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Kapitel 3

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Der Form halber klopfte Hardenberg an, trat jedoch ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Sciascia saß gleich rechts der Tür auf einem Bett, blickte ihm ins Gesicht, lächelte erleichtert. Die Person neben ihr hingegen schien seine Ankunft überhaupt nicht bemerkt zu haben. Nach vorn gebeugt saß sie da, Unterarme auf den Oberschenkeln, Hände auf den Knien. Zusammengesunken und stumm starrte sie auf den Boden vor ihren Füßen.

»Guten Tag, mein Name ist Hardenberg, ich bin Kriminalhauptkommissar und leite die Ermittlungen.«

Er sprach ruhig und behutsam. Sie durchlebte gerade eine Erfahrung, die niemand machen sollte. Dabei wusste er noch nicht einmal, wie nah sie und die Tote sich gestanden hatten. Er ließ ihr Zeit, auch Sciascia hielt sich zurück, sie sah nur mit sorgenvoller Miene zu ihr herüber. Es dauerte einige Sekunden, dann bemerkte die Frau seine Anwesenheit. Sie straffte sich, als erwache sie gerade, sah auf und reichte Hardenberg eine kleine, zerbrechlich wirkende Hand.

»Noemi de Groot. Guten Tag.«

Er erschrak. Geweitete Augen, die Iris hellgrau mit dunklerem Rand, Sklera und Bindehaut gerötet. Erkennbar mühte sie sich, ausdruckslos dreinzuschauen. Was ihr eindrucksvoll misslang. Was Hardenberg sah, was ihn so unvorbereitet getroffen hatte, war Schmerz. Pures seelisches Leid. Thomsen irrte sich. Es gab eine Austrittswunde. Die gab es immer.

»Frau de Groot, ich weiß, das ist jetzt sehr belastend und Sie haben das alles bereits meiner Kollegin erzählt, aber könnten sie mir nur in ganz knappen Worten noch einmal schildern, wie Sie ihre Mitbewohnerin gefunden haben? Bitte.«

Er hätte es nicht für möglich gehalten, doch sie richtete sich noch stärker auf. Den Rücken leicht durchgedrückt, reckte sie das Kinn und atmete durch die Nase tief ein und wieder aus. Eine Langstreckenläuferin. Eine Tänzerin vielleicht. Hardenberg überlegte. Wie nannte man das im Ballett noch mal? Aplomb. Ja, das war es. Über dem Bizeps der schlanken, sehnigen Arme trat jeweils eine Vene leicht hervor. Sie sammelte alles, was ihr an Selbstdisziplin zur Verfügung stand. Und das schien nicht wenig zu sein. Das Problem der zitternden Hände löste sie, indem sie mit aneinandergelegten Fingerkuppen ein Dach formte, das sie auf den Oberschenkeln ablegte.

»Heute hatte ich die Frühschicht in der Bäckerei. Dort arbeite ich an drei Tagen die Woche. Bei solch schönem Wetter fahre ich für gewöhnlich mit dem Rad, die Bäckerei befindet sich in Oberbilk. Das Rad trage ich immer hoch, gegenüber im Trockenspeicher ist Platz.«

Sie sprach ruhig, beherrscht, doch es kostete sie Anstrengung. Als sie weitersprach und zum Eigentlichen kam, begann ihre Unterlippe zu zittern, die Stimme wurde brüchig. Mit Verwunderung und Anerkennung registrierte Hardenberg, wie Sciascia einen Arm um die Schulter der Frau legte und darüberstrich.

»Im Wohnzimmer waren noch die Jalousien heruntergezogen, das war schon ungewöhnlich. Am Wochenende steht sie zwar meist erst spät auf, so zwischen neun und zehn, aber es war bereits kurz vor eins, als ich kam. Die Tür zu ihrem Zimmer stand offen, dort war es hell. Ich hab‘ angeklopft, gerufen und als ich keine Antwort bekam, bin ich reingegangen. Da sah ich sie. Zuerst dachte ich ›Was macht sie denn da? Wieso liegt sie quer über dem Bett?‹. Sie reagierte nicht, als ich sie noch mal ansprach, deshalb bin ich näher ran. Da sah ich dann …«

Mit einer fahrigen Geste fuhr sie sich über die Stirn und senkte den Blick. Das Zittern war nun deutlich sicht- und hörbar.

