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Kapitel 5
ОглавлениеDer Moment rückte näher. Unerbittlich, es ließ sich nicht vermeiden. Er überlegte, wen er dabei an seiner Seite haben wollte. Sciascia hatte ihn heute bereits mit unbekannten Qualitäten überrascht. Und er hatte es immer hilfreich gefunden, bei solchen Anlässen eine Kollegin dabei zu haben. Andererseits sah sie entfernt aus wie eine etwas ältere Version von Leonie Büsch. Figur, Haarfarbe, Gesichtsform, alles durchaus ähnlich. Das wollte er den Eltern nicht zumuten. Und, so viel gestand er sich ein, sich selbst auch nicht. Rosinsky hatte bereits in der Vergangenheit Empathievermögen bewiesen. Und für den Fall, dass die Eltern religiös waren, könnten sich sein persönlicher Glaube und seine katholische Erziehung als förderlich erweisen. Hardenberg selbst konnte in dieser speziellen Hinsicht nur wenig Hilfreiches beisteuern.
»David, Sie kommen mit mir zu den Eltern.
Elena, Sie schnappen sich ein paar uniformierte Kollegen und befragen die Hausbewohner noch mal, ob sie jemanden beim Verlassen des Hauses bemerkt haben. Jemanden, der ihnen unbekannt war. Vor allem interessiert mich, wie der Schütze unbemerkt am Empfang vorbeikommen konnte.«
Sowohl Rosinsky als auch Sciascia sahen ihn entgeistert an.
»Ja, ich weiß. Doch ich versichere Ihnen, ich habe meine Gründe. Sie haben heute beide wirklich hervorragende Arbeit geleistet, aber ….«
Rosinsky ließ die Schultern hängen. Er atmete einmal tief durch, sein Gesicht war der Inbegriff von Resignation und Schicksalsergebenheit. Machte er gut. Sciascia schmollte. Sie sah Hardenberg vorwurfsvoll an. Eine zweite Zeugenbefragung. Was kam als Nächstes? Dritte Internetrecherche? Ihr Schweigen dröhnte Hardenberg in den Ohren.
»Elena, halten Sie mich für feige, aber ich möchte den Eltern nicht den Tod ihrer Tochter mitteilen und dabei jemanden an meiner Seite haben, der ihrer Tochter ähnelt. Und sei es auch nur entfernt.«
Die Erklärung schien sie zu besänftigen.
»Von mir aus dürfen Sie dem Concierge und seiner Frau auch ein bisschen Angst einjagen. Aber gehen Sie nicht zu weit. Ein klein wenig habe ich bereits vorgearbeitet. Lassen Sie ein paar Andeutungen bezüglich rechtlicher Konsequenzen fallen. Bleiben Sie vage. Machen Sie einfach ein sorgenvolles Gesicht, wenn Sie Worte wie ›Aussage‹, ›Wahrheit‹, ›Zeugen‹ und so weiter benutzen. Und bauen Sie den Begriff ›Kompetenzüberschreitung‹ irgendwie ein. Stutzen Sie ihn zurecht. Sie verstehen schon.«
Das tat sie, da war er sich sicher.
Rosinsky fuhr. Von unterwegs aus gab Hardenberg telefonisch (ja, ein Lob auf das Mobiltelefon) Instruktionen, Finn Küppers in Stuttgart ausfindig zu machen und zu informieren. Die Adresse von Leonie Büschs Eltern hatte Sciascia ihm von der Mitbewohnerin besorgt. Das Ziel lag etwas außerhalb von Meerbusch, halb auf dem Weg nach Krefeld.
Eine halbkreisförmige, mit Kies bedeckte Auffahrt führte zum überdachten Außenbereich des Eingangs. Der Kiesweg führte weiter. Zu einer Garage mit mindestens zwei Stellplätzen. Das Haus war durchaus beeindruckend, aber alles andere als protzig. Zwei etwa im Dreißig-Grad-Winkel aufeinandergesetzte Quader. Beton, Holzpaneele und viel Glas. Modernistisch. Einen entfernten Verwandten des Hauses, größer, extremer, meinte Hardenberg einmal in Spanien gesehen zu haben.
