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Kapitel 7

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»Was bringen Sie mir denn so spät am Samstag noch Schönes mit?«

Der Techniker war noch erstaunlich munter. Er lächelte sogar. Aus irgendeinem Grund hatte Hardenberg ein müdes, mürrisches Gesicht und einen launig gebrummten Kommentar erwartet. Hoffentlich projizierte er da nicht seinen eigenen Gemütszustand auf die Umgebung. Die gute Laune des Technikers war jedoch stärker, sie steckte an. Hardenberg lächelte zurück und hielt das Klarsichttütchen mit dem Projektil hoch. Der Techniker pfiff scharf zwischen den Zähnen hervor.

»Wo haben Sie das den gefunden?«

»Steckte im oberen Rückenmark einer Frau.«

»Autsch.« Der Techniker machte ein schmerzerfülltes Gesicht. »Na ja, ein Hohlspitzgeschoss. Aber das wussten Sie bestimmt auch ohne meine Hilfe. Hat sich ganz schön verformt, aber ich würde auf Gewehrmunition tippen. Kaliber 7.62. Was können Sie mir noch erzählen?«

»Der Schuss traf die Frau in die Stirn. Man erwartet dann immer eine schlimme Sauerei. Hier gab es aber nur das Einschussloch. Keine Austrittswunde.«

»Was Sie meinen, nennt sich ›Krönleinschuss‹. Nach dem Arzt, der das Phänomen als Erster in der Fachliteratur beschrieben hat, einem Schweizer, so viel ich weiß.«

Für einen Vortrag über die Geschichte der Schusswaffen und der fürchterlichen Dinge, die Menschen anderen Menschen mit ihrer Hilfe zufügen konnten, war Hardenberg nicht hier. Und eigentlich war er auch zu müde. Aber der Techniker dozierte weiter.

»Bei Militär- oder Jagdwaffen und unter Verwendung von Hochgeschwindigkeitsmunition kann das vorkommen. Auch bei Suiziden mit großkalibrigen Handfeuerwaffen und Einschuss durch die Mundhöhle soll das schon passiert sein. Der Schusskanal dehnt sich radial aus und …« Er führte die Hände mit gekrümmten Fingern zusammen und dann schlagartig wieder auseinander. Dabei spreizte er die Finger und ahmte ein Explosionsgeräusch nach. Hardenberg verzog das Gesicht. »Sie ist aber aus der Distanz erschossen worden, oder? Hat jemand den Schuss gehört?«

»Nein niemand. Und das am Samstagvormittag, mitten in der Stadt.«

»Hm …« Der Techniker runzelte erst die Stirn, dann verengte er die Augen und grinste listig. Aufgekratzt ging er zu einem Schrank mit einer Anzahl flacher Schubladen und zog eine von ihnen heraus. Seine Augen suchten konzentriert Reihen verschiedener Patronentypen ab. Die Erste hatte er gleich gefunden. Nach weiteren fünf Sekunden griff er zufrieden eine weitere Patrone heraus.

»Die Wirkweise eines Hohlspitzgeschosses muss ich Ihnen ja sicher nicht beschreiben.« Musste er nicht, tat er trotzdem. »Das Projektil trifft auf einen harten, festen Widerstand, verformt sich, verliert Energie und fliegt als tödlicher Pilz weiter. Die ›Mannstoppwirkung‹ ist größer, die Letalität auch. Oft bleibt das Geschoss im Gewebe stecken.«

»Schusswaffentote stehen bei uns nicht gerade auf der Tagesordnung. Schon gar nicht durch Gewehrschüsse aus der Distanz.«

»Wie groß war die Entfernung denn?«

»Sechsunddreißig Meter.«

Der Mann lächelte und winkte ab.

