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Kapitel 6

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»Wann haben Sie das letzte Mal was gegessen?«

»Heute? Beim Frühstück. Müsli und Kaffee. Das war‘s.«

»Ähnlich wie bei mir. Wie wär’s mit ein, zwei Onigiri aus dem Waraku ? Und rufen Sie doch mal Sciascia an und fragen, ob sie und Kaplan auch was haben möchten.«

»Pizza wäre mir zwar lieber, aber wenn Sie bezahlen …«

»So war das gedacht.«

Sciascia und Kaplan hatten zwar bereits in der Kantine gegessen, gegen Onigiri hatten sie aber nichts einzuwenden.

»Haben Sie bemerkt, wie unterschiedlich die beiden reagiert haben? Die Eltern meine ich.« Früher Samstagabend. Das Blech auf der Oststraße bewegte sich langsamer als das dickflüssige Roheisen, als das es vor geraumer Zeit den Hochofen verlassen hatte. Hardenberg fuhr, biss zwischendurch Stücke aus einem Thunfisch-Onigiri und redete mit vollem Mund.

»Ja, die Mutter schien zunächst ein Spur gefasster, irgendwie … « Rosinsky überlegte, suchte nach der passenden Formulierung. »… besser vorbereitet. Als Sie dann aber damit rausrückten, dass ihre Tochter erschossen wurde, war das ganz offensichtlich etwas Unerwartetes. Da waren dann beide gleichermaßen entsetzt.« Rosinsky überlegte. »Kann man ›unerwartet‹ überhaupt steigern?«

»Könnte wetten, Sie wusste etwas über die Tochter, von dem ihr Mann keine Ahnung hatte.«

»Aber über die Erkrankung waren beide informiert. Auch über den Ernst, die Schwere und die Konsequenzen.«

»Ja, aber da war noch irgendetwas anderes. Haben Sie Ihre Eltern immer beide auf demselben Informationsstand gehalten? Konnten Sie mit Ihrer Mutter über dieselben Dinge reden wie mit Ihrem Vater?«

»Um Gottes willen. Nein!«

»Und deshalb werden wir am Montag mit jedem von ihnen einzeln sprechen.«

»Hatten die dann nicht Zeit, sich abzusprechen?«

»Worüber? Nehmen wir an, es war etwas, das den Vater zu sehr mitgenommen hätte, etwas, dem er emotional nicht gewachsen war. Meinen Sie, das wäre jetzt anders? Jetzt, wo er sich bereits bis zum Äußersten verletzt fühlt? Nein, wenn sie ihn bis jetzt nicht damit belasten wollte, dann wird sie es jetzt erst recht nicht tun.«

»Na, wenn bereits bis zum Äußersten verletzt ist, dann kann es ja nicht mehr gesteigert werden.«

»Meiner Erfahrung nach lässt sich Schmerz immer noch steigern. Besonders die seelische Variante. In Wirklichkeit existiert dieses Äußerste gar nicht, es ist eine Illusion. Die Vorstellung, es existiere ein Punkt, an dem es nicht mehr schlimmer werden könne, ist nichts als Selbsttäuschung.«

Rosinsky sah seinen Chef kurz an, schwieg aber. Sachlich, rational, so kannte er ihn. Oft ironisch, manchmal melancholisch. Der Defätismus aber war neu.

»David, ich bringe Sie zum Präsidium und fahre dann weiter in die Rechtsmedizin. Versuchen Sie zusammen mit Sciascia und Kaplan, so viel wie möglich über die Familien Büsch und de Groot herauszubekommen. Kurze Dossiers, Lebensläufe, Strafregister, öffentlich zugängliche Informationen, Websites, Social Media und so weiter. Und über den Freund, diesen Finn Küppers. Wenn ich in der Rechtsmedizin fertig bin, fahre ich möglicherweise noch ins Kriminaltechnische Institut. Rechnen Sie heute also nicht mehr mit mir. Sie können Feierabend machen, wann Sie es für angebracht halten. Wir sehen uns dann alle morgen früh um zehn zu Frühstück und Lagebesprechung. Ich bringe Brötchen und Croissants mit. Stop, ein Onigiri ist noch für mich.«

Nachdem er sich angemeldet hatte und ihm bestätigt wurde, dass Dr. Thomsen ihn bereits erwartete, zog Hardenberg sich um und betrat den Obduktionssaal. Es war bei Weitem nicht sein erster Besuch hier. Bislang jedes Mal überkam ihn spätestens beim Anlegen der OP-Kluft das, was er seine ›Nierenschalenaversion‹ nannte. Eine Art Scheu, eine Mischung aus Befangenheit und Respekt. Eine diffuse Angstkomponente hatte es zu Beginn auch noch gegeben. Was seine Anspannung jedoch stets zuverlässig löste, war die klare Helligkeit und die sachliche, aber gelöste Arbeitsatmosphäre der Teams. Thomsen stand am Organtisch, gleich neben dem ersten Sektionstisch, beugte sich über eine große, rechteckige Schale und begutachtete deren Inhalt.

»Wie gerufen. Gerade sind wir so weit, dass wir Ihnen Ergebnisse zeigen können. Schauen Sie mal.«

Auf dem Sektionstisch hinter Thomsen lag der Körper von Leonie Büsch. Brust- und Bauchhöhle waren mit einem U- statt einem Y-Schnitt geöffnet, die Schädeldecke war entfernt worden. Das, was Thomsen sich so interessiert angesehen hatte, war das Gehirn von Leonie Büsch gewesen.

