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Erstes Zwischenspiel

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Let from the Beyond voices speak inwards Necrophobic; The Necromancer (2013)

Richard Perlmann war ein junger Mann von zirka 20 Jahren und hatte sich schon einen Namen in der Welt der Wissenschaft gemacht. Er galt als großes Talent, fast als Genie, aber auch als unberechenbar. Seine Forschungen gingen in alle Richtungen, er war äußerst umtriebig. Alles, was ihn auch nur ansatzweise interessierte, verschlang er mit unstillbarem wissenschaftlichem Appetit. Dann kreierte er aus dem Gelernten und Verarbeiteten immer etwas Neues. Er akzeptierte dabei keine Grenzen und es gab keinerlei Denkverbote für ihn. Damit eckte er natürlich bei den etablierten Wissenschaftlern an und wurde gern wie ein Aussätziger behandelt. Dies allerdings störte Richard überhaupt nicht.

Was ihn in den letzten Monaten beunruhigte, waren seine Träume. Diese Träume, die immer wieder kamen und welche ihn tief beunruhigten. Dabei ging es stets um das gleiche Thema und jedes Mal wachte er schweißgebadet auf und hatte das Gefühl, ihm würde die Luft aus seinen Lungen gezogen. Im Lauf der Zeit hatte er sich dazu Notizen gemacht. So formte sich aus den Bruchstücken, an welche er sich am Morgen erinnerte, nach und nach ein Bild. Dieses Bild allerdings ließ ihn manchmal an seinem Verstand zweifeln. Er notierte sich alles, denn tief in seinem Inneren hatte er das Gefühl, dass es noch einmal von Bedeutung für ihn sein dürfte. Wie er mehr als 3 Jahrzehnte später feststellen musste, hatten die Bilder nichts von ihrem Schrecken verloren. Schlimmer noch, sie entsetzten ihn sogar bis tief ins Mark hinein.

Es war dunkel, es war einfach nur dunkel und kalt. Jedwede Form von Materie war abwesend, aber es gab jede Menge nicht-stoffliche Existenzen. Deren Dasein aber war vom menschlichen Verstand nicht einmal annähernd zu erfassen. Vor diesen unendlichen Äonen, als die Zeit als Dimension noch gar nicht existierte und die Götter noch nicht einmal als Gedanken in der Zukunft der alten Rasse vorhanden waren, da wurden die Leichenlichter errichtet.

Ein waberndes kriechendes Chaos durchzog den unendlichen Raum. Falsch, denn es waren Abermillionen unendlicher Räume und Universen in einer Vielzahl von Dimensionen. Diese Vorstellung allein würde unseren kleinen Verstand sofort sprengen. In diesem Chaos sprachen zwei Stimmen zueinander, welche sich komplett gegenüberstanden. Diese Stimmen wollten dem Gegenpart keinen Fußbreit Raum lassen. Das Chaos selbst nun war es irgendwann leid, diese Stimmen ertragen zu müssen. Es fühlte sich nur wohl in ständiger, ungeordneter, kraftvoller und zerstörerischer Bewegung. Diese Stimmen aber störten es dabei und lenkten es ab. Das Chaos hatte selbst keine Ahnung, woher die Stimmen in seinem Inneren kamen. War es nur die Langeweile des ewig Abgründigen oder einfach eine falsche Schaltung in den unendlichen Verästelungen seines unheimlichen Verstandes. Es dauerte nach unserer Zeitrechnung mindestens 200 Milliarden Jahre, bis das Chaos entschied, sich dieser lästigen Plagen zu entledigen. Eine unendlich lange Zeit benötigte es, bis es sich zu einem Entschluss durchringen konnte und noch länger, bis es diesen dann tatsächlich in die Tat umsetzte.

Die schöpferische, produktive Stimme wurde einfach in einer Art geistigen Verdauung ausgeschieden.Deren chaotische Exkremente scharten sich als Energiefelder zusammen. Als alte Rasse versuchten sie, aus dem unproduktiven aber äußerst aktivem Chaos etwas Schöpferisches und Vorwärts strebendes hervorzubringen. Die alte Rasse machte sich auf, um Jenseits des Chaos unerforschte Gebiete zu entdecken und zu bevölkern. Nur einmal im Herzschlag des Größten Wesens, welche alles umfasste, was als Gedanke existierte, kehrten sie zurück um zu sehen, was sich im Reich des Chaos tat. Ihre Geschichte ist sicher spannend, aber sprengt alle menschlich-technischen Möglichkeiten unserer Zeit.