»Das stellt auch für einen Sportschützen oder Jäger kein Problem dar. Interessanter ist da die verwendete Munition. Hohlspitzgeschosse haben auch ein paar ballistische Vorteile. Die Gewichtsverteilung ist für eine stabile Flugbahn günstiger. Am auffälligsten ist aber, dass niemand etwas gehört hat. So ein Schuss ist nicht nur laut, er ist auch kein alltägliches Geräusch. Also hierzulande jedenfalls nicht. Ein Schalldämpfer dämpft den Mündungsknall, nicht jedoch den Überschallknall des Projektils. Dafür braucht es entsprechende Munition mit angepasster Treibladung. Was auch die Durchschlagwirkung reduziert und die Reichweite einschränkt. Aber alles unter hundertachtzig Meter sollte für kein Gewehr mit Schalldämpfer ein Problem sein.«

Er hielt Hardenberg eine Patrone hin. Hardenberg nahm sie und betrachtete sie. Eine Gewehrpatrone sah für ihn wie eine andere aus.

»›Kaliber 7.62 x 51 NATO‹. Die wird auch vom G22 der Bundeswehr verschossen.«

»Fallen solche Waffen nicht unter das Kriegswaffenkontrollgesetz?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Unter das Kriegswaffenkontrollgesetz fallen nur automatische Schusswaffen. Sturmgewehre und so was. Keine halbautomatischen Waffen. Sonst fiele ihre Dienstwaffe auch darunter.«

Er ging weiter zu einem verschlossenen Stahlschrank, holte einen Schlüsselbund hervor, öffnete den Schrank und nahm ein Gewehr heraus.

»Und Repetiergewehre wie das hier schon gar nicht. Accuracy International Arctic Warfare Suppressed «. Das ist die Ausführung mit Schalldämpfer. Mit anderer Zieloptik ist es bei der Bundeswehr als G22 in Betrieb.«

Hardenberg gab die Patrone zurück und nahm mit spitzen Fingern das Gewehr entgegen. Beeindruckend waren die vielen Einstellmöglichkeiten und das Zielfernrohr. Dass jemand so viel Aufwand trieb, nur um ein Tötungsinstrument zu entwerfen und herzustellen, verstörte ihn mehr als eine Tötung im Affekt mit einem gerade bereitliegenden Gegenstand.

»Und so was ist frei verkäuflich?«

»Wenn Sie genügend Geld haben. Billig ist das nicht, aber auch nicht unerschwinglich. Und was heißt schon ›frei verkäuflich‹? Im nächsten Sportgeschäft bekommen Sie das nicht, das ist klar. Aber im Internet … … notfalls im Darknet …« Seine Begeisterung war verschwunden. Er zuckte mit den Schultern. »Wenn’s nach mir ginge, dürfte es so was gar nicht geben. Aber die Präzision und Raffinesse der Mechanik hat auch was Faszinierendes. Privat fasse ich so was nicht an. Wenn ich Präzisionsmechanik erleben will, kaufe ich mir einen Schweizer Armbandchronometer mit Glasboden. Ist mindestens genauso teuer, aber schöner. Und tut niemandem weh.«

Der Mann wurde Hardenberg doch noch sympathisch.

»Wie war Ihr Name noch mal?«

»Kerstgens. Stefan Kerstgens.«

Hardenberg gab Kerstgens das Gewehr zurück. Der stellte es zurück, dann sah er den Hauptkommissar ernst an.

»Der Schütze muss trainiert haben. Und zwar mit dem Gewehr, mit dem er auch die Tat verübt hat. Sechsunddreißig Meter sind keine problematische Distanz, aber er muss mit den Eigenheiten der Waffe vertraut gewesen sein. Jede Waffe ist anders, und damit meine ich nicht die Unterschiede zwischen verschiedenen Modelltypen. War es nur ein einzelner Schuss?«

»Es wurden keine Spuren weiterer Einschüsse gefunden, soviel ich weiß.«

Eine Frage, die er bei der Lagebesprechung stellen musste. Kerstgens legte die Projektile wieder an ihre Plätze.

