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Die Flucht : Athen, 404 vor Christus ̶ Panos

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Ein paar Monate sind seit dem grossen Fest vergangen. Das ganz grosse Glück ist bei uns eingezogen, gleich eimerweise scheinen die Götter ihr Wohlwollen über uns auszugiessen. Seit Theramenes bei uns zu Gast war, werden die noblen Damen mit Schmuck aus Aristons Händen überschüttet, und jedermann scheint einen neuen Siegelring zu brauchen. Mein Herr kann sich der Aufträge kaum erwehren und hat seinen Sohn als Hilfe herangezogen. Dies allerdings war nicht von Erfolg gekrönt. Niko ist zu ungeduldig und offenbar auch zu ungeschickt. Seine Stärken liegen wohl nicht in den kleinen feinen Dingen, sondern eher im Kämpfen und Laufen. Seufzend hat der Meister dieses Unterfangen aufgegeben und dafür mich zu seinem Helfer gemacht.

Ich wurde zwar nicht als Handwerker erzogen, in Melos hätte ich es mir nicht träumen lassen, dass ich eines Tages Schmuck herstellen und Stempel schneiden würde, aber jetzt fasziniert mich diese Tätigkeit. Es braucht viel Geduld, gute Augen, eine ruhige Hand und ganz exaktes Arbeiten. Das gefällt mir, und ich scheine mich nicht allzu ungeschickt anzustellen, ich wurde sogar von meinem Meister schon gelobt. Natürlich darf ich nur kleinere Dinge tun, alles liegt noch fest in den Händen des Meisters, aber ich mache schon die ersten Schritte auf dem Weg zu dieser Kunst. Wer weiss, vielleicht öffnet sich da der Weg für mich zu seinem Nachfolger.

Auch bei den Frauen hat sich das neue Glück ausgewirkt. Immer wieder schweben die Klänge von Ismenes oder Phoebes Lyra über unseren Hof. Das Glück scheint so vollkommen zu sein, dass ich meinen Traum schon ab und zu vergesse und mich mit meinem Schicksal abfinde. Könnte ich nicht auch hier die Freiheit erlangen und ein gutes Leben führen? Melos ist ein Traum, aber wenn dort nur Athener, ein paar Olivenbäume und Schafe zu finden sind, was soll ich dort?

So leben wir alle glücklich in dem neuen schönen Haus, die Geschäfte laufen gut, tagtäglich ergiesst sich wärmender Sonnenschein über unseren Hof, der kleine Olivenbaum in der Ecke treibt neue Blättchen und sogar der alte Feigenbaum neben dem Eingang, den mein Meister eigentlich fällen wollte, überrascht alle mit einer Fülle von Früchten. Jedermann geht zufrieden seinen Aufgaben nach und am Abend versammelt sich die Familie im Vorhof und geniesst die letzten wärmenden Strahlen der untergehenden Sonne.

Jeder von uns glaubt, dass dies nun bis zum Ende unserer Tage so weitergehen wird. Haben wir nicht hart dafür gearbeitet, jeder auf seine Weise? Ist unser Herr nicht der unbestrittene Meister seines Fachs, sind seine Arbeiten nicht die besten weit und breit? Wir haben sozusagen das Dach des Glücksolymps bestiegen und können nun ein geruhsames und zufriedenes Leben führen. Das Glück ist aber ein zerbrechliches Gut und dies müssen auch wir erfahren.

Ich bin auf dem Markt um Oliven zu kaufen. Rund um mich herum ist ein Gewimmel von Händlern, immer wieder versucht einer, mir Dinge anzudrehen, die mein Herr bestimmt nicht will, aber es ist manchmal gar nicht so einfach, einen besonders hartnäckigen Kerl wieder loszuwerden. In einer Ecke ist offenbar ein neuer Stand. Eine grosse Menschenmenge umringt ihn, und das kann nur heissen, dass Händler aus fernen Ländern hier eingetroffen sind.

