach.
»Sie reißen den Dachstuhl ein, damit keine Einsturzgefahr mehr besteht«, setzte mich mein Assistent in Kenntnis.
»Wann können wir zu der Leiche?« In Gedanken malte ich mir den Grad der Zerstörung der Spuren aus, die mit dem Abriss des Daches einhergehen würden.
»Das ist eine Menge Holz und die Dachziegel kommen auch noch dazu«, sagte Klinger abschätzend. »Ein paar Stunden wird es sicherlich brauchen.«
Mein Assistent und ich wechselten einen stummen Blick. »Ich hatte gefunkt. Die Spurensicherung müsste gleich da sein«, sagte Gerd. »Sie sind in der Hütte fertig.«
Ich nickte verstehend und ging zu der Hausruine. Es roch stark nach verkohltem Holz und aus dem Hauseingang drang leichter Dampf nach draußen. Ich steckte meinen Kopf hinein und schaute mich um. Alles was ich sah, war schwarz und verbrannt: die Wände, die Deckenbalken, der Boden.
»Seien Sie bloß vorsichtig!«, sagte einer der Feuerwehrmänner. »Das kann jeden Moment wie ein Kartenhaus zusammenfallen.«
Ich dachte an die wertvolle Zeit, die verstreichen würde, bis die Leiche geborgen werden konnte. Und an den ganzen Schutt, unter der sie zunächst durch den Abriss des Dachstuhls begraben werden würde. Also traf ich eine Entscheidung.
»Haben Sie so einen Helm für mich?«, fragte ich den Mann und deutete auf seine Kopfbedeckung. Er sah mich unsicher an.
»Was haben Sie vor?«
»Ich werde da rein gehen!« Mein Blick verriet ihm, dass es keinen Sinn machte, mit mir darüber zu diskutieren. Andernfalls hätte ich es mir selbst vielleicht auch nochmal überlegt. Er eilte davon.
Ein Fahrzeug näherte sich und hielt an. Es war die Spurensicherung; genau zum richtigen Zeitpunkt.
»Betzdorf, geben Sie mir die Sofortbildkamera«, begrüßte ich den Leiter der SpuSi, kaum dass er die Wagentür geöffnet hatte. Er ging zur Heckklappe, öffnete erst diese und dann einen der silbernen Koffer, die dahinter verstaut waren. Er reichte mir den schwarzen Kasten und ich steckte meine Hand durch die Schlaufe.
»Hier, die auch«, sagte Betzdorf und schob einen Blitzwürfel auf den Metallschuh auf der Oberseite. Zwei weitere gab er mir in die andere Hand und ich steckte sie in meine Hosentasche.
»Danke! Wie viele Fotos kann ich machen?«
»Zehn. Ist leider auch die letzte Kassette. Wir wussten ja nicht, dass es heute gleich drei Einsätze am Stück gibt.« Keiner von uns hätte das ahnen können und entsprechend erschöpft wirkten Betzdorf und seine Kollegen bereits jetzt.
Als ich wieder zum Hauseingang kam, waren Blume und Klinger schon dort. Der Oberbrandmeister hielt einen Helm in der Hand und reichte ihn mir.
»Das ist Wahnsinn, was Sie da vor haben!«, erklärte der Mann brummig. »Sie haben doch keine Ahnung, wie man sich da verhalten muss. Worauf man achten muss.«
Gerd stimmte ihm zu. »Herr Kommissar, er hat Recht! Sie können da drin umkommen!«
»Zur Kenntnis genommen!« Ich zog den Umschlag mit den Fotos aus der Tasche und drückte sie dem verdutzten Gerd in die Hand. »Hier. Passen Sie darauf auf, bis ich zurück bin!« Dann setzte ich den Helm auf, nahm ihn nochmal ab, justierte ihn auf meine Kopfgröße und setzte ihn wieder auf. Ich atmete einmal tief durch und betrat das Haus.