»Ich stelle Ihnen eine Liste mit infrage kommenden Gewehrtypen zusammen. Interessant sind der Schalldämpfer und die Munition. In Nordrhein-Westfalen müssen Schalldämpfer in die Waffenbesitzkarte eingetragen werden. Immer vorausgesetzt, alles wurde legal erworben. Jäger verwenden manchmal Schalldämpfer.«

»Was ist mit den Fähigkeiten? Braucht es eine spezielle Ausbildung für solch eine Waffe und solch einen Schuss?«

Kerstgens schürzte die Lippen, an der Nasenwurzel bildeten sich zwei senkrechte Skeptikerfalten.

»Ihr Täter ist Jäger, Sportschütze, jemand mit militärischer Ausbildung. Oder ein einigermaßen talentierter Amateur, jemand, der gerne schießt und sich um Vereine, Organisationen oder Gesetze einen Scheiß kümmert.«

»Na prima, das schränkt den möglichen Täterkreis ja immens ein. Hatten Sie es schon mal mit Auftragsmördern zu tun?«

»Sie meinen, wie im Film? So eine Art ›Schakal‹? Nein, noch nie. Zum Glück. Aber so was soll’s geben.« Er wurde kurz nachdenklich. Dann, als erinnere er sich plötzlich, dass da noch jemand war, blickte er auf und lächelte Hardenberg freundlich an. »Wenn Sie die Waffe gefunden haben, können wir einen Vergleichsbeschuss durchführen.«

Hardenberg wollte sich schon verabschieden, da fiel ihm noch etwas ein. Die Frage gehörte nicht wirklich zum Fachgebiet des Technikers.

»Herr Kerstgens, haben Sie eine ungefähre Ahnung, wie viele Waffen es in Deutschland gibt?«

»Aus dem Kopf heraus kann ich Ihnen das auch nicht sagen. Vor zwei, drei Jahren war mal von fast sechs Millionen legalen Waffen die Rede, glaube ich. Die Menge der illegalen Waffen ist aber sehr viel größer.«

»Wie viel größer?«

Kerstgens zuckte mit den Schultern.

»Hab mal was von zwanzig Millionen gelesen. Aber fragen Sie mich nicht, wie diese Zahl zustande kommt.«

Hardenberg schaute ungläubig und presste einen heiseren Ausruf des Erstaunens hervor.

»Zwanzig Millionen!«

Er bedankte und verabschiedete sich. Immerhin, über Waffen wusste er jetzt ein klein wenig mehr. Aber gleich war da wieder sein altes Problem. Er hatte ein paar Antworten – und einen Haufen neuer Fragen.

Es war bereits dunkel, doch für Ende April noch erstaunlich warm. Die Fahrt nach Hause würde nicht ausreichen, um die Stimmung, in der er sich befand, zu neutralisieren. Für gewöhnlich ging er in solchen Fällen über den Fürstenwall zum Parlamentsufer, setzte sich auf eine Bank und mühte sich, den Tag zumindest soweit aus dem Kopf zu bekommen, dass er zu Hause innere Ruhe vortäuschen konnte. Andererseits, es war Samstagabend und der Frühling machte sich mit Macht bemerkbar. Am Rhein würden mehr Menschen als üblich unterwegs sein, die Pärchen brauchten die Bänke. Im Übrigen waren Laura und Lisa nach Hamburg gefahren, zu Lauras Eltern. Er wäre allein im Haus, mit Tabberius . Vor fünf Jahren hatten sie den Kater als Junges aus dem Tierheim geholt und irrtümlich zunächst angenommen, er würde nun ihnen gehören. Nein, Tabberius würde auch noch irgendwo draußen herumstreunen. Was sprach also dagegen, seine Sportpläne gleich heute in die Tat umzusetzen? Eine Runde Laufen, Körper und Seele auf dasselbe Müdigkeitsniveau bringen. Bei seinem Fitnesslevel würde das sicher nicht lange dauern.

Das Lächeln der Toten

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