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Kapitel 10

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Die Luft war stickig vom Rauch und feucht vom Löschwasser. Der Geruch erinnerte mich an den eines erkalteten Lagerfeuers. Ich musste mehrfach husten, aber es war glücklicherweise genug Sauerstoff vorhanden, der mich halbwegs normal atmen ließ. Ich stand in einem schmalen Korridor, von dem drei Türen und eine steile Treppe ins Obergeschoss abgingen. Oberbrandmeister Klinger war davon ausgegangen, dass das Feuer an einer zentralen Stelle ausgebrochen war. Und auch ich teilte seine Auffassung: Die Flammen schienen sich ihren Weg durch das Holz, den Lehm und alles andere brennbare von dem Raum aus gebahnt zu haben, dem ich mich nun näherte. Die schwarzen Brandspuren auf den Wänden sprachen hier eine klare Sprache, auch wenn ich kein Experte auf diesem Gebiet war. Ich schaute nach oben und musste dabei meinen nicht wirklich perfekt sitzenden Helm festhalten. Die Decke war hier zwar ebenfalls rußgeschwärzt, aber noch intakt. Zumindest hatte es den Anschein, denn die Geräusche um mich herum sagten mir, dass ich mich darauf besser nicht verlassen sollte. Überall knarrte und knirschte es. Das Holzskelett des alten Hauses schien sich mit aller Kraft gegen seinen Zusammenbruch zu wehren. Ich musste mich beeilen, wenn ich nicht lebendig begraben werden wollte. Jetzt schaute ich in den Raum vor mir. Es war die Küche, oder besser das, was davon noch übrig war. Der gusseiserne Herd hatte nichts abbekommen; er sah fast aus wie neu, war lediglich mit Ruß und ein paar Fetzen verkohltem Papier bedeckt. Ebenso der kleine Ofen in der Ecke. Ich machte einen Schritt nach vorne, zog aber meinen Fuß sofort wieder zurück. Die Bodendielen, die unter dem, zum größten Teil geschmolzenen, Linoleum zu erkennen waren, waren sehr stark vom Feuer angegriffen worden. Von außen hatte ich ein Kellerfenster gesehen; demnach konnte der ganze Raum ein Stockwerk tiefer fallen, wenn ich mich nicht vorsah. Wieder schaute ich nach oben. Oh ja, hier in der Küche musste der Brandherd gelegen haben. Ein Teil der kohlrabenschwarzen Decke war eingestürzt. Geborstenes Holz und Estrich formten ein Loch in der Zimmerdecke und legten die Stützbalken frei. Darüber lag das teilweise zusammengefallene Dach, durch das ich bis in den wolkenverhangenen Himmel sehen konnte. Vereinzelt fielen Tropfen des Löschwassers von der Decke. Ich kam mir vor, wie in einem brandgerodeten Dschungel nach einem Regenguss. Vor mir tat sich ein heilloses Durcheinander auf. Ich erkannte die Anrichte, einen altmodischen Küchenschrank, den Kühlschrank, sowie, in der Mitte des Raums, einen Tisch und mehrere Stühle, die teilweise von Trümmern begraben waren. Der Rest war größtenteils bis zur Unkenntlichkeit zusammengeschmolzenen und mit Schutt, Estrich und verkohltem Papier bedeckt. Alles glänzte feucht vom Löschwasser.

Ich nahm die Kamera, schaute kurz, wo der Auslöser war, und blickte dann durch den Sucher. Ein Blitz erhellte für einen Sekundenbruchteil die Szenerie, als ich abdrückte. Ich hatte ein erstes Foto geschossen, das ich gleich in meine Jackentasche stopfte. Es würde eindeutig zeigen, dass der Ursprung des Feuers hier in der Küche gelegen hatte. Ein Fachmann würde das sicher belegen können. Es gab natürlich auch diverse Quellen, die es ausgelöst haben konnten: ein Fettbrand, ein defektes, elektrisches Gerät, vielleicht eine unachtsam aufgestellte Kerze. Doch mein Bauch sagte mir, dass das Feuer kein Unglück gewesen war. Mit dem toten Mädchen im Hinterkopf, das in eben diesen Räumen gelebt hatte und das am Morgen getötet worden war, konnte das einfach kein Zufall zu sein. Hatte es möglicherweise jemand auf die Familie Mattheis abgesehen?