Ich möchte auch wissen, was sie Wunderbares anbieten, und versuche zwischen all den Leuten hindurch einen Blick zu erhaschen. Die Händler sind wohl Ägypter oder von noch weiter her. Sie haben dunkle und auch etwas grimmige Gesichter, das aber scheint die Käufer nicht zu verunsichern. Denn was sie anbieten, ist hier selten und daher sehr gefragt: Skarabäen aus einem seltsamen grünen Stein, kleine Figürchen aus Elfenbein, kostbare kleine Kügelchen, die wenn man sie verbrennt, einen herrlich angenehmen Duft verbreiten. Die Waren sind ungeheuer teuer, aber auch dies scheint die Leute nicht abzuschrecken, die Fremden machen gute Geschäfte.

Ich allerdings kann hier nichts kaufen, ich wende mich ab und schon hat mich das Schicksal ereilt. Der Korbhändler hat mich gesehen. Der Korbhändler ist meine besondere Plage. Vor einiger Zeit brauchte meine Herrin einen Korb, den habe ich diesem Händler abgekauft. Der Korb war von wirklich guter Qualität, so wurde ich etwas später ausgeschickt, um noch einen zu kaufen. Seither ist der Händler überzeugt, dass wir ständig neue Körbe brauchen. Denkt er, wir essen sie auf? Sobald er mich erblickt, stürzt er daher, heftet sich an meine Fersen und preist seine Ware an. Was immer ich sage, scheint nicht in seinen Kopf einzudringen, er verfolgt mich durch den ganzen Markt. Ich versuchte es schon mit: Pass auf, wenn du weg bist, werden deine Körbe gestohlen. Aber auch das nützt nichts, sein Sklave passt ja auf. So bleibt mir jeweils nur die Flucht, denn der Händler ist eher rundlich gebaut und nicht gerade schnell auf den Beinen. Ein guter Sprint zick-zack durch die Menschenmenge ist das Einzige, das mich von seiner Gegenwart befreien kann.

So suche ich auch jetzt wieder das Heil in der Flucht, und nach kurzer Zeit höre ich sein Keuchen hinter mir nicht mehr, er hat aufgegeben. Nun kämpfe ich mich durch das Gewühl bis zum Stand des Speusippos, der die besten Garne verkauft. Nirgends sonst finde ich nämlich Wolle und Garne mit so intensiven Farben. Hier muss ich mich etwas gedulden, denn ich bin nicht der Einzige, der seine Ware schätzt.

Plötzlich spüre ich, dass jemand seine Augen auf mich richtet. Ich drehe mich um und lasse meinen Blick über die bunte Menschenmenge schweifen. Tatsächlich, ein Stück weiter, neben dem Stand des Schuhmachers, steht ein Mann, der seine Augen auf mich gerichtet hält. Kaum schaue ich zu ihm hin, fällt sein Blick zu Boden, und er verschwindet hinter zwei zankenden Händlern. War das nicht Lysias, mein Freund aus Melos? Ich wende mich wieder dem Stand des Speusippos zu, warte auf die Gelegenheit, meine Wünsche anzubringen, da raunt mir jemand ins Ohr.

„Du kennst mich, wir sind beide aus Melos und nur darum will ich dir helfen. Komm zum Friedhof hinter die Grabstele des Peisandros.“

Ich drehe mich um, aber da sind nur die Menschen, die schon vorher mit mir auf eine Gelegenheit gewartet haben. Die Worte sind aber in mein Gedächtnis eingegraben. Ich will dir helfen. Wozu helfen? Ich brauche keine Hilfe, es geht mir gut! Was soll das? Ein sonderbares Gefühl ist aber da. So kaufe ich schnell, was ich brauche, besorge mir noch einen Olivenzweig und eile zum Friedhof. Wo ist das Grab des Peisandros? Ich wandere auf und ab und plötzliche sehe ich die Stele. Nun lege ich den Olivenzweig auf ein Grab, verbeuge mich, um wie ein Grabbesucher auszusehen, denn irgendetwas warnt mich: Sei vorsichtig. Dann schreite ich langsam zu der Stele. Eine Stimme zischt:

„Schnell, setz dich zu mir, da in den Schatten.“

Und wirklich, mein Freund aus Melos ist es, der mich angestarrt hatte. Er sitzt zusammengekauert in der dunklen Ecke zwischen dem Olivenbaum und der Stele. Ich quetsche mich neben ihn, damit wir nicht gesehen werden können.

