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Kapitel 4
ОглавлениеDer schwarze BMW war noch etliche Wagenlängen entfernt. Kein Problem, keine Gefahr. Kein Konfliktpotenzial. Doch ohrenscheinlich litt der Fahrer unter Hup-Tourette. Vermutlich war es nur seine übliche Art, mit niederen Daseinsformen, wie zum Beispiel Fußgängern, zu kommunizieren. Guten Morgen. Schöner Tag, nicht wahr? Langsamer fuhr er nicht. Hardenberg zeigte sich unbeeindruckt. Beschwichtigend hob er die Hand, lächelte freundlich und presste die Erwiderung zwischen den Zähnen hervor: »Arschloch«.
Er klingelte dort, wo Rosinsky es ihm beschrieben hatte.
»Fünfte Etage, da, wo kein Name neben der Klingel steht. Der Hausverwalter wohnt mit seiner Frau in Parterre und ist ziemlich neugierig. Besser, wenn wir ihn nicht noch neugieriger machen, denke ich.«
Gut gemeint, aber nutzlos. Kaum war Hardenberg die drei Stufen des Eingangsbereichs hochgeeilt, da öffnete sich die Tür der Erdgeschosswohnung und ein Mann von vielleicht Mitte fünfzig stellte sich Hardenberg schwerfällig in den Weg.
»Darf ich fragen, wer Sie sind und zu wem Sie wollen?«
Groß, massig, unfreundlich. Strickjacke, Cordhose, Filzpantoffel, Lesebrille am Band, unter dem Arm die Samstagsausgabe einer Zeitung mit großen, fetten Buchstaben auf der Titelseite – das Stereotyp eines Hausmeisters, der hauseigene Treppenterrier. Hardenberg fand ihn spontan unsympathisch.
»Von mir aus.« Ohne den Wachhabenden weiter zu beachten, zwängte er sich vorbei Richtung Aufzug. Ein Fehler. Beinahe wäre Hardenberg die Eingangstreppe rücklings wieder hinuntergefallen. Schneller als erwartet hatte der Mann sich gedreht, einen Ausfallschritt gemacht, Hardenbergs Sakko zu packen bekommen und ihn zurückgezerrt. Hardenberg wurde wütend. Zum einen über das Verhalten dieses Obernachbarn, mehr noch aber über sich selbst. Er hätte es wissen müssen. Wichtigtuern wie diesem begegnete er immer wieder. Breitbeinig baute sich der mutmaßliche Hausmeister vor ihm auf, hob das Kinn und sah auf ihn herab. Das mit dem Kinnheben wäre gar nicht nötig gewesen, aus seinen knapp zwei Metern Höhe hätte er auch ohne diese Pose auf Hardenberg herabsehen können. Hardenberg beherrschte sich, hatte aber große Lust, dem Mann eine Lektion zu erteilen.
»Was war der Zweck dieser Aktion? Nein, Halt, ich korrigiere mich. Der Zweck ist ja offensichtlich, nur der Grund ist mir nicht vollständig klar. Hab ich Sie vielleicht unbeabsichtigt beim Korinthenkacken gestört?«
Der Mann sah weiter auf ihn herab. Arrogant, selbstherrlich, begriffsstutzig.
»Wir haben es nicht gerne, wenn hier Leute ins Haus kommen, die wir nicht kennen.«
Das wurde ja immer besser. Wofür hielt der Mann sich? Und wofür hielt er dieses Haus?
»Interessant. ›Wir‹. Plural Majestatis oder haben Sie noch einen Kollegen verschluckt? Ist das Ihr Haus?«
»Ich bin hier der Hausverwalter.« ›Verwalter‹. Hardenberg verdrehte die Augen. »Ich sorge hier für Ordnung. Also, wer sind Sie und was wollen Sie hier?«
Hardenberg griff in die Innentasche seines Sakkos und sorgte dafür, dass dabei seine Dienstwaffe bemerkt wurde. Dann präsentierte er seinen Dienstausweis.
»Kriminalhauptkommissar Hardenberg. Dieses Haus ist in den Fokus einer polizeilichen Ermittlung gerückt.« ›Polizeiliche Ermittlung.‹ ›Fokus‹. Pressekonferenz-Jargon. Der Typ wollte sich wichtigtun? Na gut, dann bekam er die passende Antwort. »Sie überschreiten hier eindeutig Ihre Kompetenzen und behindern unsere Arbeit. Meine Kollegen haben sich doch bereits bei Ihnen angemeldet, oder? Und Sie haben bestimmt mitbekommen, dass ich nicht mit Gewalt eingedrungen bin, sondern ganz offenbar von jemandem hineingelassen wurde. Die Mieter des Hauses haben Verfügungsgewalt über sämtliche Ein- und Ausgänge, die zu ihrer Wohnung und den zugehörigen Kellerräumen führen. Selbst der Hausbesitzer und die Polizei könnten da ohne Weiteres nichts machen. Und Sie …« Dabei blickte er dem knapp fünfzehn Zentimeter größeren Mann, der sich mühte, seine beginnende Verunsicherung zu überspielen und den Kopf immer weiter senkte, von unten herab in die Augen. »… haben von sich aus hier überhaupt nichts zu entscheiden. Haben Sie das verstanden?«
»Ich wusste ja nicht …«
»Glaube ich Ihnen sofort. Eine Anzeige gegen Sie sowie eine Benachrichtigung der Hausbesitzer über Ihre Eigenmächtigkeit und Anmaßung behalte ich mir vor.«
Dieser Typ war bestimmt auch zu den Mietern ein Ekel. Hoffentlich hatten auch einige von ihnen den Disput mitbekommen. Jeden Tag eine gute Tat. Das mit der polizeilichen Ermittlung hätte er gerne weniger nachdrücklich erwähnt. Er hatte sich hinreißen lassen, doch der dramatische Effekt schien es wert. Apropos dramatischer Effekt.