Das Knarren und Knacken war hier in der Küche besonders laut und bedrohlich. Dazu noch das stetige Tropfen. Ich musste einen Zahn zulegen, damit ich schnell wieder hier raus kam und dieses unablässig wachsende, klaustrophobische Gefühl in mir loswurde. Mein Blick wanderte weiter über den Boden und versuchte, jedes noch so kleine Detail in dem Chaos zu analysieren. Und dann sah ich sie; die Füße einer Person. Sie ragten unter einem Stück Holz hervor, an dem noch ein Teil des Bodenbelags vom oberen Stockwerk hing. Die Tote lag auf dem Bauch; sie trug Schuhe, möglicherweise Pantoffeln. Ich konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen, da ihre Extremitäten den heruntergebrannten Holzscheiten in einem Kamin glichen. Ich richtete die Linse der Kamera aus und machte ein weiteres Foto. Es zeigte die Füße und einen Teil der Unterschenkel der Leiche. Der Rest ihres Körpers war, bis auf den rechten Unterarm, unter dem Schutt der eingestürzten Decke begraben. Da es sich eindeutig um eine Frau handelte, ging ich davon aus, dass ich die Schwester von Frau Mattheis vor mir hatte.

Es drängte mich, näher an sie heranzugehen, um noch Detailaufnahmen zu machen. Aber das allgegenwärtige Knarren um mich herum, das wie das Innere eines alten Holzkahns klang, der über tosende Wellen schipperte, hielt mich zurück. Und ich hatte den Eindruck, dass es fortwährend lauter und warnender wurde. Das Gefühl des erdrückt werdens im mir wuchs im selben Maß weiter; ich kannte so etwas sonst gar nicht von mir. Aber ich hatte es mir schließlich alleine eingebrockt.

Aus der Ferne besah ich mir den Arm der Toten, der auf dem verrußten Boden ruhte. Die Haut war verkohlt und aufgeplatzt wie eine Bratwurst, die man auf dem Grill vergessen hatte.

»Wie neulich am Imbiss in der Saalburgstraße.«

Die Hand war zu einer Faust geschlossen; sicher eine Reaktion des Körpers auf die unsäglichen Schmerzen, die die Frau hatte erleiden müssen. Es sei denn natürlich, sie war vor Ausbruch des Feuers bereits tot gewesen. Und ich gab dieser Möglichkeit Raum.

Aber was war das? Ich kniff die Augen zusammen, klammerte mich an den Türsturz und beugte mich so nahe an die Tote heran, wie es ging. Nein, ich hatte mich nicht geirrt: Ihre Hand hielt etwas umklammert. Es war länglich und abgerundet; eine Art Stift vielleicht. Es kribbelte mir in den Fingern und den Beinen; ich hätte mir dieses Objekt zu gerne aus der Nähe angesehen. Immerhin hätte es möglicherweise Aufschluss darüber geben können, was hier passiert war. Ich überdachte meine Optionen und kam zu dem Schluss, dass ich keinesfalls noch mehrere Stunden warten wollte, bis ich Gewissheit hatte. Zudem würden durch den Abbruch des Dachstuhls noch mehr Spuren vernichtet werden. Die eingestürzte Zimmerdecke und das Löschwasser waren schon fatal genug gewesen. Ich nahm die Kamera fest an ihrem Ledergurt und löste meine andere Hand von der Zarge der Tür. Mein rechter Fuß suchte sich einen Punkt auf dem Boden. Ich schluckte und spürte neuerliche Schweißperlen, die sich auf meiner Stirn bildeten. Vorsichtig trat ich auf. Die Holzdielen unter den Resten des sich wellenden Linoleums ächzten leise, gaben aber nicht nach. Behutsam verlagerte ich mein gesamtes Gewicht auf das Bein. Der Boden schien zu halten, also holte ich den linken Fuß nach. So weit, so gut. Jetzt trennten mich noch knapp zwei Meter von der Leiche. Der Weg vor mir war komplett mit Schutt bedeckt und ich vermochte schlecht abzuschätzen, wie stabil die Dielen waren, da ich sie nicht sehen konnte. Erneut wischte ich mir den Schweiß an meiner Jacke ab. Auch wenn es inzwischen sicher nicht heißer geworden war, kam es mir so vor, als wäre die Temperatur in dem Raum um ein paar Grad gestiegen. Es war aber alleine mein Kopf, der mir aufgrund der extremen Situation einen Streich spielte. Ein lautes Knacken ließ mich zusammenzucken. Ich vergrub den Kopf zwischen meinen Schultern und verharrte so für ein paar Sekunden. Dann warf ich einen bangen Blick über mich: Ein wenig Staub rieselte aus dem Loch in der Decke auf mich herunter. Ich atmete tief aus.

