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4.1 Wertschöpfung versus Verschwendung

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Wir schaffen einen logischen, definitorischen Zugang zu einer Organisation, in dem wir die geleistete Arbeit in drei Kategorien einteilen:

 Wertschöpfung

 notwendige Verschwendung und

 Verschwendung.

Jede Arbeitsminute, die Mitarbeitende nicht darauf verwenden, einen direkten Nutzen für Patienten zu erbringen, gilt im Lean Management als Verschwendung. Für jede Minute verschwendeter Arbeitszeit bezahlt ein Unternehmen Geld, ohne dass es selbst oder die Patienten eine entsprechende Gegenleistung erhalten. Es wird gearbeitet, ohne dass ein Zusatznutzen entsteht.

In einem Krankenhaus mit 300 Betten und 14 000 stationären Fällen erbringen 320 Vollkräfte pro Jahr eine Arbeitsleistung von ca. 29 760 000 Minuten, pro Fall also etwa 2 126 Minuten{5}. Gelingt es einem Unternehmen, nur 10 Prozent der jährlichen Arbeitsleistung in zusätzliche, produktive und verschwendungsfreie Tätigkeiten zu verwandeln, ergibt sich eine Zeiteinsparung von 2 976 000 Minuten. Das entspricht der Arbeitsleistung von etwa 32 Vollkräften. Stellen wir uns vor, dieses Krankenhaus wäre so organisiert, dass 10 Prozent der durchgeführten Tätigkeiten überflüssig würden, und weder die Qualität noch der Gesamtnutzen für seine Patienten würden darunter leiden. Würde diese frei werdende Arbeitszeit für produktive und qualitätssteigernde Maßnahmen verwendet, könnten jährlich rund 1 500 zusätzliche Patienten behandelt werden, ohne dass die Arbeitsintensität von Mitarbeitenden anstiege oder zusätzliches Personal notwendig wäre. Das Beispiel wirkt sehr leistungs- und mengenorientiert. In der Realität geht es für die durchschnittliche Krankenhausorganisation primär darum, die anfallende Arbeit überhaupt zu bewältigen.


Abb. Verbesserung und Wertschöpfung © Jörg Gottschalk

Verschwendung ist weder im Sinne des Kunden sinnvoll noch für die Organisation notwendig. Könnte man sie eliminieren, ginge weder dem Krankenhaus noch dem Patienten etwas verloren.

Unter Wertschöpfung versteht man im Lean diejenigen Aktivitäten, die einem Patienten unmittelbar zugutekommen, die den Wert des „Produktes“ aus seiner Sicht erhöhen und für die er bezahlen würde, müsste er denn für diese Leistung bezahlen. Für Patienten bedeutet das Gespräch mit dem Arzt oder mit einer Pflegekraft, eine (notwendige) Operation, notwendige Blutabnahmen, diagnostische Untersuchungen und alle notwendigen therapeutischen Maßnahmen einen echten Mehrwert. All das, was einen Wert für Patienten schafft, bezeichnen wir als Wertschöpfung.

Würden wir es allerdings bei dieser noch unscharfen Einteilung belassen, würden wir vermutlich sehr viele oder gar alle Tätigkeiten in die Kategorie Wertschöpfung einsortieren. Schließlich möchten wir insgeheim, dass jede Aktivität zumindest irgendeinen indirekten Nutzen schafft.

Im Lean Management erhält der Begriff der Wertschöpfung seine kategorisierende Schärfe erst dadurch, dass Arbeit bzw. Leistung für den Patienten wirklich sichtbar sein muss. Hilfsfragen dafür lauten: „Würde der Patient für diese Leistung bezahlen, wenn er es müsste? Ist die Leistung wirklich für ihn sinnvoll und will er sie wirklich erhalten?“ Der Patient ist bereit, für eine diagnostische Leistung zu bezahlen, für ein Medikament, eine Therapie, eine Operation oder vielleicht noch für das (gute) Essen. Diese Leistungen empfindet er als sicht- und spürbaren Mehrwert für sich selbst. Diejenigen Leistungen, die ein Patient nicht frei wählen würde, etwa weil er nicht über das ausreichende medizinische Wissen verfügt, werden von medizinisch kompetenter Stelle (z. B. von Ärzten) für ihn entschieden und in geeigneter Weise kommuniziert. Wertschöpfung ist also das, was der Patient wichtig findet, was er erkennen kann oder was ihm von einem kompetenten Stellvertreter als notwendig und sinnvoll vermittelt wird. Wäre eine Organisation ohne qualitative Abstriche in der Lage, exakt nur das zu erbringen, was ein Patient als frei gewählte oder empfohlene Leistung persönlich erlebt, wären viele Tätigkeiten von vornherein überflüssig.

