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Kapitel 8

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Der Wecker klingelt. Dieselbe Zeit, jeden Morgen, seit sie nach Düsseldorf gezogen sind, fünfzig Jahre ist das her.

Davor, da war er Fahrdienstleiter in Duisburg gewesen, hatte die Ausbildung begonnen, als er fünfzehn war. Zwei Jahre später hatte er Jutta kennengelernt, auf einer Feier bei einem Kollegen. Sie war ein Jahr jünger als er, machte eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsgehilfin. Hübsch war sie gewesen, sehr hübsch. Und klug, Realschulabschluss, hatte mehr auf dem Kasten, als er. Sie anzusprechen, das hatte er sich nicht getraut. Also ergriff sie die Initiative. Verabredung zum Eisessen, Kino, Spazierengehen mit Händchenhalten. Drei Wochen hatten sie gebraucht für den ersten Kuss. Weitere fünf Jahre später hatten sie geheiratet, kurz nach Juttas einundzwanzigstem Geburtstag.

Sie hatte ihn gedrängt, mehr aus sich zu machen. Er war immer so schnell zufrieden. Kein Ehrgeiz. Also ging er zur Abendschule, machte das Fachabi nach. Danach dann Weiterbildung zum Fachwirt im Bahnbetrieb. Als Monika zur Welt kam, war Jutta vierundzwanzig. Sie war so schön damals, sie waren so glücklich.

Als sie nach Düsseldorf zogen, wegen des neuen Jobs, war Monika drei Jahre alt. Jetzt wohnt sie in Stockholm, ist verheiratet, hat selbst einen Jungen und ein Mädchen und arbeitet als Internistin in einem Krankenhaus. Einmal im Jahr kommt sie nach Düsseldorf, mit Familie, wenn es geht, einmal im Jahr sind Jutta und er nach Schweden geflogen. Aber Monikas Kinder sind auch schon erwachsen, gehen eigene Wege. Ihr Mann ist ebenfalls Arzt. Beide sind viel beschäftigt. Er war letzten Herbst das letzte Mal dort, in Stockholm. Allein, denn Jutta war im Sommer zuvor gestorben.

Schlaganfall, ganz plötzlich, ohne Vorwarnung. Eines Sonntagmorgens hatte sie entsetzliche Kopfschmerzen und lallte. Er hatte sofort den Notarzt gerufen, sie waren ins Marienhospital gefahren. Sie kam gleich auf die Intensivstation, doch abends war sie tot. Der Arzt hatte es ihm erklärt. Es sei ein geplatztes Aneurysma gewesen, hatte er gesagt, so eine kleine Aussackung an einer Gefäßwand im Gehirn. »Stellen Sie sich einen Schlauch vor. Und in der Wand dieses Schlauchs gibt es eine Stelle, die ist dünner als der Rest der Schlauchwand. Im Laufe der Zeit bildet sich durch den permanenten Druck dort eine kleine Beule, eine Aussackung eben. Wenn der Druck nun zu groß oder die Wand dort immer dünner wird, dann platzt diese Aussackung. Das ist im Gehirn ihrer Frau passiert. Es tut mir sehr leid.« Ursache könne eine Überanstrengung sein, plötzlich erhöhter Blutdruck oder ganz einfach Abnutzung, das Alter. Wahrscheinlich hätte sie dieses Aneurysma bereits seit vielen Jahren gehabt. Schlaganfälle dieser Art endeten in der Hälfte aller Fälle tödlich, hatte er gesagt, in ihrem Alter noch häufiger. Eine Chance hätte sie kaum gehabt.

Er hatte es nicht begriffen. Das, was der Arzt im erklärt hatte, das schon, er war ja nicht blöd. Aber dass sie tot war, das konnte nicht sein. Sechzig Jahre. Sechzig Jahre waren sie zusammen gewesen. Er hatte vergessen, wie es ohne sie gewesen war. Er hatte es ihr viel zu selten gesagt, es klang immer so kitschig, so schwülstig, so trivial, wenn man es aussprach. Doch es war schlicht die Wahrheit. Nach sechzig Jahren miteinander war es keine Übertreibung mehr. Sie war die Liebe seines Lebens gewesen.

