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Kapitel 3

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Ich war der Neue. Gerade frisch zum Kriminalkommissar ernannt, hatte ich die erste freie Stelle angetreten, die verfügbar gewesen war. Sie befand sich jedoch nicht in Frankfurt, dort wo ich mir den Dienstgrad erworben und auch gelebt hatte, sondern in Bad Homburg, im Taunus. In der Provinz. Aber diese Vorstellung störte mich wenig; im Gegenteil. Ich betrachtete das fremde Arbeitsumfeld als aufregendes Neuland; als exotisches Gefilde. Denn ich wusste zwar, wie die Leute in der Großstadt tickten, aber eben nicht, was mich dort erwarten würde.

Ich stammte aus einer ganz durchschnittlichen Familie. Mein Vater betrieb bis kurz nach Ausbruch des Kriegs eine Apfelweinwirtschaft in Sachsenhausen, meine Mutter war einfache Hausfrau. Ich hatte zwei ältere Brüder, die beide bei der IG Farben arbeiteten, sowie eine zwei Jahre jüngere Schwester, die in Gießen glücklich verheiratet war und inzwischen vier Kinder ihr eigen nannte. Ich selbst war zur damaligen Zeit Junggeselle und auch nicht traurig über diesen Zustand. Meine noch junge Karriere stand bei mir klar an erster Stelle. Zudem hatte es bis dato auch nur wenige Kandidatinnen gegeben, die für eine Ehe auch nur ansatzweise in Frage bekommen wären. So war die einzige Frau in meinem Leben, seit meinem Umzug nach Bad Homburg, meine Pensionswirtin.

Die ersten Tage in der neuen Dienststelle verbrachte ich damit, mich mit den Kollegen zu beschnuppern. Sie waren alle sehr nett zu mir und auch mein Vorgesetzter, Kriminaloberrat Degener, freute sich sichtlich über das frische Blut in seinem Laden.

Während größere Aufgaben noch auf sich warten ließen, begann ich, mich in ein paar alte Fälle einzulesen. Es gab nichts wirklich Weltbewegendes, bis auf einen unaufgeklärten Mord, und auch der lag bereits zwei Jahre zurück: Eine dreiundzwanzigjährige Frau namens Ingrid Troglauer war im Homburger Ortsteil Kirdorf, nahe ihrem Elternhaus, erdrosselt in einem Feld aufgefunden worden. Die Ermittlungen waren recht schnell ins Stocken geraten und so hatte mein Vorgänger den Fall, als er in Pension gegangen war, an seinen Nachfolger übergeben; mich. Ich kannte inzwischen alle Fakten, stand aber noch ganz am Anfang.

Natürlich war ich mit meinen neunundzwanzig Lenzen ein ehrgeiziger junger Bursche, aber das wollte ich nicht so herauskehren. Schließlich konnte man sich mit zu viel Engagement schnell unbeliebt machen. Entsprechende Erfahrungen hatte ich zur Genüge während meiner Schulzeit sammeln dürfen. Schon damals hatte ich den Hang dazu gehabt, mich für die schwächeren Mitschüler einzusetzen, notfalls auch körperlich. Das hatte mir erwartungsgemäß nicht nur Ehrungen eingebracht, sondern auch jede Menge blauer Flecke, eine gebrochene Nase und Schelte seitens des Lehrkörpers und meiner Eltern. Während der Ausbildung habe ich dann, dank eines gleichermaßen strengen wie gütigen Mentors, gelernt, weniger stürmisch vorzugehen.

Ich hatte auch einen Assistenten in Bad Homburg, der mich bei meiner Arbeit unterstützte. Er hieß Gerd Blume, war Kriminalobermeister, spindeldürr, zwei Jahre jünger und fast einen Kopf größer als ich. Er war verheiratet und hatte drei Kinder. Wir verstanden uns von Anfang an prächtig. Ich bewunderte seinen Scharfsinn und seine schnelle Auffassungsgabe. Allenfalls hätte ihn mir ein wenig lockerer gewünscht. Während ich beispielsweise Jeanshosen und Karohemden bevorzugte - vielleicht das einzige Überbleibsel aus meiner rebellischen Vergangenheit - trug er stets Anzug und Krawatte. Aber er würde mit der Zeit und in meiner Gegenwart schon noch etwas auftauen, da war ich recht zuversichtlich.