Schwieriger war es nun für das kriechende Chaos, die andere Stimme loszuwerden. Diese war hohl, ausgezehrt und tot und predigte den ewigen Stillstand. Erst in den entlegensten Verästelungen seines Wissens wurde das Chaos fündig. Es erinnerte sich vage an einen abgestorbenen Teil seiner selbst. Dieser Teil hatte schon existiert, als das alles umfassende Größte Wesen jung war. In dieser Nekropole fanden sich so uralte barbarische Riten, um diesen Teil wieder auferstehen zu lassen.Der abgestorbene Zweig wurde mit der toten Stimme gefüllt. Es gab einen fürchterlichen Akt der Nekyomantie, der Totenbeschwörung. Dabei wurde der gesamte, einst abgestoßene Körper des Chaos wieder aus der Welt der Schatten heraufbeschworen, allerdings in vielen verschiedenen Einzelteilen. Das Chaos richtete seine zerstörerische Kraft gegen einen kleinen Teil seiner Selbst, trennte sich zwei kleine wurzelähnliche Auswüchse ab und zermalmte diese mit seinem unvorstellbaren Gewicht. Dieses hätte mindestens für 30 Universen ausgereicht, welche wir kennen. Seine Körperflüssigkeit breitete sich als dumpfviolette, dampfende Lache aus. Richard hörte Worte, wie sie niemals in unserer Galaxie, in unserem Makrokosmos zu hören sein werden.

Als sich dann aus dieser Lache seltsame, völlig unsymmetrische und jeder geistigen Normalität spottende Gestalten erhoben, da erkannte Richard den blasphemischen Akt der Totenbeschwörung. Unwillkürlich dachte er an »Occulta Philosophia« des Agrippa von Nettesheim und an die Totenbeschwörungen des John Dee, welcher später das verfluchte Buch Necronomicon ins Englische übersetzte.

Es fiel Richard unheimlich schwer, den Anblick der gotteslästerlichen entstandenen Nekropoden in menschliche Sprache zu übersetzen. Auch sie erstreckten sich in Dimensionen, welche dem menschlichen Geist eigentlich nicht zugänglich sind. Zwar zogen Bilder durch sein Gehirn, welche versuchten, diese Abnormitäten jenseits aller menschlicher Vorstellungskraft in etwas Bekanntes zu übersetzen. Allerdings fehlte ihm die Fähigkeit, dieses verständlich niederzuschreiben. Die Nekropoden waren seines Erachtens vielgestaltig. Gleich war ihnen allen die wahnsinnige Geschwindigkeit, mit der sie ihre vielen Tentakel und Auswüchse in scheinbarer Irrsinnigkeit hin und her schwangen. Eigentlich schienen sie gar keinen Körper im eigentlichen Sinne zu besitzen, sondern nur solche Fortsätze, die aufs Geradewohl irgendwo an einem anderen Fortsatz begannen. Durch diese völlig unsymmetrische Form war es auch nicht möglich, einen Mittelpunkt oder Schwerpunkt der Körper zu bestimmen. Dies verstörte seinen gepeinigten Verstand in jedem Traum fast noch stärker als die Tatsache, dass es solche Körper in einer gottgewollten Welt gar nicht geben durfte. Auch die Konsistenz der Nekropoden kann man nur als widerwärtig bezeichnen. Da sie farblos waren, konnte man in ihrem Innern gigantische Wirbel einer seltsamen Flüssigkeit erkennen. Diese drehte sich in rasendem Rhythmus zu gigantischen Dämonenbildern einer längst verblichenen Epoche. Dann zog sie sich zusammen, um gleich darauf wieder als chaotischer Wirbel durch den Körper der Nekropoden zu vibrieren. Innereien, Muskeln oder gar ein Skelett schienen diese Wesen nicht zu besitzen. Einzig und allein die wirbelnde Flüssigkeit im Inneren schien ihnen die Möglichkeit des Fortbewegens zu geben. Nie vorher und auch nicht in der nachfolgenden Zeit sah er etwas so Entsetzliches und Verderbtes wie in diesen Visionen.

