Читать книгу Das Lächeln der Toten - Jörg Riese - Страница 5

Kapitel 1

Оглавление

Sie schläft noch und ist bereits wach. Die Brücke ist zur Hälfte überquert. Beide Seiten sind in Sichtweite, doch die Richtungsentscheidung ist längst gefällt. Das Bewusstsein scheint immer das Letzte zu sein, das etwas erfährt. Das hier ist die Duty-Free-Zone des Verstandes. Bilder, Ideen, Begriffe in Sondergrößen, erklärungsfrei [ohne Plausibilitätsprüfung]. Einmal durchquert, gelten nur noch Erfahrung und Tatsachen als Dinge von Bedeutung, verknüpft durch die Regeln der Logik. Und Vorstellungskraft. Fantasie. Finden, Erkennen, Bezug herstellen. Dann prüfen. Es ist nicht dasselbe wie träumen. Oder vielleicht doch? Manchmal nimmt man ja etwas mit.

Wenige Wochen zuvor hatte sie eine Entscheidung gefällt. Der Verzicht auf Hoffnung hat ihr neue Kraft gegeben. Platz geschaffen für etwas anderes. Klarheit. Sinn. Dort, wo sie jetzt ist, ist Hoffnung nichts als Ballast. Alles ist nun geregelt. Sie fühlt sich leicht.

Die undeutliche Erinnerung an den letzten Traum schwindet gerade. Da waren die Menschen gewesen, die sie liebte, nah bei ihr. Ihre Eltern, Noemi, Finn und Colin. Weiter entfernt standen andere, die Gesichter bereits undeutlich. Dieser Ort …

Sie stand, doch sie wusste nicht, worauf. Licht erfüllte, was immer das hier auch war, es musste eine Quelle geben, aber sie erkannte nicht, wo. Es war ein Raum, es musste einer sein, und doch war es keiner. Da war kein Boden. Keine Decke, keine Wände, keine Konturen, nichts, woran sie sich hätte orientieren können. Ihr Körper warf keinen Schatten. Was ihr seltsam vorkam, war, dass ihr nichts davon seltsam vorkam. Sie fühlte sich nicht unsicher, schwindelig, unwohl oder fremd. Alles war … …, ja, es war einfach.

Doch da war noch etwas. Etwas wirklich Fremdartiges. Etwas Namenloses. Und dieses Namenlose war unabwendbar, gleichgültig, grausam. Dieser grenzenlose Raum barg einen Ort, der noch verlassener war als alles andere. Ein Nichts innerhalb der Leere. Dieser Ort zog sie an, Sie ging darauf zu, allein, niemand schloss sich ihr an. Sie erwacht ganz und vergisst sogleich, was sie eben erst geträumt hat.

Als sie die Augen öffnet, steht die Sonne bereits seit Stunden am Himmel. Das Zimmer ist nicht sehr groß. Das Bett steht gerade so weit vom Fenster entfernt, dass ein Ablagetisch dort Platz findet. Auf dem Tisch eine Leselampe, ein Wecker, ein Foto ihrer Eltern, eines von Finn, eine schmale Vase mit einer einsamen weißen Freesie. Daneben das Smartphone. Das Nasenspray: wichtig! In der Schublade bewahrt sie allerlei kleinere Dinge auf: Ohrstöpsel, eine Schlafmaske, eine angebrochene Tafel Schokolade, Medikamente, die Pille. Auf der Ablage darunter liegen die gerade aktuellen Bücher, ein Notizbuch, ein Stift, einige Magazine. Etwa einen Meter über dem Boden beginnt die Dachschräge, das Fenster befindet sich in einer Gaube. Am Abend zuvor, als sie zu Bett gegangen war, hat sie die Jalousie nicht ganz herabgelassen. Die Sonne dringt durch einen Spalt zwischen Jalousie und Fensterbrett und bildet eine schmale Gasse aus bernsteinfarbenem Licht auf den Dielen. Sie schlägt die Decke zurück und setzt sich auf. Dann schwingt sie die Beine über die Bettkante und landet mit den nackten Sohlen auf eben jenem schmalen Streifen, der vom einfallenden Licht bereits erwärmt worden ist. Sie glaubt an keine höhere Macht, nicht an Schicksal oder Bestimmung. Nicht einmal daran, dass alles einen Sinn hat. Doch jetzt, an diesem Morgen, in diesem Augenblick, nach all dem, was sie erfahren hat, den Dingen, die geschehen waren, und dem Beschluss, den sie gefasst hat, entdeckt sie in dieser vollkommen unbedeutenden, geradezu lächerlichen Tatsache einer Schneise aus Licht und Wärme die Spur von etwas, wofür sie kein Wort hat. Sie nimmt wahr, doch mit welchen Sinnen? Sie versteht, aber wie heißt der Begriff? Den Kopf schräg im Nacken streckt sie die Arme zur Seite, dehnt und bewegt die Muskeln um den Schultergürtel und biegt den Rücken durch. Muskeln, die nach Stunden der Untätigkeit wieder zum Leben erweckt werden. Dann ballt sie die Hände zu Fäusten, öffnet sie wieder und spreizt dabei ihre Finger. Sie schlägt die Augen auf, verengt sie gleich wieder, lächelt, spreizt die Zehen und krümmt sie, als wolle sie das warme Licht mit ihnen greifen. Aber etwas fehlt noch.