Ich weiß noch genau, dass es ein Mittwoch war, als alles anfing, gegen acht Uhr morgens. Das Telefon in unserem kleinen Büro klingelte Sturm, als ich gerade das heiße Wasser aus dem pfeifenden Kessel in den Kaffeefilter schüttete. Ich ernährte mich damals praktisch nur von Kaffee, Zigaretten und dem, was man heute als Fast Food bezeichnet; abgesehen von einem ausgedehnten Frühstück in der Pension, auf das meine Wirtin bestand.

Hinter mir hörte ich, wie Gerd den Hörer abnahm. »Mordkommission, Kriminalobermeister Blume«, meldete er sich überkorrekt. Es folgte ein Gemurmel, das zu leise war, um es zu verstehen.

Gerd sagte, merklich überrascht: »Oh, verstanden. Wir sind unterwegs« und legte wieder auf.

Ich ahnte, dass ich meinen Kaffee nun nicht mehr bekommen würde.

»Herr Kampmann, wir müssen nach Rod am Berg«, verkündete er auch sogleich und erhob sich aufgeregt von seinem Stuhl, als hätte ihm etwas in den Hintern gebissen.

»Was ist los?«

»Das waren die Kollegen aus Usingen. Man hat im Wald die Leiche eines kleinen Mädchens gefunden.«

Mir war in diesem Moment nicht klar, ob Blumes Anspannung daher rührte, dass es einen Mord gegeben haben könnte oder der Tatsache, dass ein Kind das Opfer war. Als Vater reagierte man sicher sensibler auf so etwas. Zudem fehlte ihm die Großstadterfahrung, wie ich sie hatte, bei der man so ziemlich alles Denkbare und Undenkbare schon einmal erlebt hat.

»Rufen Sie alle zusammen! Wir treffen uns dort!«, sagte ich, stellte den Wasserkessel zurück auf die kleine Herdplatte und schaltete sie aus.

»Die Spurensicherung ist bereits verständigt worden.«

Ich nickte verstehend und wir liefen beide zur Garderobe. »Wo ist Rod am Berg?«, fragte ich, während ich meine hellbraune Wildlederjacke, ob des zu erwartenden, kühlen Herbstwetters, bis zum Hals zuknöpfte.

»Das liegt etwa fünfzehn Kilometer von hier. Ein kleines Kaff. Ich glaube, nicht mehr als dreihundert Einwohner.«

Gerd kannte sich sehr gut im Taunus und auch in der Wetterau aus; er hatte viele Verwandte, die praktisch über ganz Hessen verteilt waren und die von ihm und seiner Familie regelmäßig besucht wurden. Ein reiner Albtraum für meinen Geschmack. Zumindest aber brauchten wir so keinen Straßenatlas zu bemühen.


Blume fuhr uns in unserem Dienstwagen, einem Opel Kadett A, zielsicher Richtung Rod am Berg. Er hatte, entgegen seinem sonstigen Gebaren, einen recht ruppigen Fahrstil, wie ich inzwischen hatte erfahren dürfen. Zudem war er meistens auch zu schnell unterwegs. Aber ich beschwerte mich nicht; insbesondere nicht heute, denn ich wollte zügig zum Tatort gelangen. Es kribbelte mir in den Extremitäten, bei dem Gedanken an meinen ersten, eigenen Fall in meiner neuen Position. Nichts Abgestandenes, Aufgewärmtes; Ingrid Troglauer hin oder her.

»Was haben die gesagt?«, fragte ich, während ich mir eine Zigarette anzündete.

Gerd zuckte mit den Schultern. »Ein Wanderer hätte ein totes Mädchen gefunden. Und es sei wohl kein Unfall gewesen. Das Gesicht soll ziemlich übel zugerichtet sein.«

»Hm.« Der Anblick eines blutigen Kindergesichts formte sich vor meinem geistigen Auge, während ich den blauen Dunst der HB in Richtung Wagendach blies. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht wissen, dass meine Fantasie nicht ausreichte, um annähernd den Anblick dieses Mädchens zu beschreiben.

Während Blume den Wagen über die wenig befahrene Straße lenkte, versuchte er sich in leichter Konversation. »Was sagen Sie denn dazu, dass Adenauer zurücktritt?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Dazu habe ich keine Meinung.« Tatsächlich interessierte ich mich nicht wirklich für Politik, hatte ich auch noch nie. Sie hatte noch keine zwanzig Jahre zuvor Deutschland in Schutt und Asche gelegt und sie mir dadurch auch nicht wirklich näher gebracht. »Es wird schon ein guter Mann nachrücken«, sagte ich nur gleichgültig.