„Was soll das?“ frage ich.

Er hält die Hand hoch.

„Still, hör zu,“ und flüstert: „Deine Familie ist in grosser Gefahr. Du weisst, ich bin Sklave bei Kritias, daher weiss ich, was dort geschieht. Dein junger Herr trifft sich mit der Tochter des Kritias, ich selbst habe ihn über die Mauer klettern und in den Frauengemächern verschwinden sehen. Du weisst, was das bedeutet. Die Tochter ist dem Sohn des Hippomachos versprochen. Sie liebt es aber mit Männerherzen zu spielen. Kanntest du den Sohn des Antores? Auch er schlich zu ihr, er war verliebt über beide Ohren, aber sie hat ihn verraten und seither hat man nichts mehr von ihm und seiner Familie gehört. Sind sie tot? Oder in Laurion? Oder als Sklaven verkauft? Niemand weiss es. Euch wird es gleich ergehen, ich bin sicher nicht der einzige, der den Jungen gesehen hat. Sobald Kritias davon weiss, bricht Unheil über eure Familie herein, darum warne ich dich, rettet euch so schnell ihr könnt. Mit Kritias ist nicht zu spassen.“

Mein Inneres hat sich zu Stein verwandelt. Sich mit Kritias anlegen, das ist wohl das Dümmste was man tun kann. Er ist brutal und gewissenlos. Er ist der mächtigste der Dreissig Tyrannen, die nach der Kapitulation mit Hilfe der Spartaner die Macht übernommen haben. Zuerst waren alle froh, dass der Krieg vorbei war und nun etwas Ruhe einkehren würde. Aber vor allem Kritias hat sofort eine Schreckensherrschaft aufgezogen. Flüsternd berichten die Leute von ermordeten, verschwundenen und in die Sklaverei verkauften Menschen. Mein Herr ist nicht direkt von Kritias abhängig. Sein Schutzherr ist Theramenes, ein freundlicher und umgänglicher Mensch. Wären alle Tyrannen wie er, könnte sich Athen glücklich schätzen und in Frieden und Wohlstand leben. Kritias aber kennt offenbar nur ein Ziel: noch grössere Macht und vor allem Reichtum. Es ist schon ein Vergehen, sich in Frauengemächer einzuschleichen, ganz egal bei wem und wo. Niemand wird dies ungestraft lassen. Bei Kritias aber ist dies der sicherste Weg in ein schreckliches Unheil. Es ist ganz klar: Er wird unsere Familie vernichten. Mit einem Schlag ist der Glückspalast, in dem wir uns wähnten, zerbrochen.

„Rette dich und deine Familie,“ wiederholt Lysias steht auf, legt seine Hand auf meine Schulter.

„Alles Gute, Bruder!“ und dann ist er wie ein Schatten verschwunden.

Ich sitze erstarrt in der Ecke hinter der Stele. All die schrecklichen Dinge, die man hinter vorgehaltener Hand von Kritias erzählt hat, schiessen mir durch den Kopf. Wir Sklaven werden gar nicht beachtet, darum erfahren wir viel mehr, als unsere Herren denken und der Austausch dieser Nachrichten läuft wie geschmiert. Sicher ist alles Mögliche heillos übertrieben, aber wenn nur die Hälfte von dem, was man sich über Kritias erzählt, stimmt, ist es schon ungeheuerlich genug.

Meine Beine wollen erst gar nicht gehorchen, aber dann springe ich auf und laufe so schnell ich kann durch die verwinkelten Gassen zu meinem Haus. Eile tut Not, wer weiss, vielleicht hat Kritias schon davon erfahren und hetzt seine Schergen auf uns. Zuerst renne ich auf dem schnellsten Weg durch die breiten Gassen. Dann weiche ich in die kleineren Gässchen aus, und immer wieder schaue ich zurück. Verfolgt mich jemand? Sind die Leute des Kritias schon auf dem Weg zu unserem Haus?