»Sie sagten, am Wochenende stand sie für gewöhnlich später auf. War das eine feste Gewohnheit? Konnte man sich darauf verlassen? Also, ich meine, gab es Menschen, die davon wussten.«

Sie nickte. »Ja, das wussten alle ihre engen Freunde. Und ihre Eltern. Und beinahe immer, wenn sie aufstand, egal wann, öffnete sie als Erstes das Fenster und sah hinaus. War so eine Art Ritual, sie begrüßte den Tag. Bei solch schönem Wetter wie heute auf jeden Fall.«

»Wann haben Sie die Polizei gerufen?«

Sie sah ihn überrascht an.

»Ich weiß nicht. Sofort glaube ich. Aber jetzt, wo sie fragen … Kann sein, dass ich ein paar Augenblicke nicht ganz bei mir war. Aber bestimmt nicht länger als fünf oder vielleicht zehn Minuten.«

»Haben Sie noch jemanden angerufen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ihr Kollege am Telefon hat mir eindringlich davon abgeraten. Aber es hat auch nicht lange gedauert, bis jemand hier war.« Und an Sciascia gewandt sagte sie: »Das waren Sie, glaube ich.«

Sciascia bestätigte. »Wochenendbereitschaft. Ich wohne nur ein paar Straßen weiter.« Was, wie Hardenberg wusste, eine Untertreibung an der Grenze zur Lüge war.

»Frau de Groot, wann haben Sie die Wohnung verlassen?«

»So gegen fünf Uhr dreißig. Mit dem Rad brauche ich um diese Zeit vielleicht eine Viertelstunde. Um sechs fängt die Schicht an.«

»Da hat ihre Freundin aber noch gelebt.«

Sie nickte heftig. »Ganz sicher. Meist lässt sie die Tür einen Spalt offen. Um diese Uhrzeit ist es im Haus und auf der Straße noch sehr still. Leonie macht immer solch seltsame Geräusche, wenn sie schläft. Kein Schnarchen, eher so ein Grummeln. Manchmal redet sie auch im Schlaf.«

»Wann sind sie zurückgekommen?«

»So gegen eins. Vielleicht etwas früher.«

Hardenberg überlegte. Wenn man ihre vorherige Aussage über die Aufstehgewohnheiten der Toten an Wochenenden und Thomsens erste grobe Einschätzung zum Todeszeitpunkt berücksichtigte, passte alles ganz gut zusammen. Demnach wurde Leonie Büsch etwa gegen zehn Uhr erschossen. Plusminus. De Groot war nun wieder etwas in sich zusammengesunken. Er sah sie sich etwas genauer an. Wie alt mochte sie sein? Keine zwanzig, schätzte er. Achtzehn vielleicht. Raspelkurzes, dichtes Haar. Weizenblond. Große Augen, eher rund als mandelförmig. Die Nase war klein und rund, die Lippen voll. Schön geschwungener, ausgeprägter Amorbogen, klare, weiche Gesichtszüge. Sie war ungeschminkt. Konzentriert und klar formulierte sie die Sätze, doch es kostete sie erkennbar Mühe.

»Darf ich Ihnen noch ein paar persönliche Fragen stellen, Frau de Groot?«

Sie sah ihn eindringlich an und nickte stumm.

»Sie und Leonie Büsch, kannten sie sich schon lange?«

»Seit dem Kindergarten. Wir sind beide hier im Viertel aufgewachsen. Seit damals waren wir eigentlich nie lange getrennt. Bis vor gut einem Jahr wohnte die ganze Familie auch noch hier in der Nähe. Als ihre Eltern nach Krefeld zogen, sind wir zusammen hier eingezogen. Wir waren wie …« Sie stockte und suchte nach der passenden Formulierung. »… beinahe so was wie Geschwister, sie, Colin und ich. Geschwister und beste Freunde. Jeder kannte den anderen mit all seinen Schrullen und Macken, jede noch so winzige Kleinigkeit. Colin ist in den USA und Leonie …« Sie stockte. »Was soll ich jetzt nur machen?«

Die letzten Sätze waren beinahe ein Flüstern. Die Frage galt weder Hardenberg noch Sciascia.

