Читать книгу Einführung in die moderne Theaterwissenschaft - Jörg von Brincken - Страница 10
2. Neuere Forschungsfelder im Überblick
ОглавлениеTheatralität, tät, Medien- und Bildwissenschaft
Hin zur Kultur-, Medien- und Bildwissenschaft
Die Theaterwissenschaft hat sich in der letzten Dekade lebhaft verändert und dabei ihre Forschungsfelder deutlich vergrößert. War sie noch in den 1970er Jahren eher theater- und dramengeschichtlich orientiert, so wandte sie sich in den 1980er Jahren systematisch der Ästhetik der Aufführung zu. Seit den 1990er Jahren erweitert sich die Theaterwissenschaft von einer Kunst- zu einer interdisziplinären Kulturwissenschaft und begreift sich als Medien- und Bildwissenschaft. Sie ergänzt die ästhetische um die anthropologische Komponente und nimmt nicht nur vielfältige Anregungen aus anderen Disziplinen auf, sondern spielt mit ihren Theorien und Begriffen als Ideenlieferant für die Kulturwissenschaften eine bis dahin unbekannte bedeutende Rolle (Balme 1994; Fischer-Lichte 2005c). Diese verdankt sie vor allem ihrem traditionellen Untersuchungsgegenstand, dem Theater.
Intermedialität und Theatralität
Als semiotisches Medium ist Theater multimedial, es führt Sprache, Bewegung, Bild, Musik und Körper zusammen, so dass der direkte Bezug zu anderen Medien und kulturellen Bereichen nahe liegt. In neuerer Zeit nimmt die Integration elektronischer Bildmedien zu, infolgedessen intensiviert sich die Diskussion über das intermediale Verhältnis auf der Bühne sowie zwischen Theater und anderen Medien. Im Rahmen seiner Medialität eignet Theater ein Spezifikum, welches als Motiv für die vielfältigen Grenzüberschreitungen in Wissenschaft und Theaterpraxis wirkt und sich unter den Begriff Theatralität subsumieren lässt. Theatralität wird im engeren Sinne als dasjenige verstanden, was Theater als Kunstmedium ausmacht, auf seinen Aufführungscharakter verweist und zum einen die Inszenierung, zum anderen die Wahrnehmung des Inszenierten intendiert. In einem weiteren und heute geläufigsten Sinn wird von Theatralität gesprochen, wenn kulturellen Phänomenen, die auch außerhalb des Kunsttheaters im gesellschaftlichen und politischen Raum vorkommen, eine theatrale Dimension zugewiesen wird. Theatralität als Erweiterung des Theaterbegriffs wurde durch dessen metaphorische Verwendung in den Kulturwissenschaften angeregt (Turner 1989) und in der Theaterwissenschaft insbesondere seit den 90er Jahren intensiv diskutiert (Fiebach 1996; Münz 1998; Schramm 1996; Fischer-Lichte 2000; Kotte 1998). Dies hing auch mit der dominanter werdenden Medien- und Inszenierungskultur in einer Gesellschaft des Spektakels (Guy Debord) zusammen, so dass die Ausweitung des Theaterbegriffs mit der Theatralisierung der Wirklichkeit korrelierte. Eine „Agonie des Realen“ (Jean Baudrillard) in einer postmodernen, visuell dominierten Vorstellungs- und Medienwelt provozierte im Rahmen einer weitreichenden „Theatralisation“ (Brandstetter 1998) eine neue Blickweise auf Umwelt und Kultur – registriert wurden generell mehr Theatralitätsphänomene. Elisabeth Burns (1972) folgend, könnte behauptet werden, dass Theatralität vornehmlich einem bestimmten Modus der Wahrnehmung geschuldet ist.
Von Evreinov zu Barthes und Brecht
Theaterhistorisch verorten kann man den Begriff der Theatralität erstmals 1908 bei Nikolai Evreinov, einem im vorrevolutionären Russland lebenden Theatertheoretiker und Regisseur, der Theatralität als Basis der Kulturgeschichte und als Instinkt des Menschen versteht, wobei ein Kunstwerk nur als Sonderfall eines Werkes der Theatralität gelten soll (Xander 1994); die ästhetische Grenze zwischen Kunst und Leben wird vor dem Hintergrund des Theatralitätsdiskurses überschritten, Parallelen der Vorstellungen Evreinovs mit der europäischen Theateravantgarde (Fiebach 1996) sind nicht zu übersehen. Der Theaterpraktiker Bert Brecht wird etwas später die „Theatralität des Alltags“ aus der „Straßenszene“ herleiten (Fiebach 1978), während der Theoretiker Roland Barthes Theatralität in den „Mythen des Alltags“ ausmacht. Theatralität ist für Barthes das, was neben dem dramatischen Text das Theaterereignis prägt, seine bekannte Formel lautet dementsprechend: Theater – Text = Theatralität (Barthes 1964, 41f.).
