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Kapitel 1

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Ich schaute gedankenversunken aus dem Fenster im Arbeitszimmer auf die mächtige, alte Eiche in unserem Garten. Ihre goldenen und braunroten Blätter, die sich mit letzter Kraft an den Ästen hielten, wiegten sanft im Wind. Die morgendliche Sonne schob sich langsam von links ins Bild und unterstrich noch das Strahlen der herbstlichen Farbpalette.

Ich ließ mich für einen Moment von diesem beinahe poetischen Naturschauspiel gefangen nehmen, dann wanderte mein Blick zurück auf die Schreibmaschine, die vor mir am Arbeitsplatz stand. Ein Blatt Papier war eingespannt, dessen makelloses Weiß mich bereits seit fast einer halben Stunde provozierte, endlich mit der Arbeit anzufangen. Ich würde ihm nun endlich nachgeben. Es gab jetzt ohnehin kein Zurück mehr, denn ich hatte mir fest vorgenommen, heute damit zu beginnen, die Ereignisse aus dem Jahr 1963 aufzuschreiben. Den Herbst und Winter wollte ich dazu nutzen, dieses, ohne Zweifel, erschreckendste Kapitel meines - unseres - Lebens niederzuschreiben. Lange hatte ich mich davor gefürchtet, mir alles wieder ins Gedächtnis zu rufen und die Abschriften der Akten von damals sowie auch die persönlichen Aufzeichnungen der wichtigsten Beteiligten zu öffnen. Dabei war ich nicht einmal so sehr um mein eigenes Seelenheil besorgt; das war schon viel früher aus dem Gleichgewicht geraten und hat mich seitdem in dieser Schieflage begleitet. Aber erst jetzt, mit weit über siebzig, konnte ich mich dazu aufraffen, mir alles von der Seele zu schreiben. Vielleicht als eine Art späte Therapie. Vielleicht aber auch, weil mir die Zeit davon lief. Wenn ich es nicht bald fertigbrachte, das Erlebte für die Nachwelt festzuhalten, würde es für immer verloren sein. Es wäre sicher kein großer Verlust für die Menschheit und die Erde würde sich auch ohne diese Geschichte weiter drehen. Aber ich hatte es Lieselotte, meiner Frau, versprochen. Und ich hielt meine Versprechen. Immer. Ich fühlte mit den Fingern über die Narbe auf meinem rechten Handrücken; eines der Zeugnisse von damals, das mir, neben den Erinnerungen, geblieben war.

Es klopfte zaghaft an der Tür. Sie war nur angelehnt und Lilo schob sie etwas weiter auf. »Ich gehe jetzt einkaufen. Brauchst du noch was?«, fragte sie.

Ich überlegte, aber außer meinem Rotwein und den Zigaretten, die ich mir bereits zurechtgestellt hatte, fiel mir nichts ein und ich verneinte. Ich stand auf, ging zu ihr und gab ihr einen Kuss.

»Pass auf dich auf«, bat ich. Ich sagte es keineswegs einfach nur so daher, das wusste sie. Wir beide wussten es.

»Ich wünsche dir viel Erfolg«, entgegnete Lilo und mit einem Mal klang ihre Stimme bedrückt. »Ich weiß, es wird nicht leicht.«

Sie nahm meine Hand und begann nun ebenfalls, mit ihren Fingern über die Narbe zu streichen. Vielleicht war es aber auch nur zufällig genau diese Stelle.

»Auf jeden Fall wird es eine Menge Arbeit.« Ich sah zum Schreibtisch, wo sich zu beiden Seiten der Schreibmaschine die Akten türmten.

»Du musst das nicht tun, das weißt du!«, sagte Lilo eindringlich.

»Doch, es wird Zeit. Es muss jetzt sein.«

Sie zog eine resignierende Miene. »Hm, du alter Dickkopf. Also bis später.«

»Bis später.« Lilo schloss die Tür und ich starrte ihr noch ein paar Sekunden hinterher. Mit einem leisen Seufzer setzte ich mich wieder vor die Maschine und schaute auf die cremefarbenen Tasten. Die Buchstaben darauf konnte ich mittlerweile ohne meine Brille kaum mehr erkennen. Aber ihre Anordnung war mir vertraut. Und das Tippen wäre weiß Gott der einfachste Teil. So atmete ich noch einmal tief durch, setzte mir die Lesehilfe auf die Nase und lockerte die Knochen meiner faltigen Hände. Kurz darauf erschienen, begleitet vom mechanischen Klappern der Typenhebel, die ersten Worte auf dem Papier.

Mutterschmerz

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