Sie pendelt zurück zur anderen Bettseite und tritt vor das Regal mit den Schallplatten. Zielsicher greift sie die Platte heraus, die sie sucht. Sie schaltet Verstärker und Plattenspieler ein und legt die Platte auf den Teller. Gleich der erste Song der A-Seite, den will sie jetzt hören. In dem Augenblick, als sie wieder im Bett liegt, Gesicht zur Decke, mit ausgebreiteten Armen und geschlossenen Augen, erklingen die ersten Töne der Musik. Der Moment scheint vollkommen.

Stille explodiert in ihrem Kopf. In ihrem Zentrum ist Schmerz, unbeschreiblicher Schmerz, nichts als Schmerz. Grell, alles andere überstrahlend, alles andere auslöschend. Da ist keine Musik mehr. Kein Licht. Kein Fenster. Kein Bett. Sie stöhnt. Sie kämpft, quält sich ein winziges Stück zurück. Zurück zu diesem Stückchen Wirklichkeit, dort, wo Linderung auf dem Tisch neben ihrem Bett steht. Blind tastet sie danach, wirft etwas um, greift mit zitternden Fingern nach der kleinen Flasche. Ein Sprühstoß in jede Nasenöffnung. Etwas löst sich von dem Schmerz, existiert losgelöst von ihm alleine weiter. Angst, die Angst davor, dass es so bleibt, dass es doch nichts anderes gibt als den Schmerz. Und dann der erste klare Gedanke. Der Gedanke, dass das Vorhandensein dieser Angst ein Argument gegen die Angst selbst ist. Wie absurd, Angst davor zu haben, nur noch Schmerz zu fühlen, wenn sie ganz offenbar auch Angst empfinden kann. Sie lacht ein bitteres, raues Lachen. Der Schmerz brandet zurück, verschwindet allmählich ganz. Ihr Atem wird ruhiger. Ihre Stirn ist schweißbedeckt. Die Platte läuft noch. Es ist schon lange nicht mehr der Song, den sie hören wollte.

Sie richtet sich auf, tritt in die Dachgaube und stellt die Lamellen der Jalousie waagerecht. Das hereinfallende Licht schneidet weitere Streifen aus Bernstein aus dem Halbdunkel. In einem Reflex neigt sie leicht den Kopf und überschattet mit der linken Hand die Augen. Ihre Finger zittern trotz der Wärme. Sie zieht die Jalousie vollständig nach oben und öffnet das Fenster. Autoreifen auf Kopfsteinpflaster. Der nörgelnde Ton eines Zweitakters quillt hervor, versickert wieder. Eine Autohupe drängt in den Vordergrund. Ganz plötzlich relative Stille, Verkehrsgeräusche dringen nur noch gedämpft, wie aus einiger Entfernung, zu ihr durch. Die Stimme eines Vogels. Dann stellt sich die übliche Geräuschkulisse wieder ein. Sie blinzelt in die Sonne. Die Spitze des Ahornbaumes mit dem ersten zarten Grün direkt unterhalb ihres Fensters. Sie ahnt sie mehr, als dass sie sie sieht, ihre Augen haben sich noch nicht vollständig an die Helligkeit gewöhnt. Für Ende April ist es sehr warm. Sie genießt das Licht, die Wärme, das, was ein Städter für frische Luft hält. Eine innere Wärme erfüllt sie, ein Gefühl von Glück. Etwas, von dem sie noch vor wenigen Augenblicken befürchtet hatte, es nie mehr empfinden zu können. Sie lächelt. Sie ist hier. Sie ist jetzt. Mehr ist nicht von Bedeutung. Der Schmerz ist weit weg. Alles ist gut.

Ein Lichtreflex. Ein Fenster, vielleicht ein Fenster, das geöffnet wird. Schräg rechts, sie dreht den Kopf in die Richtung. Das Letzte, was sie je sehen, das Letzte, was sie je tun wird.

Das Projektil dringt in einem flachen Winkel in den Schädel ein, zwei Fingerbreit oberhalb der Nasenwurzel. Beim Aufprall verformt es sich, verdoppelt seinen Querschnitt und verliert dabei einen Großteil seiner Energie. Als metallener Pilz fräst es sich durch das Großhirn. An der hinteren Schädelwand prallt es zurück, zerstört danach auf seiner Bahn noch große Teile von Kleinhirn und Hirnstamm, und verbleibt schließlich als ein toter, energieloser Fremdkörper, im oberen Rückenmark stecken.

Der Körper sinkt in sich zusammen, alle Kraft hat ihn verlassen. Ihre Knie knicken ein, die Arme, nur noch der Schwerkraft unterworfen, werden zu leblosen Pendeln. Eine Marionette. Eine Marionette mit gekappten Fäden. Ihr Gesäß stößt auf die Bettkante, der Oberkörper neigt sich zurück, fällt wie in Zeitlupe zunächst schlaff zurück aufs Bett. Dort bleibt sie liegen, mit leicht vom Körper abgespreizten Armen, nach oben weisenden Handflächen. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht ist der der Ruhe, der Zufriedenheit. Als genieße sie noch immer die ersten Minuten eines hellen, warmen Morgens, bevor sie das Bett verlässt, um den Tag zu beginnen. Eine Maske, die Leben vortäuscht. Sie lächelt.

Doch wird sie nie wieder aufstehen. Kein neuer Tag wird so sein, wie Tage für sie gewesen sind. Nie wieder wird ein Mensch das Grün des Ahornbaums so sehen, wie sie es gesehen hat, nie wieder wird jemand die Wärme der Sonne auf dieselbe Weise spüren, wie sie. Ein winziges Stück Metall hat eine ganze Welt zerstört. In einer Zeitspanne kürzer als die eines Lidschlags.

Das Lächeln der Toten

Подняться наверх