»Wollen Sie diesmal?« Hardenberg sah Rosinsky an, dass er diese Frage am liebsten nicht gestellt bekommen hätte. Er seufzte und nickte wortlos. »Sie wissen doch noch: Nicht im Türrahmen. Lassen Sie sich hereinbitten und wenn möglich bestehen Sie darauf, sich zu setzen. Letzteres klappt nicht immer, manche Menschen nehmen schlechte Nachrichten lieber im Stehen entgegen. Aber dann – ganz wichtig – drucksen Sie nicht herum, vermeiden Sie Umschreibungen, Metaphern, Analogien und Ähnliches. Das funktioniert nicht. Es verunsichert nur, quält unnötig, steigert die Aufregung. Nicht nur bei den Eltern. Machen wir uns nichts vor: Was wir mitteilen müssen, ist und bleibt grausam. Wir können die Dinge nicht leichter machen. Aber wir können uns alle erdenkliche Mühe geben, sie nicht schwerer zu machen. Sprechen Sie ruhig, klar und ernst, doch ohne Umschweife.«
Rosinsky nickte bloß. Sie stiegen aus, Hardenberg ließ seinem jungen Kollegen den Vortritt, wurde aber das unbestimmte Gefühl nicht los, in seiner Ansprache etwas vergessen zu haben. Rosinsky holte den Dienstausweis hervor und klingelte. Wenige Augenblicke später wurde die Tür von einer gepflegten, dezent elegant gekleideten Frau um die Fünfzig geöffnet. Sie war schlank, attraktiv und lächelte die beiden Beamten freundlich an.
»Ja bitte?«
»Frau Büsch?«
»Ja, ich bin Annette Büsch. Was kann ich für Sie tun?«
»Frau Büsch, mein Name ist Rosinsky, Kriminaloberkommissar Rosinsky. Das ist mein Kollege Kriminalhauptkommissar Hardenberg. Es wäre nett, wenn Sie uns hereinließen.«
Die Frau schaute zunächst konsterniert, trat dann aber zur Seite und bat beide herein.
»Frau Büsch, ist Ihr Mann anwesend? Wenn ja, wäre es besser, wenn er …« Er brauchte den Satz nicht zu beenden. Ein grauhaariger Mann in Blue Jeans und schwarzem Pullover kam die Treppe herunter und stellte sich als Michael Büsch vor.
Rosinsky fuhr fort. »Könnten wir uns irgendwo setzen?«
Hardenberg hielt sich ganz im Hintergrund,
Rosinsky machte seine Sache ausgesprochen gut, bis jetzt. Annette Büsch bat sie ins Wohnzimmer, wo zwei Sofas einander gegenüberstanden. Die Anordnung erinnerte Hardenberg an das Zimmer, in dem er erst vor wenigen Stunden gestanden hatte. Allerdings war hier alles ungleich größer, großzügiger, offener.
»Frau Büsch, Herr Büsch, leider müssen wir Ihnen eine sehr traurige Mitteilung machen. Ihre Tochter Leonie wurde heute Morgen tot in ihrer Wohnung aufgefunden.«
Pause. Hardenberg beobachtete die Gesichter der Eltern. Geweitete Augen, stockender Atem. Überraschung. Bestürzung. Schmerz. Aber Schock? Das hatte er schon anders erlebt. Die Mutter schien sogar noch gefasster zu sein als ihr Mann. Auch ergriff sie als Erste wieder das Wort.
»Wer hat sie gefunden? War es Emi?«
Emi. Sie sprach von Noemi de Groot. Der Gedanke war naheliegend. Aber wieso fragte sie nicht nach den näheren Umständen? Dem Wie und Warum? Schlagartig fiel ihm ein, was de Groot gesagt hatte. Sciascia war dabei gewesen, aber Rosinsky war zu diesem Zeitpunkt bereits in der anderen Wohnung. Hardenberg verfluchte sich selbst, weil er ihm auf dem Weg hierher nichts davon erzählt hatte. Das war es, was er eben noch hätte erwähnen müssen. Er ergriff das Wort.