Monika war mit Mann und Kindern zur Beerdigung gekommen. Sie war so lange geblieben, wie sie konnte, und hatte ihm angeboten, doch mit ihr zu kommen, in ihrem Haus zu leben, es wäre mehr als genug Platz, jetzt, wo die Kinder ausgezogen wären. Doch was hätte er dort tun sollen? Es war nicht die fremde Sprache, die ihn ängstigte. Monika und ihr Mann arbeiteten die meiste Zeit. Seine Enkel kannten ihn kaum, er war praktisch ein Fremder für sie. Hier jedoch, hier hatte er noch ein, zwei Freunde, alte Kollegen, langjährige Nachbarn. Vor allem aber: Er wäre immer noch bei ihr, irgendwie. Die Wohnung, in der sie so viele Jahre gelebt hatten. Das Bett, dass er mit ihr geteilt hatte. Die Dinge, die ihr gehört hatten. Es gab Menschen, die zogen in solchen Situationen einen Schlussstrich, entfernten alles aus ihrer Umgebung, das Erinnerungen in sich barg. Allein der Gedanke daran erschreckte ihn und verursachte Abscheu. Warum hätte er so etwas tun sollen? Sechzig Jahre auslöschen für die wenigen Jahre, die ihm noch blieben? Wo war da der Sinn? Wenn er die Stelle auf dem Sofa sah, wo sie immer gesessen hatte, wenn sie gelesen, gestrickt oder ferngesehen hatte, so sah er sie immer noch vor sich. Die meisten Dinge in der Wohnung bargen Spuren von ihr, Erinnerungen, Geschichten. Er war nicht bereit, das aufzugeben. Er wollte nicht. Er konnte nicht.

Als er zwölf Jahre zuvor in Pension geschickt worden war, da hatte er auch nicht aufgehört, den Wecker zu stellen. Er stand zur selben Zeit auf, wusch und rasierte sich, machte Frühstück. Dann füllte er die Thermoskanne mit Tee, packte Brote und Obst ein, schnappte sich seine Fotoausrüstung und ging. Statt zur Arbeit fuhr er nun in die Stadt oder raus in die Natur. Jutta hatte ihm die Kamera geschenkt und sie hatten sich einen Computer angeschafft. Er fotografierte Straßen, Häuser, Landschaften und Tiere. Nie Menschen. Das traute er sich nicht. Zu Hause bearbeitete er die Bilder dann am Computer, einen Kurs dafür hatte er auch belegt. Oft fuhren sie zusammen raus, vor allem an den Wochenenden.

Nun ist sie tot und wieder sieht er keinen Grund, sich im Bett zu verkriechen. Als er aus Schweden zurückgekommen war, hatte er sich einen Campingstuhl gekauft. So ein klappbares Ding aus Aluminiumrohren und festem Stoff, mit Armlehnen und Getränkehalter, mit einer Transporttasche zum Umhängen. Noch immer verlässt er zur selben Zeit das Bett. Auch sonst behält er alle Rituale bei. Nur fährt er nicht mehr in die Stadt oder raus ins Grüne. Eigentlich, denkt er, tue ich jetzt beides gleichzeitig. Er fährt auf den Friedhof, an ihr Grab, packt den Stuhl aus, klappt ihn auf und stellt die Tasche neben sich. Dann nimmt er die Zeitung oder ein Buch, liest und spricht hin und wieder zu dem Stein, in dem ihr Name eingraviert ist, und, in naher Zukunft, darunter auch seiner. Nein, es gibt nur noch zwei Orte, an denen er gern ist. Jeder andere Ort ist doch nur eins: nicht bei ihr.

Er sitzt auf seinem Stuhl, trinkt Tee aus einem Campingbecher und liest in ›Der große Gatsby‹. Er will nicht, dass ihn eventuell jemand anders hört, aber sie hatte das Buch immer geliebt und so liest er halblaut. Es ist vollkommen unsinnig, doch ihn erfüllt es mit Frieden. Wärmt ihn. Gemeinsam hatten sie den Film gesehen, im Kino, den mit Robert Redford, und beide anschließend den Roman gelesen. Am meisten liebten beide den Schluss des Buches. Er ist nun achtundsiebzig Jahre alt und allein. Die Zukunft, sie interessiert ihn nicht mehr. Er wehrt sich nicht mehr, stemmt sich nicht mehr gegen den Strom. Die Vergangenheit, das ist der Ort, wo er hinwill. Sie wartet dort auf ihn. So lässt er sich treiben und hofft, dass er ihr näherkommt.

Die Kugel tritt zwischen dritter und vierter Rippe ein, streift die Wirbelsäule und wird minimal aus ihrer Bahn gelenkt. Sie dringt in die gefüllte linke Herzkammer ein, das Herz zerbirst, der Blutdruck fällt abrupt. Doch es ist nur das Ende einer Explosion, einer lautlosen und unsichtbaren Detonation, der langsamsten Detonation aller Zeiten. Sie dauerte fast ein Jahr.

Sein Bewusstsein erlischt auf der Stelle, die Muskulatur erschlafft. Das Buch fällt zu Boden. Der Leib kollabiert, welkt dahin, neigt sich träge vornüber und rutscht über die Sitzfläche nach vorn auf die Knie. Der leichte Stuhl kippt zur Seite, dorthin, wo die Tasche steht, mit Broten und Obst. Aller Kraft und jeden Willens beraubt, klappen Oberschenkel, Oberkörper und Kopf nach vorn. Die Bewegung endet, als sein Gesicht in die Erde taucht. Die Erde über ihrem Grab.

Wahrnehmen und Erkennen, Erinnern und Fühlen, alles endet. Gegenwart erlischt. Die Vergangenheit, sie ist da. Er ist nun Teil von ihr.

Das Lächeln der Toten

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