Schlimmer aber noch als der Anblick waren die Laute, welche die Nekropoden von sich gaben. Es dauerte eine Weile, bis Richard begriffen hatte, dass sich die Rhythmen der Bewegungen und die Rhythmen der Laute überlagerten und eine unheilvolle Symbiose eingegangen sein mussten. Obwohl er die Sprache glücklicherweise nicht verstehen konnte und er dankte seinem Schöpfer nachträglich für diesen kleinen Akt der Gnade, merkte er sehr schnell, dass sie völlig sinnlos waren und offenbar auch keinem bestimmten Zweck dienten. Es war eindeutig, dass das Chaos bei seinem Ritual der Nekyomantie einen Fehler gemacht hatte. Wahrscheinlich wollte es nur ein Wesen schaffen, welches dann mit einer Stimme sprach. Aber offenbar war in jedem der Nekropoden nur ein kleines Stück Seele aus dem Reich der Schatten mit zurückgekehrt. Dies reichte gerade aus, um sinnlose Bewegungen zu vollführen und Lautäußerungen zu tätigen, die jede Art von Intelligenz beleidigen musste.

Diese Nekropoden, sowohl tot als auch doch auf eine perverse Art lebendig, machten sich auf, um den sie umgebenden Raum auszufüllen. Das kriechende Chaos merkte offenbar bald seinen verhängnisvollen Fehler und zog sich in Bereiche der Existenz zurück, die es Richards Verstand nicht gestatteten, ihm in diesem Traum zu folgen. Wahrscheinlich, so dachte er bei sich, war auch dies ein kleiner Akt der Gnade gewesen.

Diese sonderbare Mischform und gotteslästerliche Existenz bevölkerte nun den gesamten Raum, der ihnen zugänglich war. Sie entfernten sich nie weit voneinander, so dass sie immer ihre schnatternden, inhaltslosen Töne hören konnten. Überall, wo sie sich aufhielten, füllten sie die Umwelt im Laufe der Jahrmillionen mit ihren geisteskranken Absonderungen von tödlicher Bosheit, Blasphemie und Wahnsinn. Dadurch verdichteten sich diese Abnormitäten zu Gerüchen mit einem miasmatischen Ausmaß. Selbst das Nichts, das absolute Vakuum, die Welt dieser nekromantischen Kreaturen wurde von ihnen vergiftet und drohte in einer noch dunkleren Sphäre zu vergehen. Den Nekropoden selbst war dies offenbar egal. In ihren rudimentären Erinnerungsvorgängen, die offenbar vom kriechenden Chaos auf sie übergegangen waren, wussten sie, dass es so viele verschiedene Ebenen gab, auf denen sie ihr Werk für alle Ewigkeit verrichten konnten. So kam es, dass sie sich keine Sorgen machten. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ihr Denken überhaupt so weit reichen würde oder ob sie nicht im Wahn die eigene Vernichtung in Kauf genommen hätten.

Irgendwann, nach einer unvorstellbar langen Zeit, war wieder ein Herzschlag des Größten Wesens vorüber. Die Alte Rasse besuchte den Ort, da ihre Existenz den Ausgang genommen hatte. Ihnen war offenbar in Jahrtrillionen die Idee eines Urknalls als vage Idee durch die Nervenenden gekrochen und hatte sich im gemeinsamen Bewusstsein Bahn gebrochen. Diese hehre Idee von Schöpfung, Materie, Leben und Fortschritt durfte nicht vom Gestank der Nekropoden verunstaltet und vernichtet werden. So jedenfalls sprach sich das kollektive Bewusstsein aus.

Es brauchte viele weitere Millionen Jahre, bis die Alte Rasse sich einen Plan ausgedacht hatte, wie der Bedrohung zu begegnen wäre.

Getrieben wurden sie von den ihnen gegebenen schöpferischen und gestalterischen Kräften und ihrem Wunsch, etwas Vorwärtsweisendes zu schaffen. Also beschlossen sie, sich selbst zu opfern, um einer künftigen Welt die Chance des Wachstums und der Entwicklung zu geben. Sie selbst waren ja kaum mehr als ein gigantisches Energiefeld. Deshalb errichteten sie in einem Zeitraum, in dem der uns bekannte Kosmos dreimal vergehen und wieder entstehen würde, eine kolossale Energiebarriere, welche von den Nekropoden trotz ihrer zerstörerischen Kraft nicht zerstört oder überwunden werden konnte. Um dem neuen Leben überhaupt eine Chance zu geben, konzentrierten sie dieses Kraftfeld auf einen einzigen, quasi nicht vorhandenen Punkt. Wie ein Gartenzaun um ein gut bewachtes Grundstück, so wurden um diesen Punkt Grenzen errichtet. Diese waren völlig undurchdringlich für die Horden der Nekropoden. Es war eine Mauer aus kaltem und irgendwie lebendigem Licht. Es leuchtete mit einer so unheimlichen Intensität, dass selbst das kriechende Chaos geblendet gewesen wäre. Aber dieser Verursacher aller Probleme hatte sich ja längst aus der Geschichte zurückgezogen und seine Nachwelt dem Schicksal überlassen. Mit der Errichtung der Leichenlichter (nie gab es einen passenderen Begriff dafür) endete aber auch die Existenz der alten Rasse. In gutem Willen hatten sie alles getan, um eine mögliche Entwicklung von Materie und Leben zu schützen.