»Frau Büsch, wir sind von der Sonderkommission für Tötungsdelikte. Ihre Tochter starb keines natürlichen Todes. Sie wurde erschossen.«
Da war er, der Schock. Das Entsetzen. Die Fassungslosigkeit. Diesmal dauerte die Pause länger. Wieder war sie es, die als Erste sprach. Doch nun zitterte die Stimme.
»Erschossen? W-wie? Von … von wem?«
»Der Schuss kam vermutlich aus einem der Häuser schräg gegenüber. Über einen möglichen Täter wissen wir noch nichts. Die Ermittlungen haben gerade erst begonnen.«
Er hielt es weder für zweckdienlich noch tröstlich, die Eltern zu diesem frühen Zeitpunkt über erste Hypothesen zum Tathergang zu informieren. Michael Büsch hatte sich jedoch inzwischen soweit gefangen, dass er Fragen stellen konnte. Oder es zumindest versuchte.
»Hat sie … … hat sie …«
»Gelitten?« Hardenberg schüttelte den Kopf. »Dem Gerichtsmediziner nach war sie auf der Stelle tot.«
»Können wir sie sehen?«
»Der Körper Ihrer Tochter befindet sich derzeit in der Gerichtsmedizin und wird obduziert. Wenn die Obduktion abgeschlossen ist, wird der Körper an ein Bestattungsinstitut übergeben. Dort können Sie Ihre Tochter dann sehen.«
»Ist sie … … ich meine, ist ihr Körper…«
Hardenberg wusste, welche Sorge den Vater umtrieb. Er schüttelte den Kopf und mühte sich um einen sanften Ton.
»Nein, sie ist nicht entstellt.«
Diese verdammten amerikanischen Krimiserien. Aber die Obduktion würde Spuren hinterlassen. Eine thanatopraktische Behandlung im Bestattungsinstitut würde diese jedoch beseitigen oder kunstvoll kaschieren. Hardenberg hatte schon übel zugerichtete Körper gesehen, die nach einer solchen Behandlung aussahen wie ein friedlich schlafender Mensch.
»Darf ich Ihnen eine Frage stellen? Oder zwei, drei?«
Die Eltern sahen sich an, nickten dann aber.
»Haben Sie einen Verdacht, wer das getan haben könnte?«
Energisches, verzweifeltes Kopfschütteln bei beiden. Die Antwort kam zunächst von der Mutter.
»Nein, Nein, überhaupt keinen. Jeder mag … …jeder mochte Leonie. Wirklich jeder. Sie war ein Sonnenschein, aufgeweckt, freundlich zu jedermann. Ja, sie war vielleicht auch schwierig. Aber auf ganz andere Weise als viele andere. Weil sie eben anders war .«
»Wie meinen Sie das?«
»Mit dreieinhalb begann sie zu lesen. Kurz darauf malte sie Buchstaben und fing an, schematisch und dreidimensional zu zeichnen. Wir haben das nicht forciert, uns aber auch nichts weiter dabei gedacht. Zunächst. In der Kita schien sie zunächst isoliert, dann lernte sie Emi und Colin kennen. Emi ist ähnlich wie sie. Und Colin ist fast so was wie Emis Bruder. Die Drei sind bis zum heutigen Tag die engsten Freunde.« Dann bemerkte sie ihren Zeitfehler. » Waren die besten Freunde.«
»Ihre Tochter hat in der Grundschule und später auf dem Gymnasium jeweils eine Klasse übersprungen, ist das richtig?«
Michael Büsch nickte. »Beide Male zusammen mit Emi.«
»Wissen Sie etwas über Alkohol oder andere Drogen? Und wie sah es mit Freunden aus. Also ich meine …«
»Nein, Nein, Nein. Weder sie noch ihre Freunde haben sich für Drogen interessiert. Kann sein, dass sie mal ein bisschen herumexperimentiert haben. Machen doch die meisten Jugendlichen. Aber nie, nie, nie kam es zu irgendwelchen Exzessen. Schon gar nicht zu … … zu Abhängigkeiten.«
»Eltern wissen nicht alles über ihre Kinder. Vor allem nicht, wenn die Kinder in die Pubertät kommen und langsam erwachsen werden.«
Michael Büsch blickte zu Boden und machte dabei eine unbestimmte Kopfbewegung, eine Mischung aus Schütteln und Nicken. ›Schon klar, aber‹ sollte es bedeuten.