»War sie aktuell in einer Beziehung?«

Sie nickte. »Finn. Finn Küppers. Er ist auf einem Exkursionsseminar an diesem Wochenende.«

»Wissen Sie, wo?«

»Stuttgart. Er macht so ein duales Studium. Maschinenbau.«

»Haben Sie eine Ahnung, wo er da erreichbar ist?«

Sie sah ihn an, zuckte mit den Schultern, schüttelte dann den Kopf, sprach aber nicht.

»Haben Sie eine Ahnung, wann er zurückkommt?«

»Morgen spät am Abend. Leonie sprach davon, dass sie zu ihm fahren wollte. Er wohnt in Pempelfort, die Adresse kann ich Ihnen geben.«

Unvermittelt stand sie auf, huschte an Hardenberg vorbei zum Schreibtisch, nahm ein Blatt Papier und schrieb. Das Ganze machte den Eindruck einer Reflexhandlung. Sie gab ihm das Blatt.

»Hat dieser Finn Küppers einen Schlüssel zu der Wohnung hier?«

»Nein, ich glaube nicht.«

Hardenberg dachte an die Möglichkeit, dass jemand hierherkäme und unvorbereitet vor dem Polizeisiegel stünde.

»Sonst jemand?«

»Leonies Eltern und meine. Sonst niemand.«

Sie erschien ihm zurückhaltend, introvertiert. Schock? Trauer? Oder Teil ihrer Persönlichkeit? Zu diesem Zeitpunkt ließ sich das unmöglich sagen.

»Angenommen, dieser Finn Küppers möchte seine Freundin anrufen, erreicht sie aber nicht, an wen wendet er sich da als Nächstes?«

Auf Anhieb begriff sie, worauf er hinauswollte. Sie sah ihn entsetzt an, sprach aber nicht. War auch nicht nötig. Der Blick sagte alles.

Diese verdammte ständige Verfügbarkeit. Sicher, es hatte Vorteile. Als Ermittler konnte er das kaum bestreiten. In Fällen wie diesem jedoch wünschte Hardenberg sich gemeinsame Festnetzanschlüsse für mehrere Familienmitglieder zurück. Schlecht aufgelegte Telefonhörer und Besetztzeichen. Anrufbeantworter, die einen nicht ständig automatisch überall daran erinnerten, dass man einen Anruf verpasst hatte. Beeper waren damals was für Notärzte gewesen. Oder Kriminalkommissare. Er dachte nach. Wie würde er reagieren, wenn ein Telefongespräch verabredet gewesen wäre, er den Partner aber nicht erreichte? Er würde es natürlich wieder versuchen. Nach zwei, drei Versuchen würde er sich Sorgen machen. Spätestens. Schließlich würde er alle möglichen ihm bekannten Telefonnummern von Verwandten, Freunden und Bekannten ausprobieren. Es half nichts. Sie mussten versuchen herauszubekommen, wo Küppers in Stuttgart wohnte. Die Kollegen vor Ort mussten die Rolle der Hiobsboten übernehmen.

»Wir kümmern uns drum.«, versuchte er sie zu beruhigen. »Machen Sie sich keine Sorgen.«

Überzeugt sah sie nicht aus. Er wechselte das Thema.

»Was machen Sie, wenn sie nicht gerade in der Bäckerei arbeiten?«

»Ich studiere Psychologie. An der HHU.«

»Wievieltes Semester?»

»Zehntes. Dieses Semester möchte ich gerne den Master machen.«

Hardenberg zeigte sich überrascht und beeindruckt.

»Verzeihen Sie, wenn ich das frage, aber: Wie alt sind Sie?«

»Morgen in einer Woche werde ich zweiundzwanzig.«

Hardenberg begann zu rechnen. Morgen in einer Woche war der fünfte Mai. Das Sommersemester hatte erst vor wenigen Wochen begonnen. Zehntes Semester bedeutete, dass sie zum Wintersemester 2014 begonnen hatte. Bei Studienbeginn war sie also siebzehn gewesen. Er fragte nicht weiter nach.