Soziale Rolle
Ein direkter Bezug zwischen Alltag und Bühne ergibt sich in der Theatralität des Individuums über die Verbindung der selbst erfahrenen ,Identität‘ mit der Rollenfigur des Schauspielers. Speziell in der gegenwärtigen fragmentierten Medienwelt funktioniert die Plurimedialität des Theaters als Spiegelbild der kaleidoskopischen, außertheatralen Wirklichkeit; das uneindeutige, gespaltene Selbst des Schauspielers in seiner Rolle auf der Bühne steht für das sich auflösende Subjekt im medialisierten Alltag. So wie der Schauspieler immer einen gewissen Abstand zur Rolle hat, bleibt das nachmoderne Individuum in steter Distanz zu Selbstbildern und -beschreibungen, welchen es seine Identität verdankt. Dieser Abstand zu sich selbst initiiert eine durchgehend auch vom Individuum reflektierte Theatralität des eigenen Verhaltens. Soziales Rollenverhalten wird von den Beteiligten eher bemerkt, was Erving Goffmann zu einer entsprechenden These motivierte, die auf Theatralität in soziologischen Phänomenen aufmerksam machte: „Wir alle spielen Theater“ (Goffmann 1969). Theatralität wäre in diesem Sinne ein Fundament der gesamten Gesellschaft oder sie stiftet, Andreas Kotte zufolge, überhaupt erst Gesellschaft (Kotte 1998). Letztlich zeigt sich: Was dem Menschen bewusst wird, bewertet er eher als theatral. Abständigkeit als bewusste Distanzierung zu sich selbst im ästhetischen und alltäglichen Rollenspiel tendiert dazu, die Grenze zwischen Kunsttheater und Alltagswelt zu verwischen, eröffnet den mentalen Freiraum für Experimente und vergrößert den Raum für äußere Einflüsse.
(Bild-) Anthropologie
Auf anthropologischer Ebene wäre dieser Abstand des Menschen zu sich selbst mit Helmuth Plessners ,exzentrischer Positionalität‘ als grundlegende Bedingung des menschlichen Daseins zu beschreiben. In seiner Anthropologie des Schauspielers drückt sich diese Exzentrizität in der Differenz von Leib-Sein und Körper-Haben aus (Plessner 1980), wobei Körper-Bilder eine große Rolle spielen. Nach Hans Belting wäre erst eine „Anthropologie des Bildes“ in der Lage, menschliche Identität kulturgeschichtlich zu lokalisieren (Belting 2001). Die Orientierung an Selbst- und Fremdbildern rückt als prägendes Motiv von Theatralität in den Vordergrund. Hierbei verbindet sich im Zuge des iconic turn (Mitchell 1990) die Theaterwissenschaft mit der interdisziplinären Bildwissenschaft (Balme 2003; Englhart 2004). Gestützt wird diese Entwicklung durch die Beobachtung, dass nach Andrzej Wirth in der „zeitgenössischen Ästhetik der Präsentation“, in der sich die „Proportionen zwischen Theater und Performance immer mehr zugunsten der Performance“ im Sinne einer zunehmenden Aufmerksamkeit für die visuellen Anteile der Inszenierung und eines „Überwiegen des Performativen“ entwickeln, ein „neue[r], arbiträrer, totalisierender Kontext“ ergibt. Diesen macht Wirth anhand Robert Wilson’scher Inszenierungen als „Fusion von Ikonophilia und Ikonoklasmus“ kenntlich, wobei das ikonoklastische Moment in seiner Weigerung, „eine Trennungslinie zwischen Kultur und Natur, zwischen Mensch und Tier, zwischen alt und modern, zwischen heilig und profan zu ziehen“, offenbar wird (Wirth 1992). Performative Grenzüberschreitungen der Theatralität begründen dabei zwar eine Ethik der Differenz, können jedoch, aus einer anderen Perspektive betrachtet, auch unethisch sein, indem sie Täuschungen im gesellschaftspolitischen Bereich legitimieren, falls das Rollenspiel außerhalb des Theaters nicht durchschaut wird (Lazarowicz 1991).