Allein 20 Generationen von nicht-stofflichen, nur mentalen Lebensformen erstanden in dieser Zeit und gingen wieder unter und niemand außer den Nekropoden wusste noch von ihrer Existenz. Zum Glück und als dritten Gnadenakt sah Richard nur zwei kurze Bildsequenzen der grauenhaften Kämpfe, welche sich an der Barriere der Leichenlichter abspielten. Immer wieder musste er dabei an die Offenbarung des Johannes in der Bibel denken:

„Und es erhob sich ein Streit im Himmel: Michael und seine Engel stritten mit dem Drachen; und der Drache stritt und seine Engel, und siegten nicht, auch ward ihre Stätte nicht mehr gefunden im Himmel. Und es ward ausgeworfen der große Drache, die alte Schlange, die da heißt der Teufel und Satanas, der die ganze Welt verführt, und ward geworfen auf die Erde, und seine Engel wurden auch dahin geworfen.“

Ein gewaltiger apokalyptischer Kampf hub an zwischen den normativen Kräften und den chaotischen destruktiven Mächten, deren Erfüllungsgehilfen die Nekropoden darstellten. Richard hatte noch nie auf einem Bild so viel Irrsinn, Widerwärtigkeit und Abscheulichkeit entdeckt. Seine Augen weiteten sich, während sein Kreislauf begann zu kollabieren. Aber auch mit dieser letzten Waffe seines geschundenen und misshandelten Körpers ließ sich sein Verstand leider nicht ausschalten. Einigermaßen angenähert an diesen Kampf, welcher hier tobte, kann man sich vielleicht die Bildermischung von Pieter Brueghel, H.R. Giger und Hieronymus Bosch vorstellen. Wenn man dies noch einmal ins Unermessliche steigert, dann hat man eine ungefähre Vorstellung von dem Nachtmahr, welcher Richard umgab. Wahnsinnig und wahnwitzig, keinen Schmerz, keine Verluste scheuend griffen die Nekropoden diese Barriere an, wissend, dass hier eine Grenze war, welche sie einengte, eine Wunde in ihrem toten, verderbten Fleisch.

An dieser Stelle in seinen visionären und bedrückenden Träumen schüttelte sich Richard Perlmann immer. Mit seinen Gedanken, seinem Empfinden und seinen Gefühlen, also mit seiner ganzen Seele nahm er teil an den Entscheidungen. Er fühlte sich als Teil der apokalyptischen Kämpfe. Sein ganzes Ich nahm wahr den Beginn des widerwärtigen Infiltrationskrieges, der sich nur medizinisch erfassen ließe.

Den Nekropoden jedenfalls blieb als Rückzugsgebiet nur das Jenseits, das absolute Nichts an den Außengrenzen des Makrokosmos. Im Prinzip war dies immer noch so viel und das verwehrte Gebiet war nur ein einziger Punkt. Aber offenbar war dies wie ein Magnet für die Nekropoden. So wie die Motte immer wieder in das Licht fliegt, ganz gleich, was mit ihr geschieht, so griffen diese Kreaturen stets aufs neue, mit gewaltiger Kraft und doch ohne Erfolg, die Leichenlichter an.

So also kam es, dass vor undenkbaren Zeiten die Leichenlichter als Barriere zum äußeren Wahnsinn errichtet wurden. Und die Begründer unseres heutigen Makrokosmos, längst selbst schon zu Staub verfallen und dem Dunkel der Geschichte nicht mehr zu entreißen, waren guter Hoffnung gewesen, dies hätte den rasenden Wahnsinn der Nekropoden ausschalten können. Alle Götter der Schöpfungen möchten geben, das dies so gewesen wäre. Aber nein. Diese Hoffnung war so trügerisch wie das Eis auf dem See nach zwei Tagen Frost. Unsere Realität ist leider nicht mehr als eine dünne Kruste über einem rasenden Ozean an Wahnsinn, Verderbtheit und Nekromantie.

Die verderbte Stadt

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