»Wahrscheinlich kommt gleich noch eine Mitarbeiterin von mir. Ein guter Rat: Legen Sie sich nicht mit ihr an. Sie ist sehr viel ungeduldiger als ich. Zudem ist sie mehrfache Deutsche Meisterin im Karate.«
Ersteres war unbestreitbar wahr, Letzteres zumindest nicht weit von der Wahrheit entfernt. Ob sie eine Meisterschaftsurkunde besaß, wusste Hardenberg nicht, doch er hatte schon mitbekommen, wie Sciascia einen Kerl mit einem Tritt ans Kinn ausgeknockt hatte. Aus dem Stand heraus. Er hoffte, dass der Hausmeister nicht zu dem Typ Mann zählte, der für Demütigungen seine Frau büßen ließ. Das Wortgefecht, das er beim Warten auf den Aufzug mitbekam, bewies allerdings, dass er sich diesbezüglich keine Sorgen zu machen brauchte. Hörte sich an, als wäre die Frau des Hausmeisters größer als ihr Mann.
Die Tür zur Wohnung im fünften Stock stand offen.
»Schuhe abtreten!« Hardenberg schreckte auf. Leffert kam ihm entgegen. »War ein Witz. Wir sind praktisch fertig. Aber ziehen Sie sich trotzdem noch Überschuhe und Handschuhe an. Sicher ist sicher. Ist ganz interessant hier.«
Die Wohnung war völlig leer. Im Eingangsbereich war die Tapete vollständig abgerissen, der nackte Putz kam zum Vorschein. Das mutmaßliche Wohnzimmer hingegen war bereits vollständig mit Raufaser tapeziert. An der Fensterfront standen Rosinsky und Schmitz vor einem langen Tapeziertisch, dessen Schmalseite sich unmittelbar vor der rechten Fensteröffnung befand. Sie unterhielten sich.
»Tja, ich glaube, wir haben tatsächlich den zweiten Tatort gefunden. Sehen Sie.« Schmitz wies auf den Tapeziertisch und zeigte ihm einen winzigen Papierfetzen in einem Asservatenbeutel. »Der Täter hat vermutlich im Liegen geschossen. Und er trug sehr wahrscheinlich so einen Anzug hier.« Sie zupfte an dem Schutzoverall, den sie trug. »Nur in schlechterer Qualität, sonst hätten wir nicht mal das hier.«
»Was ist mit der Eingangstür?«
»Keine Hinweise für einen Einbruch, weder hier noch an der Haustür. Der Täter muss Schlüssel gehabt haben.« Leffert war wieder hereingekommen und stand hinter Hardenberg. Er ging an das Fenster und sah hinaus. Das Haus hier war mit Sicherheit sehr viel jünger als jenes, in dem die Tote gefunden worden war. Die Geschosshöhe war geringer, der fünfte Stock hier lag nur wenig über dem vierten Stock dort. Hardenberg war kein Scharfschütze, aber so stellte er sich eine optimale Schussposition vor. Schusswaffen mochte er im Allgemeinen nicht besonders. Sowenig wie alles andere, was keinem anderen Zweck diente, als dem, andere zu verletzen oder zu töten.
»Trotzdem. Wie kam er unbemerkt ins Haus? Sie sind dem Hausmeister doch auch begegnet, der Mann ist wie Zerberus und Argus in Personalunion. An dem und seiner Frau kommt doch niemand ohne Unbedenklichkeitsprüfung vorbei.«
Rosinsky hob den Finger, als wollte er sich in der Schule melden. Hardenberg nickte ihm zu. »Ja bitte, David. Sie haben etwas zu sagen.« Er lächelte.