»Dieser Erhard, den die FDP seit zwei Jahren anpreist wie sauer Bier, muss mich erst noch überzeugen.«

»Wer?«

Blume lachte amüsiert. »Sie lesen doch jedem Morgen Zeitung und kennen sich so wenig aus?«

»Ich lese immer nur die lokalen Nachrichten, das Feuilleton und den Sport«, erklärte ich ihm. Und das stimmte. Die Zeilen der Taunus Zeitung, früher der Rundschau, waren nur dann für mich interessant, wenn es um Dinge ging, die unmittelbar um mich herum passierten, seien sie für meine Arbeit von Interesse oder für meinen kulturellen Anspruch. Letzterer bestand für mich zu dieser Zeit überwiegend aus Beat-Musik und Kinobesuchen. Zudem las ich noch die Fußballergebnisse. Mehr brauchte ich nicht und ich hatte auch nie das Gefühl gehabt, etwas zu verpassen.

Nach etwa zwanzig Minuten hatten wir zwei kleine Ortschaften durchfahren und die Straße ging bergauf. Ich las den Namen auf der gelben Ortstafel, die schnell an uns vorbei huschte: Rod am Berg. Links standen ein paar Häuser beisammen, welche das Dorf bildeten; rechts war alles grün von Feldern und Bäumen, soweit das Auge reichte. Die Szenerie wirkte insgesamt recht blass, was wohl an der fehlenden Sonne lag; dicke Wolken hielten ihre Strahlen weitestgehend fern.

»Wissen Sie genau, wohin wir müssen?«, fragte ich und hielt Ausschau.

»Ungefähr«, sagte Blume und nickte kurz darauf voraus. »Ich schätze, da sind wir richtig!«

Er hatte Recht: Zwei Dienstwagen, ein Bulli und ein Käfer, standen an einem Abzweig, der rechter Hand in Richtung Wald führte. Unmittelbar an der Straße kickten drei Halbstarke einen Fußball hin und her. Blume lenkte unseren Wagen um sie herum auf den unebenen Weg und hielt hinter dem Käfer. Wir stiegen aus und ich setzte meinen ersten Schritt direkt in eine kleine Pfütze.

»So eine Scheiße!«, fluchte ich leise. Ich trug die braunen Lederschuhe, die ich mir erst vor ein paar Tagen, anlässlich meines Amtsantritts, gekauft hatte. »Es wird wohl bald noch ein weiteres Unglück geben«, dachte ich bei mir im Hinblick auf die Reaktion meiner Wirtin, die sie würde säubern dürfen. Ich schaute zu den Halbstarken; allesamt sicher nicht älter als sechzehn. Sie hielten sich ganz offensichtlich nur aus reiner Neugier hier auf. Ich lief zu ihnen rüber, grüßte sie und fragte: »Habt ihr irgendwas gesehen?«

»Wir? Nö«, antwortete einer der drei Jungen, während er den Ball seinem Kollegen zupasste. Er war der größte von ihnen, trug eine schwarze Lederjacke mit vielen Riemen, eine Jeanshose und hatte eine von Pomade glänzende Elvis-Tolle.

Genau diese Antwort hatte ich erwartet. »Könnt ihr dann bitte woanders weiterspielen?«

»Sind Sie Polizist?«, kam die Gegenfrage.

»Allerdings.« Ich erntete einen kritischen Blick, der mich von oben bis unten musterte. Da es erst Viertel vor neun Uhr morgens war, fragte ich: »Habt ihr keine Schule?«

»Ist ausgefallen«, kam die gleichgültige Antwort; sicher eine Lüge. »Sie sehen gar nicht aus, wie von der Polizei.«

»Muss ich auch nicht.« Ich öffnete meine Jacke und ließ die Burschen einen Blick auf den Pistolenholster mit der meiner Dienstwaffe erhaschen. »Aber ich hab die hier. Und wenn ihr damit keine nähere Bekanntschaft machen wollt, rate ich euch, jetzt zu verduften.«

Das saß. Die beiden anderen, ein schmächtiger Junge mit Akne und ein leicht kräftiger mit erstem Bartflaum unter der Nase, zerrten ihren Rädelsführer an der Jacke. »Komm, lass uns abhauen.« Murrend folgte der er seinen Freunden. Sie liefen, sich den Ball gegenseitig zupassend, an der Straße entlang und entfernten sich von Rod am Berg.