Haben wir uns alle zu sicher gefühlt, die Zeit des Glückes zu sehr genossen? Ariston fühlte sich immer auf dem Olymp angekommen, wenn er sich im schattigen Hof ausruhen konnte, die Klänge von Phoebes Lyra über ihn hinweg zogen und er Ismene von seiner Arbeit erzählen konnte. Kann ein Mensch noch glücklicher sein, fragte er immer wieder. Ismene hingegen hat sich Sorgen gemacht, aber tun das die Frauen nicht immer? Sie hat von unseren Nachbarinnen gehört, dass ein paar Familien verschwunden sind. Über Nacht, einfach weg.

„Da ist etwas Schreckliches passiert,“ sagte Ismene, „ich traue diesem Kritias nicht, oder besser gesagt, ich traue ihm alles zu. Vielleicht sind die Leute von seinen Schergen umgebracht worden? Oder in die Sklaverei verkauft? Vielleicht sind sie in Laurion, niemand weiss es.“

Ich habe diese Gerüchte auch gehört und gebe zu, auch mich haben sie beunruhigt. Ich bin ja nur der Sklave, aber Aristons Familie ist unterdessen meine Familie, sie liegt mir am Herzen und ich möchte sie beschützen. Allzu grosse Sorgen habe ich mir aber trotzdem nicht gemacht, denn Ariston ist ja nur ein Metöke, wir sind also nicht so wichtige Leute, und Theramenes hält seine schützende Hand über ihn.

Ariston hat immer wieder betont:

„Uns kann nichts passieren, wir sind sicher! Vielleicht sind diese Gerüchte ja gar nicht wahr. Warum sollten nicht ab und zu Familien einfach wegziehen? Sie reisten vielleicht zurück zu ihren alten Eltern irgendwo in den Hügeln? Fanden einen neuen Wirkungskreis in einer grossen, florierenden Hafenstadt? Da gibt es so viele Möglichkeiten, kein Grund, sich Sorgen zu machen.“

Ich war mir da nicht so sicher, dachte aber, ich sehe wohl einfach zu schwarz. Auch Ismene sagte zwar nichts mehr, aber ihr Schweigen sprach für sich. Ihre Sorgen sind immer noch da, da bin ich sicher, weil aber eine ganze Weile keine solchen Schreckensmeldungen mehr die Runde machten, hat bestimmt auch sie ihre Sorgen ein wenig abgelegt und die glücklichen Tage genossen, die ich nun zerstören werde. Die grosse, bunte Seifenblase des Glücks, in der alle sich sicher glaubten, wird durch meine Nachricht zerplatzen.

Es ist bald Abend. Niko sollte aus dem Gymnasium zurück sein. Ariston hat erlaubt, dass er ohne meine Begleitung dorthin geht, er ist ja sechzehn, also schon ein junger Mann und braucht, wie er immer wieder betont, kein Kindermädchen mehr. Ich hoffe sehr, dass er schon zu Hause ist.

Atemlos stürze ich in den Hof, knalle das Tor zu und schaue mich um. Ariston springt erschrocken auf, normalerweise trete ich leise wie ein Schatten ein, aber heute tut Eile Not, da gibt es keine Rücksichten. Sofort erkennt Ariston, dass ich in heller Panik bin, ihm ist klar, dass etwas Ungeheuerliches passiert sein muss. Niko ist nicht im Hof, ist er im Haus oder noch in der Stadt? Ich versuche wieder zu Atem zu kommen und wende mich dann an Ariston:

„Herr, ich muss mit dir sprechen, es ist wichtig, es geht um Leben und Tod.“

Ariston wird bleich, sagt dann aber:

„Sprich, erzähle, was dich in so helle Aufregung versetzt.“

Was ich ihm erzähle, scheint ihn in Stein zu verwandeln. Die Familie des Antores war ihm wohl bekannt, auch er hat vom Verschwinden gehört und – das muss er zugeben – es hat auch ihn beunruhigt, denn er wusste sehr wohl, dass diese Familie niemals einfach abgereist wäre. Weil er aber dem Unheil nicht ins Gesicht sehen wollte, hat er dieses Ereignis einfach tief unten in seinem Bewusstsein vergraben und immer, wenn es an die Oberfläche kommen wollte, hat er eiligst an etwas anderes gedacht.