»Diese Wohnung ist doch bestimmt nicht billig.«

»Das Haus gehört meiner Mutter.« Sie sah ihn eindringlich an, nicht genervt, aber es schien, als hörte sie diese Frage nicht zum ersten Mal. »Herr Hauptkommissar, Leonie und ich, wir … … sind nicht naiv. Bezahlbarer Wohnraum in großen Universitätsstädten ist rar. Als meine Mutter uns dieses Angebot machte, haben wir es ergriffen.«

Sie sprach im Präsens über ihre Freundin und sich. Betont. Trotzig beinahe. Leugnungsphase. Hardenberg nickte. Fürs Erste sollte das reichen. Da fiel ihm noch etwas ein.

»Frau de Groot, wissen Sie, ob Ihre Mitbewohnerin krank war?«

Wieder dieses tiefe Ein- und Ausatmen. Zittern. Sie schlug die Augen nieder und nickte.

»Hirntumor. Ein Glioblastom. Seit ein paar Monaten war sie in Behandlung. Und mehr als ein paar weitere Monate hätte sie auch nicht mehr gehabt.«

Sie war nah dran, zusammenzubrechen. Hardenberg sah keinen Sinn darin, sie weiter zu befragen. Doch sie sprach von sich aus.

»Sie haben die Medikamente und das Marihuana gefunden. Im Kühlschrank ist bestimmt auch noch Cannabisbutter. Hin und wieder haben wir Kekse gebacken, manchmal Tee gekocht. Und ja, ich habe davon auch probiert. Geraucht haben wir aber nie.«

Hardenberg presste die Lippen zusammen. Der harmlose Drogenkonsum zweier Studentinnen interessierte ihn nur insoweit, als er zur Klärung des Mordfalls beitrug.

»Woher hat sie das Marihuana bezogen?«

Schulterzucken. »Keine Ahnung. Jeder kennt doch wen, der wen kennt, oder?«

Hardenberg erinnerte sich dunkel. War lange her.

»Haben Sie jemanden, den Sie benachrichtigen können und der sich um Sie kümmert? Die Wohnung wird zunächst als Ganzes versiegelt werden. Haben Sie einen Platz, wo sie in den nächsten paar Tagen bleiben können?«

Sie schluckte, nickte dann ausdrücklich. »Hier könnte ich jetzt sowieso nicht sein. Meine Mutter wohnt gleich um die Ecke. Darf ich sie anrufen?«

Aufschlussreiche Wortwahl. ›Sein‹, nicht ›bleiben‹.

»Ja, natürlich. Es kann Sie aber auch jemand dorthin begleiten. Packen Sie in Ruhe alles ein, was Sie brauchen.«

»Das kann ich machen. Ich helfe Ihnen beim Packen und bringe Sie zu Ihrer Mutter.« Sciascia hatte heute eine Überraschung nach der anderen für Hardenberg parat.

Er verabschiedete sich. Einer Eingebung folgend, sah er sich noch einmal flüchtig um, bevor er ging. Überwiegend schwedisches Mobiliar, wie gehabt, mit ein paar Ausreißern, wie drüben. Nur stammten die Ausreißer hier eher vom Sperrmüll oder aus dem Second-Hand-Laden als aus dem Antiquitätengeschäft. Auch einen Plattenspieler gab es, ein japanisches Modell, ebenso wie der Verstärker, beides schon älter, gebraucht, aber gepflegt. Statt teurer, großer Standboxen, zwei kleine Exemplare fürs Regal. Noch mehr Bücher – meist Paperbacks – als in dem anderen Zimmer, ähnlich viele Schallplatten. Mehrere Paar Laufschuhe, zwei Kurzhanteln, eine Yogamatte, ein Radhelm. Kleidungsstücke auf dem Boden und auf einem Stuhl vor dem unvermeidlichen Schreibtisch mit Laptop. An den Wänden einige Fotos, ein, zwei Zeichnungen, alle sorgfältig gerahmt. Statt eines Film- oder Konzertposters, hing über dem Plattenspieler ein Rahmen für LP-Cover. Aktuell befand sich ein Jazz-Album im Rahmen, Oliver Nelson: ›The Blues and the Abstract Truth‹ . Hardenberg fragte sich, ob dieser Titel ihm etwas sagen sollte. Er lächelte bitter. In der Tat zwei äußerst interessante junge Frauen.

Das Lächeln der Toten

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