Ich kam zu Blume zurück, den mein Auftritt sichtlich amüsiert hatte. »Gut gemacht«, lobte er. »Fast wie John Wayne.«

Ich winkte ab. »Ach, hören Sie bloß auf!«

»Die wollten bestimmt zum Bolzplatz«, mutmaßte er und sah ihnen hinterher.

Jetzt gingen wir zu dem tannengrünen Polizeibus, dessen Seitentür offen stand. Auf der Sitzbank im Heck hockte ein stämmiger Mann in Anzug und Mantel. Er hatte ein ausgeprägtes Doppelkinn, fast keinen Hals und trug eine Brille mit breitem, schwarzem Gestell auf seiner dicken Nase. Er schien mir, nicht zuletzt aufgrund seiner Kleidung, gut situiert zu sein; ein Fremdkörper in dieser ländlichen Umgebung. Ihm gegenüber saß ein junger, uniformierter Beamter. Beide tranken dampfenden Kaffee aus Metallbechern. Auf dem schmalen Tisch zwischen ihnen stand eine Thermoskanne.

Der Polizist nahm eine steife Haltung an, setzte seine Dienstmütze auf und grüßte uns. »Guten Morgen.«

Ich erwiderte den Gruß und zeigte meine Marke. »Kampmann, Kripo Bad Homburg. Das ist mein Kollege Blume.«

»Polizeimeister Werner von der Wache in Usingen«, stellte sich der blondgelockte Beamte, er konnte nicht älter als fünfundzwanzig sein, vor. »Die Leute von der SpuSi und ein Krankenwagen sind schon am Fundort«, erklärte er.

Ich nickte registrierend, sah zu dem Mann im Anzug und dann wieder zu Werner.

»Das ist Herr Schott«, stellte dieser sofort klar. »Er hat die Tote gefunden und uns dann telefonisch verständigt.«

Wir gaben uns die Hand; die von Herrn Schott war, entgegnen seiner kräftigen Statur, ziemlich schlaff, was aber an seiner aktuellen Gemütsverfassung liegen konnte. Sicher hatte ihm der Anblick der Toten einen Schock versetzt.

Auch Blume schüttelte ihm die Hand. »Guten Tag. Wie geht es Ihnen?«

Herr Schott verzog die Mundwinkel. »Etwas flau im Magen.« Seine Stimme hatte einen tiefen Bass.

»Danke, dass Sie sich nochmals herbemüht haben«, sagte ich. »Wir hätten Sie auch Zuhause aufsuchen können.« Das wäre mir wesentlich lieber gewesen.

Der Mann winkte ab. »Kein Problem. Sind doch nur ein paar Meter.«

»Demnach wohnen Sie hier in der Nähe?«

Er zeigte grob in die Richtung des Dorfes. »Direkt hier in Rod am Berg, im Bergweg.«

Ich deutete dem Polizisten Werner, aufzustehen. Wir tauschten die Plätze, er stellte sich neben Gerd.

»Was haben Sie im Wald gemacht?«, wollte ich wissen. Blume zückte sofort Notizblock und Bleistift.

»Meinen Morgenspaziergang mit dem Hund«, antwortete Herr Schott.

»Gehen Sie jeden Morgen diese Strecke?«

»Ja, fast immer. Eine halbe Stunde laufen, dann frühstücken.«

»Klingt gesund«, kommentierte ich wertfrei. Und schaden konnte es ihm bei seiner Leibesfülle sicher auch nicht. Er passte gerade so in die Sitzbank hinter dem Klapptischchen.

»Man tut, was man kann, nicht?«, erwiderte er schulterzuckend.

»Was machen sie beruflich?«

»Ich bin Rechtsanwalt. Für Familienrecht.«

»So? Wo haben Sie Ihre Praxis?«

»In Usingen.«

»Ist Ihnen heute Morgen bei Ihrem Spaziergang irgendjemand begegnet?«

Schott schüttelte den Kopf. »Nur zwei Rehe.«

Aus den Augenwinkeln kontrollierte ich, dass Blume auch alles schön mitnotierte, was er natürlich tat. »Wann genau haben Sie das Mädchen gefunden?«, fragte ich Schott als Nächstes.

»Es war kurz vor acht, als ich Zuhause ankam, um die Polizei zu rufen«, antwortete er sofort, ohne zu überlegen. »Davon müssen Sie noch die etwa fünfzehn Minuten abziehen, die ich vom Fundort nach Hause gebraucht habe.«

»Also circa zwanzig vor acht?«, rechnete ich aus. Zudem überlegte ich mir, was das für ein bequemes Leben als Rechtsanwalt sein musste, wenn man erst so spät zur Arbeit gehen brauchte. Aber ich enthielt mich eines Kommentars dazu.