Aber was die Sache nun wirklich über alle Massen schrecklich macht, ist das dumme Verhalten seines Sohnes. Wie konnte er nur? In Frauengemächer einsteigen! Das ist ein Verbrechen, und das ist ihm nur allzu bekannt!

Ariston ist bald klar, dass die Situation für die ganze Familie verzweifelt ist, er ist wie zu einer Säule erstarrt und sein Gehirn scheint den Dienst zu verweigern. Ich stehe da und warte auf eine Antwort, auf Taten, auf irgendetwas.

Endlich löst sich seine Starre.

„Wo ist Niko,“ fragt er.

„Ich weiss nicht, ich bin ja erst nach Hause gekommen.“

Er ruft nach dem Thraker und verlangt, dass er Niko herbringt. Der aber ist nirgends zu finden. Meine Angst nimmt ungeheure Ausmasse an und ich brauche alle Kraft, um nicht in Panik zu verfallen. Ruhig bleiben, das ist jetzt das Wichtigste, nur mit klarem ruhigem Verstand lässt sich vielleicht noch ein Ausweg finden! Ariston ruft jetzt nach Ismene und schickt alle andern weg. Noch einmal erzähle ich, was passiert ist. Sie wird bleich, ist aber erstaunlich gefasst.

„Auf so etwas habe ich immer gewartet, nicht auf die Dummheit unseres Sohnes, aber auf ein Unglück, das Kritias auf uns nieder fallen lässt.“

Ariston meint nun:

„Was Nikodemos getan hat, ist unverzeihlich und wird schreckliche Folgen haben. Aber wir haben ja immer noch unseren Schutzherrn, Theramenes, vielleicht kann dieser uns helfen.“

„Nein,“ sagt Ismene, „dies ist eine Tat, die auch Theramenes auf das Schärfste verurteilen wird, hier kann auch er uns nicht helfen.“

In diesem Moment wird das Tor aufgestossen und ein atemloser Niko stürzt herein.

„Habt ihr gehört,“ ruft er aufgeregt, „die Familie des Antores ist verschwunden und nicht genug damit, Theramenes ist im Rathaus festgenommen und ins Gefängnis gebracht worden. Man behauptet, er sei zum Tode verurteilt, in Fesseln abgeführt und bereits hingerichtet worden.“

Erst jetzt fallen ihm unsere steinernen Mienen auf.

„Habt ihr das schon gehört? Ist das schon überall bekannt?“ fragt er etwas unsicher.

„Nikodemos, was hast du getan? Bist du in die Frauengemächer bei Kritias eingedrungen?“ fragt Ariston nun.

Er wird rot und sagt sofort:

„Nein, auf keinen Fall, das ist doch verboten!“

„Stimmt, es ist verboten, sehr sogar, aber du wurdest gesehen, wie du über die Mauer geklettert bist!“

Jetzt schaut Niko zu Boden.

„Die Tochter von Kritias, ich liebe sie und sie liebt mich, ich kann ohne sie nicht leben!“

Jetzt mische ich mich ein.

„Ja, das haben einige vor dir auch schon gesagt und sie sind alle verschwunden, die meisten samt ihren Familien. Möchtest du sie einmal in Laurion besuchen? Vielleicht sind ein paar davon noch am Leben, zum Beispiel der Sohn des Melanchos oder der des Antenor, die kennst du ja vom Gymnasium.“

Niko erstarrt.

„Es ist also wahr,“ flüstert er. „Was soll nun werden?“

Wie ein kleiner Junge fängt er an zu weinen.

Ich vergesse meine Stellung als Sklave, packe und schüttle ihn.

„Reiss dich zusammen, du hast deine ganze Familie in schreckliche Gefahr gebracht. Hör also auf zu heulen und hilf uns, damit wir uns retten können!“

Wie ein Häufchen Elend sinkt er zu Boden, aber immerhin hört er auf zu weinen.

