Читать книгу Bei abnehmendem Mond - Jörg M. Pönnighaus - Страница 10
Unser täglich Brot gib uns heute
Оглавление[6. August 2006]
»Sie dürfen nicht aufgeben«, sagte ich zu der jungen Frau. Kristina hieß sie. Sie war vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt. Sie lag im Bett am Fenster links im letzten Zimmer der Kinder- und Frauenstation. »Wir haben jetzt mit der Behandlung angefangen, und nun kann alles gut werden. Die Medikamente werden Ihnen gewiss helfen. Langsam wird es wieder bergauf gehen. Sie dürfen nur nicht aufgeben.«
Ich pausierte nach jedem Satz, um das Echo meiner Worte in meinem Kopf verklingen zu lassen. Das Echo kam wohl daher, dass ich all dies schon so oft zu AIDS-Patienten gesagt hatte.
»Wenn Sie sich erst einmal erholt haben, können Sie so lange leben wie jeder andere auch. Wenn Sie später Ihre Medikamente fleißig nehmen. Die müssen Sie freilich Ihr Leben lang nehmen. Aber das müssen Menschen mit Diabetes auch. Und Leute mit Hochdruck. Sie dürfen nur nicht aufgeben. Sie dürfen sich nur nicht gehen lassen. Dann wird alles wieder gut werden.«
Kristina hörte mir schweigend zu. Sie wog nur noch knapp 20 kg. Ihre alte Mutter stand neben ihrem Bett. Ich wusste nicht, ob meine Worte Kristina erreichten. Vielleicht, vielleicht auch nicht. In ihren tief eingesunkenen Augen konnte ich keine Antwort lesen.
Kristina kam aus Makugira. Makugira ist ein Dorf gerade am Rand von Malinyi zur rechten Hand der Straße nach Ifakara hin. Zwischen der Straße und dem Furua. Das Land um Makugira herum ist fruchtbar. Der Reis wächst dort hüfthoch, und selbst wenn es nicht genug regnet, reicht es dort am Fluss doch jedes Jahr für eine gute Ernte. Der lehmige Boden hält das Wasser und der Grundwasserspiegel ist hoch.
Die Hütten stehen dicht gedrängt in Makugira. Um sie herum Mangobäume und Ölpalmen. Und am Rand von Makugira, wo die Reisfelder anfangen, stehen sogar ein Wasserturm und eine Pumpstation. In besseren Zeiten, die nun freilich schon lange her sind, wurden von hier aus Makugira und Malinyi mit fließend Wasser versorgt. Inzwischen sind die Wasserleitungen natürlich längst geklaut worden, und nur an einer Straßenseite in Malinyi sieht man noch Reste von der Wasserversorgung. Diese besseren Zeiten werden wohl auch nie wiederkommen.
Ich bin schon mehrmals durch Makugira geradelt, wenn ich zur anderen Seite vom Furua wollte. In der Trockenzeit kann man dort durch den Fluss waten, in der Regenzeit lässt man sich von einem Fährmann mit einem großen Einbaum übersetzen.
»Sie haben ja schon wieder an Gewicht verloren«, sagte ich zu Kristina. »Sie müssen mehr essen. Auch wenn es Ihnen vielleicht nicht schmeckt. Haben Sie Durchfall? Das müssen Sie uns sagen, wir haben jetzt auch Medikamente gegen Durchfall!
Oder haben Sie Schmerzen beim Schlucken? Dann müssen Sie uns das auch sagen. Wir können Ihnen helfen. Sie dürfen nur nicht aufgeben. Sie können noch lange leben! Haben Sie Kinder?«
Kristina schwieg.
Ich wusste, sie hatte ein Kind.
»Ihr Kind braucht Sie doch noch. Die Medikamente werden Ihnen bestimmt helfen, Sie müssen nur auch leben wollen!
Ihre Mutter sagte so wenig wie Kristina: Nichts.
»Versuchen Sie doch einmal mit ihr zu reden«, sagte ich zu Lenna, »sie muss doch nicht sterben. Auch wenn sie nur noch 24 CD4 Zellen hat.«
Auf der anderen Seite vom Furua gehen die Reisfelder noch ein Stück weiter, bis Brachystegiawald anfängt. Dort in den Reisfeldern haben die Leute Pfahlhütten gebaut, wo sie die Woche über schlafen, damit sie nicht jeden Abend nach der Arbeit ins Dorf zurückwandern müssen. Das Übersetzen kostet ja jeden Tag 100 TSH, und außerdem müssen die Leute ihren Reis bewachen, damit er nicht geklaut wird, wenn er reif wird. Das ist so.
Der Brachystegiawald ist zunächst natürlich sehr kümmerlich, weitgehend abgeholzt. Aber nach ein, zwei Kilometern findet man die ersten richtigen Bäume, und werden die Pfade immer schmaler, bis eigentlich nur noch einer übrig bleibt, der sich in die Hügel hoch windet und von dem es heißt, dass er der alte Weg nach Mahenge ist. Aber auch der Pfad endet irgendwo, und wenn es wirklich der alte Weg nach Mahenge war, dann benutzt ihn jedenfalls keiner mehr.
»Sie dürfen nicht aufgeben. Sie müssen mal aufstehen und rumgehen und nicht immer nur im Bett liegen. Das ist nicht gut. Ich sehe Sie nie draußen. So wird das nichts. Wenn Sie nichts essen und immer weiter an Gewicht verlieren, können Ihnen die Medikamente allein auch nicht helfen.
Damit es Ihnen wieder gut geht, müssen Sie auch fleißig essen!«
Ich wartete, bis das Echo meiner Worte in meinem Kopf wieder verklang.
Ich hatte das Gefühl, dass wir Kristina verlieren würden, wie schon so manche Patientin und so manchen Patienten vor ihr. Dass ich mir meine Worte sparen konnte. Warum gaben diese Patienten einfach auf?
Kristina sah mich aus ihren tief liegenden Augen an.
»Meine Verwandten«, sagte sie schließlich, »haben aufgehört, mir Essen zu bringen.«