Schott nickte. »Ja, das dürfte hinkommen.«

Ich bat ihn nun, zu erzählen, wie er das Mädchen vorgefunden hatte.

Er schluckte, seine Miene wurde ernst. Mit den Fingern fuhr er sich angestrengt durch die dünnen Haarsträhnen, die über den beinahe kahlen Schädel gekämmt lagen. »Kein schöner Anblick«, erklärte er. »Ein Glück, dass ich noch nicht gefrühstückt hatte. Bin ja jetzt noch nüchtern, bekomme wohl heute sicher keinen Bissen runter. Wenn ich daran nur denke. Ich habe selbst eine Tochter, wissen Sie. Sie ist achtzehn und verlobt sich kommendes Wochenende.« Er erzählte mir das mit einem gewissen Stolz, allerdings vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen.

»Herzlichen Glückwunsch«, entgegnete ich, während meine Ungeduld wuchs. Ich wollte zum Tatort. Es war wie bei einer Cocktailparty, auf der sich schon alle amüsierten, während man selbst als letzter eintrudelte. »Aber bitte, Sie waren dabei, uns zu erzählen, wie Sie das Opfer gefunden haben.

»Natürlich, Verzeihung.« Schott machte eine entschuldigende Geste. »Ich lief ganz normal den Weg entlang, wie immer. Wir gehen jeden Morgen die gleiche Strecke.«

»Wir?«

»Na, ich und Bravo, mein Schäferhund«, klärte er mich auf. »Jedenfalls waren wir unterwegs, als ich auf der Lichtung, bei der Bank, jemanden liegen sah. Ein junges Mädchen. Überall war Blut. Und der Kopf…«

Ich nickte verstehend. »Es war sonst niemand da?«

»Nein, keine Menschenseele.«

»Haben Sie das Mädchen zufällig erkannt?«

Ich las aus dem Gesichtsausdruck meines Gegenübers, dass er mit dieser Frage gerechnet hatte. »Nein, ich denke nicht. Allerdings konnte ich ja ihr Gesicht nicht wirklich erkennen.« Die Stimme des Mannes war nun merklich rauer. »Ich hatte natürlich überlegt, wessen Kind es sein könnte. Hier im Ort kennt ja praktisch jeder jeden.« Er schüttelte den Kopf. »Aber mir ist niemand eingefallen.«

»Um die Identifizierung kümmern wir uns umgehend«, erklärte Blume sachlich.

»Was haben Sie dann getan?«, fuhr ich mit der Befragung fort.

»Ich lief wie der Teufel nach Hause und habe die Polizei verständigt. Dann habe ich einen großen Cognac getrunken auf den Schreck«, antwortete der Mann leise; es schien ihm fast peinlich. Aber ich hatte Verständnis, auch wenn er demnach in einem Punkt zuvor gelogen hatte: Er war keineswegs mehr nüchtern.

»Anschließend habe ich hin und her überlegt, was ich tun sollte. In die Kanzlei fahren wollte ich nicht, ich hätte mich sicher nur schwer auf die Arbeit konzentrieren können. Also habe ich meinen Gehilfen angerufen und ihm gesagt, dass ich heute später käme. Dann bin ich wieder hierhergekommen und habe auf die Polizei gewartet.«

»Herr Schott war so freundlich, uns an die Fundstelle zu führen«, erklärte Polizeimeister Werner und der Anwalt ergänzte: »Kann man nur schwer erklären, wenn man das Gelände hier nicht kennt.«

»Ich verstehe. Vielen Dank für Ihre Unterstützung.« Er hatte für mich mit allem, was er gesagt hatte, glaubwürdig geklungen und ich sah keinen Grund, eine seiner Aussagen in Zweifel zu ziehen. Aber ich wusste auch, dass er Rechtsanwalt war; jemand, der durchaus ein Talent zum Lügen und zur Manipulation haben musste. Zudem war er natürlich unser erster Tatverdächtiger. Mein Bauch sagte mir, dass ich ihn wiedersehen würde.

Ich reichte Herrn Schott die Hand und erklärte: »Mehr Fragen habe ich im Moment nicht an Sie.« Dann kletterte ich aus dem Wagen. »Ihre Adresse haben wir?« Ich sah zu dem Polizisten; er nickte. Blume ließ sie sich sogleich von ihm geben.