„Aber was tun wir jetzt?“ fragt Ariston und ringt verzweifelt die Hände.

Ismene nimmt nun plötzlich das Zepter in die Hand und bestimmt ruhig, als sei dies eine ganz normale Entscheidung:

„Wir müssen weg und zwar schnell. Wir können nicht hoffen, dass die Dummheit unseres Sohnes Kritias nicht zu Ohren kommt, vielleicht weiss er es bereits und schickt schon seine Schergen aus. Zudem hast du gehört, Ariston, Theramenes ist tot, er kann uns also auch nicht mehr helfen. Wir verschwinden sofort!“

„Ja, du hast Recht, aber wohin? Wohin können wir fliehen, wo sind wir sicher?“ jammert Ariston.

Er ist völlig ratlos und weiss offensichtlich keinen Rat. Hilfesuchend schaut er zu mir.

„Panos, hilf uns, was sollen wir nur tun!“

Niko schlägt vor:

„Wir können in die Berge fliehen, da gibt es Hütten und Olivenhaine, da können wir uns verstecken.“

„Für eine kurze Zeit wäre dies ein guter Plan, aber nicht über längere Zeit,“ finde ich. „Wir würden sicher von einem Bauern gesehen, der dies auf dem Markt erzählt. Irgend jemand hört davon, zählt zwei und zwei zusammen und meldet dies dem Kritias. Wir wissen ja nicht, ob der nicht sogar einen Preis auf Nikos Kopf aussetzt! Aber wir könnten nach Theben fliehen, das haben vor uns schon viele getan, die sich die Gunst der Tyrannen verscherzt hatten und um ihr Leben fürchten mussten. Sogar Sklaven aus Laurion konnten ab und zu fliehen und suchten ihr Heil dann in Theben, denn die sind unabhängig, dort haben weder die Athener noch die Spartaner das Sagen.“

Alle überlegen angestrengt, so einfach ist eine Flucht nicht, denn wir wollen ja nicht den Schergen des Kritias in die Arme laufen, wir müssen immer einen Schritt voraus denken.

Jetzt hat Ariston seine gewohnte Ruhe wieder gefunden und sagt:

„Hört alle zu! Theben ist zu gefährlich, gerade weil immer wieder Verfolgte dorthin geflohen sind. Sicher wird Kritias einen Schlägertrupp in diese Richtung losschicken. Wir müssen nach Syrakus fliehen. Ich war ja dort, ich habe dort noch Freunde, die werden uns helfen, und der Arm des Kritias reicht nicht so weit. Wir gehen nach Piräus und suchen ein Schiff, das uns dorthin mitnimmt!“

„Piräus,“ meine ich, „Piräus ist zu gefährlich, dort wimmelt es von Soldaten, auch Leute des Kritias sind dort, und die Zehn Tyrannen von Piräus sind ebenso schlimm wie unsere Dreissig. Es wäre kaum möglich, ungesehen auf ein Schiff zu gelangen.“

„Dann muss es eben ein anderer Hafen sein. Wir fliehen nach Korinth, von dort legen immer wieder Schiffe nach Syrakus ab! Aber es ist schon Herbst. Die Seeleute fürchten die Winter-stürme, also müssen wir so rasch als möglich dort eintreffen, um noch einen Platz auf einem der letzten Schiffe zu ergattern. Von Athen nach Korinth führt eine gute Strasse, auf dieser sollten wir rasch vorwärts kommen.“

Alle denken über den Plan nach, dann findet Ismene:

„Das ist schon richtig, wir kommen schnell voran, aber die Reiter des Kritias auch und sogar noch schneller. Wir nehmen erst ein Stück der guten Strasse, müssen dann aber bald in die Hügel ausweichen. Dies ergibt zwar einen weiteren Weg, aber wir sind sicherer!“

„Ja,“ stimmt Ariston zu, „das ist ein guter Plan. Wir erzählen, dass wir das Heiligtum der Demeter in Eleusis besuchen und dort opfern wollen. Das glaubt uns jedermann, bald ist ja das grosse Opferfest. Der Thraker bleibt hier, er wäre nur ein Hindernis auf dem Weg. Alle andern kommen mit.“