»Dazu hätten wir bereits eine Theorie. Es scheint, als hätte der Täter längere Zeit hier verbracht. Mehrere Stunden womöglich. Zwar hat er sich bemüht, alles so sauber wie möglich zu hinterlassen, doch wir haben Spuren gefunden. Sehr wenig zwar, doch etwas gibt es. Er muss getrunken haben. Und er muss, ähhh, das Wasser wieder losgeworden sein.«
»Sie meinen, er hat gepinkelt.«
»Genau. Hätte er die Toilette benutzt und gespült, wäre das in der Wohnung unter uns sehr wahrscheinlich aufgefallen. Dass diese Wohnung hier seit Wochen leer steht, ist allgemein bekannt. Wir haben übrigens bereits gefragt, die Mieter hier drunter haben nichts gehört.«
»Mhm, interessant. Was haben Sie denn gefunden.«
»Ein, zwei Brotkrümel und einen kleinen Wasserfleck. Und, nun ja, er muss in eine Flasche gepinkelt haben und dabei …«
»Sie meinen, ohne Zielfernrohr trifft er schlecht. Wie schön, dass auch Killer mal Pipi müssen.«
»Ja, aber auch darauf war er vorbereitet. Er hat sauber gemacht. Wir haben Reste von Putzmittel gefunden. Ganz frisch. Also von heute Morgen oder höchstens von vergangener Nacht. Und da sollte niemand in der Wohnung gewesen sein.«
»Na prima. Die Krümel kann auch einer der Maler hinterlassen haben, ebenso wie den Wasserfleck. Das einzige Indiz dafür, dass jemand vor Kurzem hier war, sind Reste von Putzmittel und die Vermutung, dass derjenige, der hier sauber gemacht hat, sich ungeschickt beim Pinkeln angestellt hat.«
»Und was ist mit der Position des Tapeziertisches?«
»Sie vermuten, er hat auf dem Bauch gelegen und gewartet, bis das Mädchen das Fenster öffnet. Ergibt Sinn, kann aber auch ganz anders gewesen sein. Die Wohnung steht leer und wird renoviert.«
Rosinsky, Leffert und Schmitz hatten ja recht. Es klang alles plausibel, nachvollziehbar. Position, Entfernung, Schusswinkel, Gelegenheit – was sie beschrieben, war das wahrscheinlichste Szenario.
»Nennen wir es mal eine Hypothese, denn belastbare Indizien oder gar Beweise für eine Theorie haben wir nicht. Demnach muss der Täter sehr früh heute Morgen oder gar heute Nacht mit einem Schlüssel in Haus und Wohnung gekommen sein, hat gewartet, geschossen und ist wieder gegangen. Selbst wenn er unbemerkt in der Nacht ins Haus kam, wie ist er wieder verschwunden? Bis jetzt deutet alles darauf hin, dass der tödliche Schuss zwischen neun Uhr dreißig und zehn Uhr dreißig fiel. So gegen dreizehn Uhr wurde die Tote entdeckt. In der Zeit zwischen zehn Uhr dreißig und dreizehn Uhr muss der Täter also das Haus verlassen haben. Nur wie?«
»Ein Maleroverall und ein Koffer, von dem man auch vermuten könnte, dass er Werkzeug enthält. Er ist einfach gegangen. Ganz unaufgeregt.«
»Ziemlich kaltblütig. Aber an dem Kerl ist bisher alles kaltblütig.«
»Wieso eigentlich ›Kerl‹?«
Hardenberg hatte nicht bemerkt, wie Sciascia hereingekommen war. Nun stand sie in der Tür und stellte die nahe liegende Frage.
»Vielleicht weil Gewaltverbrechen mehrheitlich von Männern begangen werden. Aber Sie haben natürlich völlig recht. Grundsätzlich könnte es auch eine Frau gewesen sein.«
»Zumal das mit der Gewalt hier auch eher indirekt ist, ein Gewaltakt aus der Distanz. Der Täter steht dem Opfer nicht unmittelbar gegenüber. Er sieht durch ein Zielfernrohr, er berührt das Opfer nicht. Und wenn er – oder sie – so clever, vorausplanend und strukturiert ist, wie wir bis jetzt annehmen, dann sollten wir auch davon ausgehen, dass er oder sie sich im Klaren über die Wirkung des Schusses war. Was ich meine ist: Er oder sie wusste, dass er keine große Sauerei würde mitansehen müssen.«
Auf Anhieb fiel dazu niemandem ein gutes Gegenargument ein. Bis jetzt schien alles an dieser Tat bis ins Detail geplant. Warum nicht auch dieses distanzierte Verhältnis zum Opfer im Augenblick der Tat. Und dann die Methode. Thomsen meinte, Leonie Büsch sei auf der Stelle tot gewesen. Mit anderen Worten: Sie hat nicht gelitten. Und der Schuss hatte sie kaum entstellt. War auch das Teil des Plans? Er nickte seiner Mitarbeiterin anerkennend zu und lächelte.
»Haben Sie die Mitbewohnerin bei ihrer Mutter abgeliefert? Wie war die Mutter so?«
»Genau wie die Tochter. Was sie eingepackt hat, fand ich auch nicht uninteressant.«
Näher führte Sciascia die Bemerkung nicht aus. Hardenberg sah sie verdutzt an, fragte aber nicht weiter nach. Konnte sein, dass er noch Gelegenheit bekommen würde, diese Familie kennenzulernen.