»Das ist uns bewusst. Aber wissen Sie, es gab nie irgendwelche Klagen, keine Beschwerden, keine Leistungsabfälle in der Schule. Nichts. Sie hat ihr Abitur mit einem Einserschnitt bestanden. Das war noch bevor sie ihren ersten festen Freund hatte.«
Herr Büsch verstummte wieder. Es machte den Anschein, als wolle er den Rest der Konversation seiner Frau überlassen. Hardenbergs Eindruck war, dass sie ihre Verzweiflung besser im Griff hatte. Vielleicht konnte sie es auch nur besser überspielen. Den Schein wahren. Der Zusammenbruch kam dann später. Wenn niemand zusah. Vielleicht nicht einmal ihr Mann. Rosinsky blieb ebenfalls stumm. Sehr wahrscheinlich war es ihm ganz recht, dass sein Chef nun das Gespräch von ihrer Seite aus führte.
»Dieser Colin, was können Sie uns noch über ihn sagen?«
»Colin Waigant. Ist so was wie der Cousin von Emi oder fast schon ein Bruder. Also in Wahrheit sind sie überhaupt nicht verwandt, aber die Eltern sind wirklich sehr eng befreundet. Wie gesagt, die Drei waren ein Gespann seit Kindertagen. Er studiert jetzt Architektur in den USA.«
»Ein guter alter Freund also. Und Finn Küppers?«
»Ihr fester Freund. Sehr netter junger Mann. Ein Jahr älter als Leonie. Zurzeit macht er ein duales Studium. Leonie hat ihn … … in diese … … in diese Richtung … … geschubst. Sie hielt ihn für zu talentiert, um sich mit dem bereits Erreichten zufriedenzugeben.« Dann fiel Frau Büsch etwas ein. »Weiß er schon Bescheid?«
Hardenberg schüttelte den Kopf. »Nein noch nicht. Darum kümmern wir uns.« Genaugenommen würden das die Kollegen in Stuttgart tun, doch das erwähnte er nicht. Stattdessen nutzte er die Gelegenheit als Anlass, zu gehen.
»Wir würden uns jetzt auch gerne verabschieden. Es wäre hilfreich, wenn Sie beide am Montagfrüh um neun Uhr zu uns ins Präsidium kommen würden.« Er formulierte es als Bitte, doch ließ sein Tonfall keinen Zweifel daran, dass es eine Aufforderung war.
Sie verabschiedeten sich und setzten sich in den Wagen. Diesmal fuhr Hardenberg.
»Zuallererst muss ich mich bei Ihnen entschuldigen. Das war mein Fehler.«
Aus den Augenwinkeln nahm Hardenberg wahr, wie Rosinsky ihn verständnislos anblickte.
»Leonie Büsch war todkrank. Ein Hirntumor. Das nächste halbe Jahr hätte sie wahrscheinlich nicht überlebt.«
Rosinsky schien nicht im Mindesten gekränkt oder zornig.
»Dann hat der Mörder eine Sterbende getötet?«
»Sieht so aus. Die Frage ist: Wusste er das? Und wenn ja, warum hat er sie dann jetzt umgebracht?«
»Meinen Sie, da gibt es einen Zusammenhang?«
»Wir stehen ganz am Anfang. Wir haben eine ziemlich plausible These über den Tathergang, aber bislang keine Spur eines Motivs. Zum jetzigen Zeitpunkt und bei dieser Faktenlage können wir es uns kaum leisten, eine Annahme auszuschließen. Alles ist möglich. Oder sagen wir fast alles.«