Ismene erklärt nun:

„Ich habe immer wieder von verschwundenen Familien gehört und dem Frieden nicht getraut. Daher habe ich bereits Bündel für genau einen solchen Notfall gepackt. Eigentlich können wir sofort aufbrechen.“

Wir alle sind sprachlos. Ariston umarmt Ismene und sagt:

„Die Götter haben mich nicht nur mit einer schönen, sondern auch mit einer klugen Frau beschenkt! Noch im Unglück bin ich ein glücklicher Mann!“

Ismenes Befürchtungen und Sorgen sind immer auf taube Ohren gestossen, jetzt aber hilft uns ihre Weitsicht. Keine Minute können wir nun verlieren, Eile tut not! Ich haste ins Haus, um dem Thraker weiszumachen, dass wir nach Eleusis pilgern wollen und bald wieder zurück sein werden. Ob ihm das Demeterheiligtum bekannt ist, weiss ich nicht, aber er wird dies wohl einfach glauben.

Ich befehle ihm, gut auf das Haus aufzupassen. Aber ich möchte auch, dass er nicht sieht, wie wir weggehen, sonst fallen ihm vielleicht doch noch unsere Bündel auf, die wohl viel zu gross sind für Leute, die nur zwei Tage wegwollen um zu opfern. Er ist ja nicht der Hellste, aber man weiss nie! Sobald wir bereit sind, werde ich ihm noch etwas Wein mit einem Schlaftrunk bringen, damit er unseren Aufbruch nicht mitbekommt.

Aber jetzt muss erst einmal unser genauer Fluchtplan geschmiedet werden. Vor uns steht die erste grosse Hürde: Die Stadttore sind nämlich bereits geschlossen und die Wächter auf den Posten. Die lassen uns nicht so einfach ziehen, wenn sie nicht schon auf uns warten! Nachts kann niemand in die Stadt hinein, aber genauso wenig aus der Stadt hinaus. Man muss einen sehr guten Grund anführen, um die Wächter dazu zu bewegen, die Tore nochmals zu öffnen. Eine Pilgerreise genügt da auf keinen Fall. Was tun?

Ariston, Ismene und ich beraten, Ideen werden vorgetragen und gleich wieder verworfen, auch Niko hilft mit, aber kein Plan scheint durchführbar zu sein. Aus der Stadt hinaus müssen wir aber. Schliesslich lege ich den andern einen wagemutigen Plan vor:

„Wir sollten nicht zum Dipylon, dem Tor in Richtung Eleusis, gehen, sondern zum Acharner Tor Richtung Theben. Dort oben in den Bergen hat Diokles, ein Freund des Kritias, ein Landhaus, auf dem er grosse Feste zu feiern pflegt. Ich kenne ein paar Sklaven aus seinem Haushalt. Wird ein solches Fest gefeiert, müssen sie ihm im Schutze der Dunkelheit Mädchen und Knaben bringen. Die Wachen werden uns sicher anhalten, aber dann behaupten wir, die Frauen seien Freudenmädchen und Niko ein Junge, die wir alle zu einem solchen Fest bringen müssen.“

Niko ist empört, und Ismene weist dies sofort von sich. Aber nach einer Weile merken alle, dass dies wohl die einzigen Möglichkeit ist, die Stadt zu verlassen.

Ich suche nun nochmals den Thraker, ich muss ihn jetzt ausser Gefecht setzen, was sehr einfach ist, er freut sich wie ein Kind, als ich ihm Wein bringe, setzt sich sofort hin und will ihn geniessen. Nochmals schärfe ich ihm ein, dass er gut auf das Haus aufpassen solle, er hat aber nur noch Augen für den Weinkrug, er wird unser Verschwinden nicht bemerken. Alle eilen in ihre Zimmer, um die letzten Sachen zusammenzupacken.