»Solange es nur bei Staub bleibt, soll es mir recht sein.«

Jetzt schaute ich wieder nach vorne und suchte mir eine Stelle aus, auf die ich meinen nächsten Schritt setzen konnte. Ganz vorsichtig bewegte ich mein rechtes Bein und trat auf. Das Ächzen unter mir war lauter als beim letzten Schritt, dennoch verlagerte ich nun mein Gewicht auf den Fuß, um das zweite Bein nachzuholen. Das Konglomerat aus Estrich, Holz und verbranntem Hausrat war uneben und gab nach, aber ich fand ins Gleichgewicht und erreichte einen einigermaßen festen Stand. Jetzt befand ich mich genau vor dem aus dem Trümmerberg herausragenden, schwarz verkohlten Arm. Ich ging in die Hocke und beugte mich vor.

»Verdammte Scheiße!« Der Anblick war, so aus der Nähe, noch viel abstoßender. Ich nahm die Kamera, richtete sie aus und schoss ein Foto. Dabei achtete ich darauf, dass die Hand der Toten mit drauf war, die dieses unbekannte Etwas umklammert hielt. Unter dem Ruß schimmerte es ein wenig, fast golden. Es war länglich, hatte eine Zylinderform und eine kleine Vertiefung in der Mitte. Ich ahnte plötzlich, was es war. Und jetzt war ich mir, mehr als je zuvor, darüber im Klaren, dass ich mich hier am Schauplatz eines Verbrechens befand und dieses unmittelbar mit dem Tod der kleinen Karin in Zusammenhang stehen musste. Ich tat das Sofortbild zu den anderen in meiner Jacke, stellte vorsichtig die Kamera auf den Boden und streckte die Hand aus. Ich musste mich ein Stück zur Seite beugen, um die Hand der Toten zu erreichen. Der Helm rutschte mir vor die Augen und ich schob ihn zurück. Mit Daumen und Zeigefinger zog ich nun an dem Metallobjekt. Doch es rührte sich nicht; stattdessen bewegte sich der ganze Arm der Toten aus seiner Position. In diesem Moment lief mir ein Schweißtropfen direkt bis auf die Lippen und ich fing die salzige Flüssigkeit mit der Zunge auf. Ich holte tief Luft und versuchte es noch einmal. Diesmal nahm ich noch den Mittelfinger zu Hilfe, um die Hand der Leiche in Position zu halten. Es war ein abstoßendes Gefühl, die tote, verkrustete Haut zu spüren. Frau Mattheis‘ Schwester schien das kleine Objekt für sich behalten zu wollen, denn ich musste wirklich viel Kraft aufwenden. Dann, mit einem Mal, hielt ich es in meinen Händen. Aber ich schaffte es nicht, die Balance zu halten: Mein Oberkörper fiel nach hinten und ich konnte mich gerade noch mit dem rechten Ellenbogen am Boden abfangen.

Plötzlich wurde es laut um mich herum. Es knackte und knirschte und dann spürte ich, wie der Fußboden unter mir wegsackte. Der herumliegende Schutt stürzte auf mich ein und zusammen wurden wir, wie in einem Strudel, abwärts gezogen. Ich schlug die Arme vors Gesicht, um mich vor den umherfliegenden Trümmern zu schützen. Die Patrone hielt ich dabei fest in meiner Hand umklammert.

Mutterschmerz

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