Ein solches Krankenhaus wäre eine Utopie. Jedes Organisationssystem erfordert den Einsatz von Ressourcen, damit überhaupt seine Funktionsfähigkeit hergestellt werden kann und wertschöpfende Tätigkeiten entstehen. Das Zusammenwirken derart vieler Menschen will organisiert sein. Solche Leistungen sind notwendig, selbst wenn der Patient mit ihnen keinen unmittelbaren Nutzen für sich verbindet. Die meisten Leistungen, die in einer Organisation erbracht werden, erahnt er nicht einmal. Aus Sicht des Patienten handelt es sich dann zwar um Verschwendung, für die Funktionsfähigkeit einer Organisation allerdings ist sie notwendig. Wir sprechen deshalb von notwendiger Verschwendung. Solche Leistungen kann man nicht einfach unter den Tisch fallen lassen, selbst dann nicht, wenn kein Patient für sie bezahlen würde und auch kein direkter Bezug zu seiner Genesung hergestellt werden kann. Klassische Beispiele für diese Kategorie sind: Rechnungen schreiben, Dokumentationen anfertigen, Teambesprechungen ohne direkten medizinischen Bezug abhalten oder einen MRT reparieren. Viele, wenn nicht gar alle Verwaltungsaufgaben müssen wohl oder übel dieser Verschwendungsart zugerechnet werden.

Eine Auswahl notwendiger Verschwendungstätigkeiten skizziert die folgende Übersicht.


Abb. Notwendige Verschwendungstätigkeiten © Jörg Gottschalk

Während notwendige Verschwendung einen Nutzen für die Organisation und damit zumindest indirekt auch für den Patienten schafft, ist Verschwendung eindeutig weder aus Sicht des Patienten sinnvoll noch für die Organisation notwendig. Könnte man sie eliminieren, ginge weder dem Krankenhaus noch den Patienten etwas verloren.

Nun wäre es leicht, verschwendete Tätigkeiten, im Sinne unserer Definition, zu identifizieren und kurzerhand auf sie zu verzichten. Leider müssen wir davon ausgehen, dass heute jede Verschwendungstätigkeit einen Sinn für die Organisation ergibt und eine wichtige Funktion für den Gesamtprozess erfüllt. Wir können nicht ohne Weiteres auf sie verzichten, ohne dass wir an anderer Stelle eine ungewollte negative Wirkung auslösen. Die heutige Organisation giert nach dieser Funktion und ist offensichtlich nicht in der Lage, ohne sie zu funktionieren oder gar alternative Handlungsmöglichkeiten bzw. Instrumente bereitzustellen. Ohne diese (Verschwendungs-)Aktivität wäre ein Prozess womöglich fehlerhaft oder gar unmöglich. Solange eine Organisation z. B. nicht über ein integriertes, prozessunterstützendes IT-System verfügt, bleiben Mehrfacheingaben und Doppelerfassungen für die Patientendokumentation und -abrechnung ebenso notwendig wie die Doppelablage von Dokumenten. Auf jedem Effizienzniveau verlangt eine Organisation sehr spezifische Verhaltensweisen, Tätigkeiten und Ausstattungen. Verändern sich die technisch-organisatorischen Voraussetzungen, verändern sich auch die Anforderungen und die zu erfüllenden Aufgaben.

Lassen Sie uns an dieser Stelle gleich einmal die Schuldfrage klären, die so oft und gerne gestellt wird: Wer eigentlich ist verantwortlich für Verschwendung – der Chef, der einzelne Mitarbeiter, die Station? Die Antwort lautet: die Organisation selbst. Denn die Grundannahme im Lean Management ist: Verschwendung resultiert niemals aus dem verschwenderischen Handeln eines Einzelnen. Das Gegenteil ist der Fall. Eine Organisation verlangt förmlich nach Verschwendung, damit sie unter den bestehenden Voraussetzungen funktionieren kann. Sie kann heute noch nicht mehr. Sie bietet ihren Mitarbeitenden nicht die Möglichkeit, verschwendungsfrei zu arbeiten.

Deshalb sagt der aktuelle Umfang der Verschwendung etwas über den Status bzw. den Organisationsgrad eines Unternehmens aus und nur sehr wenig über die Qualität oder gar die individuellen Verhaltensweisen von Mitarbeitenden. Im Grunde genommen scheint mir die Frage nach Schuld und Sühne – gleich ob individuell oder organisational – irrelevant zu sein. Wir diskutieren einfach nicht mehr über schuldig oder unschuldig, gut oder schlecht. Wir fragen lediglich, ob etwas veränderbar bzw. verbesserbar ist oder eben nicht.

Ich betone ausdrücklich und immer wieder gerne, dass die Einteilung von Arbeit in die Kategorien Wertschöpfung, notwendige Verschwendung und Verschwendung keinen wertenden Charakter besitzt. Niemand muss sich schlecht fühlen. Alles was wir heute tun, ist heute erforderlich. Morgen allerdings kann die Welt anders aussehen, daran arbeiten wir.

Das Ziel aller Verbesserungsaktivitäten besteht darin, die Wertschöpfung (den Nutzen) für Patienten zu maximieren und Verschwendung in der Organisation zu beseitigen. Der erklärte Führungswille sollte darin bestehen, die höchst mögliche Wertschöpfung bei minimalen Kosten zu erreichen. Vielen Führungskräften fällt es schwer, höchstmögliche Wertschöpfung als ihr Ziel und die ihres Unternehmens zu definieren. Sie scheuen sich, ein derart großes Versprechen gegenüber ihren Patienten abzugeben, denn mit höchstmöglicher Wertschöpfung wäre unweigerlich auch höchstmögliche Qualität verbunden. Stattdessen formulieren sie Begriffe wie gewünschte Qualität oder angemessene Qualität. Es ist eine verständliche, aber verzichtbare Verbeugung vor der aktuellen Realität.

Das schlanke Krankenhaus

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