Ariston packt ein, was für ihn und damit auch für seine Familie das Wichtigste ist: seine Werkzeuge, die halbfertigen Schmuckstücke und, als Beispiel für seine Kunst, seinen letzten Stempel. Wenn es gelingt, den Häschern des Kritias zu entrinnen, müssen wir ja irgendwo weit weg eine neue Existenz aufbauen, und das Handwerk kann uns hoffentlich dabei helfen.

Dann hastet er in den Garten. Dort unter dem Feigenbaum ist ein Topf mit Münzen vergraben, der Notvorrat der Familie. Seit dem Hauskauf ist allerdings nicht mehr allzu viel dort drin, aber der Rest wird uns auf der Flucht gute Dienste leisten. Für einen kurzen Moment betrachtet er die zwei goldenen Statere, die aus dem kleinen Münzhaufen herausglänzen, dann aber steckt er alle in einen Beutel und verstaut diesen sicher in seinem Gewand.

Der Thraker schläft selig, der Wein mit dem Schlafmohn hat seine Wirkung getan, das sollte eine Weile reichen.

Ismene tritt mit Phoebe an der Hand in den Hof. Die Sklavin folgt mit den Bündeln.

„Sie glauben beide, dass wir ein Gelübde erfüllen und zum Heiligtum der Demeter pilgern. Vorläufig brauchen sie noch nicht mehr zu wissen. Sie merken dann noch früh genug, was wir tun und werden sich ängstigen,“ flüstert Ismene.

Nun sind wir alle im Hof versammelt, sechs reisefertige Leute, die das kaum bezogene neue Haus verlassen und in eine ungewisse Zukunft aufbrechen. Wie schnell ist doch unser Glück zerbrochen!

Ismene bestimmt nun:

„Wir alle tragen unsere Bündel, Anisa hilft ab und zu Phoebe, aber alle müssen ihren Teil tragen. So kommen wir schneller voran, und es ist den Göttern wohlgefällig.“

Anisa händigt Ismene das Bündel aus, sie ist offensichtlich sehr erstaunt, wagt aber nicht, Fragen zu stellen.

Plötzlich fallen Ariston meine uralten Sandalen auf. Diese werden kaum lange halten. Er schickt Niko zurück in das Haus.

„Hol alle Sandalen, die du noch finden kannst. Wir alle brauchen gute Schuhe, es ist ein weiter Weg.“

„Herr,“ meint nun Anisa, die Sklavin. „Unsere Nachbarn sind letztes Jahr dorthin gepilgert, es ist gar nicht so weit.“

Wenn sie nur wüsste! „Trotzdem,“ findet er, „ich will, dass alle gute Schuhe tragen, das müssen wir schon aus Respekt vor der Göttin.“

Das scheint gut anzukommen, alle können nun in guten neuen Schuhen marschieren, und in meinem Bündel ist noch ein weiteres neues Paar, auch diese werden uns wohl noch gute Dienste leisten.

Dann eilt Ariston ein letztes Mal zurück ins Haus und kommt mit zwei Schwertern und einem langen Dolch zurück.

Ismene erschrickt: „Woher hast du diese Waffen, nur Bürger dürfen jetzt Waffen haben, du hast doch deine ganze Rüstung mit Lanze und Schwert abgeben müssen?“

Auch Niko und ich sind starr vor Staunen.

„Natürlich habe ich meine ganze Rüstung abgegeben, aber man weiss ja nie welche Wendungen das Schicksal bereithält. Daher habe ich die andern Waffen versteckt, so gut, dass offenbar niemand sie je gesehen hat. Sie lagen ganz zufrieden oben auf den Dachbalken. Seid froh, dass ich sie behalten habe.“

Er gibt Niko ein Schwert und mir den Dolch und ermahnt uns, die Waffen gut versteckt unter den Kleidern zu tragen. Niko nimmt sein Schwert, betrachtet es und tritt dann zu mir.

„Wir tauschen, ich glaube, du bist der bessere Schwertkämpfer! Du hast mich in die Fechtkunst eingeführt, aber es dauert wohl noch eine Weile, bis ich so gut bin, wie du!“

Ich staune, Niko scheint in der letzten Stunde plötzlich gereift zu sein.

Der Stempelschneider

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