»Ach, Herr Kommissar«, meldete sich Schott zu Wort, während er sich seinen Homburger aufsetzte und ebenfalls aus dem Bulli kletterte. »Ein kleiner Tipp: Dort, die Straße runter, gleich neben dem Dorfgemeinschaftshaus, ist die Schule von Rod am Berg.« Er deutete nach links, wo die Landstraße die Anhöhe wieder hinunter führte; in die Richtung, aus der wir gekommen waren. »Wenn das Mädchen hier aus dem Ort stammt, wird sie sicher auch hier zur Schule gegangen sein. Fragen Sie doch dort, ob heute ein Kind fehlt.«

Seine Hilfestellung nötigte mir ein Lächeln ab. »Danke für die Information!« Dann verabschiedete ich mich. Als ich mich umblickte, erspähte ich zwei uniformierte Beamte, die mit verschränkten Armen direkt am Waldrand standen und sich unterhielten. Ich kannte sie nicht, sie mussten wohl ebenfalls von der Wache in Usingen sein. Sie nahmen sofort Haltung an, als Gerd und ich auf sie zu schritten. Wir stellten uns ihnen vor.

»Morgen. Polizeimeister Gregor und Meier«, erwiderte der kleinere der beiden Beamten.

»Sie sichern hier den Tatort?«, fragte Blume.

Meier nickte. »Ja. Allerdings sollten sie besser den Wagen nehmen, es ist noch ein ganzes Stück durch den Wald bis zu der Lichtung.« Er schielte auf unsere Schuhe.

Ich brummte verstehend und schaute den Weg entlang, der in den Wald führte. Er war durch den Regen der letzten Tage ziemlich aufgeweicht. Die frischen Reifenspuren waren entsprechend tief.

»Wie weit ist es zu Fuß?«, fragte ich.

»Na ja, sicher so zehn Minuten.«

»Na schön. Gerd, holen Sie den Wagen!«

Mein Assistent eilte davon; kurz darauf hielt der Opel neben mir und ich stieg wieder ein. Blume kurbelte das Fenster runter.

»Wo müssen wir denn genau lang?«, fragte er die Polizisten.

»Folgen Sie einfach den Reifenspuren, Gerd«, kam ich ihm ungeduldig mit der Antwort zuvor. Er schloss das Fenster wieder und gab vorsichtig Gas.

»Macht überhaupt keinen Sinn, bei diesem Wetter den Wagen zu waschen«, brummte er, während er uns durch den seichten Matsch lenkte. »Gestern gewaschen und dann so was!«

»Ruhig blieben, Gerd«, sagte ich. »Sie mussten das ja nicht selbst tun.« Dann fragte ich ihn nach seiner Meinung zu Herrn Schott.

»Starke Persönlichkeit. Autoritätsperson. Ich kann mir vorstellen, dass er als Anwalt im Gerichtssaal einiges reißen kann.«

Das deckte sich ziemlich genau mit meiner eigenen Wahrnehmung. Wir folgten den parallel verlaufenden Reifenspuren und kamen nach knapp zwei Minuten an eine Lichtung. Dort stießen wir auf ein weiteres Einsatzfahrzeug, eine Ambulanz und den grauen Kastenwagen der Spurensicherung. Mehrere Personen standen um einen Punkt herum. Meine Füße wurden wieder unruhig; die Cocktailparty war in vollem Gange. Gerd stoppte den Wagen und wir stiegen aus. Sofort fielen mir die Reifenabdrücke im lehmigen Boden auf, die noch weiter den Pfad entlang verliefen, bis sie sich hinter einer Kuppe verloren. Ich fragte mich, ob sie von einem unserer Wagen stammten. Wir gingen direkt hinüber zu einem schmalen Weg, der nicht viel mehr als ein Trampelpfad war. Ein Polizist, der uns erspäht gesehen hatte, kam mit erhobener Hand auf uns zu.

»Entschuldigung, Sie können hier nicht…«

Ich zeigte ihm meine Marke und somit, dass ich sehr wohl konnte und auch musste. Er wich katzbuckelnd zur Seite und wir gingen weiter. Nach wenigen Metern, auf der Höhe einer alten, halb verrotteten Sitzbank, blieb ich stehen. Ich folgte den Blicken der umstehenden Personen und sah zu Boden. Ein Mann in einem dunkelbraun karierten Anzug und mit Hut hockte dort und beugte sich über etwas. Besser jemanden.

Mutterschmerz

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