»Ihre Tote war alles in allem in einem hervorragenden medizinischen Zustand. Geraucht hat sie nie, auch mit anderen Genussgiften hat sie sich offenbar sehr zurückgehalten. Dafür hat sie viel Sport getrieben, würde ich behaupten. Alles in allem äußerst fit und gesund gestorben, das Mädchen. Bis auf eine Sache. Und wegen der wäre sie auch nicht mehr sehr viel älter geworden.«

Er wies auf das grau-rote Organ in der Schale.

»In diesem wunderbaren Organ haben wir die Todesursache gefunden. Heute. In einigen Monaten wäre sie aber ebenfalls hier zu finden gewesen. Nur in völlig anderer Gestalt.«

Der Wundkanal war herauspräpariert worden. Unter dem sauberen Schnitt war ein Bereich, der aussah, als hätte sich etwas durch die graue Masse gefräst. Thomsen griff nach einer Nierenschale, in der ein seltsam geformtes Stück Metall lag.

»Das hier steckte im oberen Rückenmark. Ihre Kollegen vom KTI können Ihnen dazu sicher mehr sagen.«

Das Metallstück hatte entfernt Ähnlichkeit mit dem offenen Fruchtbecher einer Buchecker. Oder einer halb geschälten Banane, von der das freiliegende Stück bereits gegessen wurde. Spontan musste Hardenberg auch an den Film ›Alien‹ denken und an dieses ›Ovomorph‹, offen natürlich und viel, viel kleiner.

»Ist von der hinteren Schädelwand abgeprallt und hat eine Menge Schaden angerichtet. Dieses Areal hier ist praktisch völlig zerstört.« Er wies mit einem Skalpell auf einen kleinen Bereich, der nahezu verflüssigt worden war. »Dieses winzige Stück Metall.« Er hielt die Schale mit dem Projektil hoch und betrachtete es eingehend.

Hardenberg riss ihn aus seinen Gedanken. »Sie sagten, die Todesursache wäre auf jeden Fall im Gehirn zu suchen gewesen und wollten mir etwas zeigen, bevor sie in Kontemplation über eine Gewehrkugel versanken.«

Thomsen sah ihn entgeistert an, dann war er wieder ganz bei der Sache. »Ja, man könnte es beinahe eine Art morbider Ironie nennen, aber die Kugel hat auch ein Stück von dem hier zerstört.« Er wies mit dem Skalpell auf eine Stelle, die auffällig dunkel gefärbt war und eine erkennbar andere Struktur als der Rest des Organs aufwies. »Ein Tumor …«

»Ein Glioblastom«, präzisierte Hardenberg.

»Möchten Sie weitererklären? Vielleicht lerne ich ja noch was dabei. Woher wissen Sie denn das?«

»Die Mitbewohnerin hat uns erzählt, dass sie die Diagnose vor einigen Monaten erhalten hat.«

Thomsen nickte. »Ich bin kein Spezialist, aber vermutlich hätte sie nur noch wenige Monate zu leben gehabt. Und die wären zunehmend belastend, schmerzhaft und grausam gewesen. Sie hatte mit Sicherheit jetzt bereits äußerst heftige Schmerzanfälle. Deshalb das Fentanyl. Und das Temolozomid. Mary Jane nicht zu vergessen.«

»Dr. Thomsen, Sie kennen sich anscheinend nicht nur im Pharmakatalog aus.«

Thomsen lächelte bitter. »Es sollte keine Rolle spielen, aber, wenn ich so einen jungen, ansonsten kerngesunden Menschen auf dem Tisch habe, trifft mich das trotzdem mehr als bei jemandem, der auf achtzig oder neunzig Lebensjahre zurückblicken konnte, als er das Zeitliche segnete. So was sollte ich nicht sagen. Ist nicht sehr professionell, bitte tragen Sie es nicht weiter.«

»Keine Sorge.«

»Wissen Sie schon etwas mehr über sie?«

Hardenberg nickte. »Sie war hochbegabt.«

»Hätte ich bloß nicht gefragt.«

Thomsen seufzte. Er zeigte Hardenberg noch mal die Schale mit dem Projektil. «Soll ich das rüber ins Kriminaltechnische Institut schicken?«

Hardenberg überlegte. »Warten Sie. Lassen Sie mich ein, zwei Anrufe machen.«

Er rief erst im KTI an, um zu fragen, ob noch jemand in der Abteilung ›Waffen- und Werkzeuguntersuchung‹ war. Dann sah er auf die Uhr und rief im Büro an.

»Elena? Machen Sie Feierabend, Sie und die anderen. Es ist bereits spät. Ich bringe die Kugel noch im KTI vorbei. Morgen früh besprechen wir dann erste Ergebnisse. Zehn Uhr. Rosinsky weiß schon Bescheid.«

Erste Ergebnisse. Hoffnung war eine prima Sache. Manchmal. Ebenso oft jedoch war sie Voraussetzung für bitterste Enttäuschungen. Nun ja, vielleicht konnte der Ballistikexperte noch etwas beitragen, was sich als Ergebnis bezeichnen ließ.

Morgen früh würde er außerdem erfahren, was Sciascia, Rosinsky und Kaplan bis jetzt über das Umfeld von Leonie Büsch herausbekommen hatten. Er konnte sich angenehmere Aktivitäten für einen Sonntagmorgen vorstellen. Und damit meinte er nicht den Gang in die Kirche.

Das Lächeln der Toten

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