Theatralität und Performanz
Wenn man den Theatralitätsbegriff in seinem grenzüberschreitenden Anspruch radikalisiert und ihn nicht nur als ästhetische und kulturelle, sondern auch als mentale Haltung und Diskursformation ausweist, dann könnte er mit Helmar Schramm durch die performativen Akte der Aisthesis, Kinesis und Semiosis, die als „Faktoren kultureller Energie“ ein „Magisches Dreieck “ bilden, beschrieben werden (Schramm 1996). Ihr jeweiliges Verhältnis in einem bestimmten historischen Gefüge, das Rudolf Münz als gesellschaftsbestimmtes Verhältnis von Kunsttheater, Alltagstheater sowie Theaterverboten und karnevaleskem Theater bestimmt (Münz 1998), führt, Erika Fischer-Lichte folgend, zur Aufmerksamkeit auf kulturgeschichtlich wirksame Faktoren der Wahrnehmung, der Körperverwendung und der Bedeutungsproduktion (Fischer-Lichte 2000). Gemeinsam liegen sie der Theatralität zugrunde und ermöglichen in einem jeweils anderen Zusammenhang ästhetische und kulturelle Artefakte. Sie sind deren Bedingung, gehen aber keineswegs in ihnen auf. Als Prozesse der Herstellung von etwas – der Poiesis – lenken sie den Blick auf den ereignishaften Vollzug und das Handeln im Hier und Jetzt, den „performativen Akt“ bzw. das „Performative“ als „einmaligen Akt, schlichte Geste, singuläre Handlung“. Dies würde als Ereignis die „Selbstreflexion der Avantgarde, das System von Kunst als Metakunst“ ablösen und an deren Stelle den „offenen Prozeß“ rücken (Mersch 2002, 245).
Performativität und Atmosphäre
Das Performative wird mit Hilfe des interdisziplinären Konzepts der Performativität untersucht, das seit den 1950er Jahren existiert und mit den Kulturwissenschaften der 1970er und 1980er Jahre relevant geworden ist (Burke 2004). In der Sprachphilosophie John L. Austins 1955 noch auf den Vollzug von Sprachhandlungen im Sprechakt bezogen, erlaubt es Anfang der 90er Jahre bei Judith Butler, körperliche Handlungen als nichtreferentielle performative Akte darzustellen, welche Körper und Wirklichkeit in der Wiederholung von Gesten erst konstituieren (Butler 1992; Schechner 2002; Wirth 2002). Performativität ist, aus der Sicht der Zuschauer eines theatralen Ereignisses, der Teil der Aufführung, welcher qua Anmutung, erfahrener Atmosphäre und wahrgenommener sinnlicher Qualität die Bewertung bzw. die Semiosis als Bedeutungsgenerierung erst möglich macht (States 1985; Fischer-Lichte 2001; Englhart 2002; Schouten 2006).
Performance in der Gesellschaft
In einer theatralen Perspektive wird das Geschehen zur Aufführung oder zur Leistung, also zu etwas, das durch den angelsächsischen Begriff Performance – „one of the key terms for the new century“ (McKenzie 2001)– bezeichnet wird. Performance ist momentan nicht nur in den Kultur- und Sozialwissenschaften, sondern für den gesamten kulturellen, organisatorisch-wirtschaftlichen und technologisch-wissenschaftlichen Bereich zu einem der wichtigsten Begriffe geworden. Er charakterisiert nach Jon McKenzie die Epoche der letzten hundert Jahre, die sich so vom 18. und 19. Jahrhundert als dem Zeitalter der Disziplinen absetzt (McKenzie 2001). Letztendlich ist Performance als relationaler Begriff wie Theatralität dort zu finden, wo das Augenmerk auf den Prozess gelegt wird, so dass mit Marvin Carlson gilt: „all human activity could potentially be considered as ,performance‘“ (Carlson 1999, 190). Dementsprechend löst die Theaterwissenschaft heute eine Forderung des Performancetheoretikers Daniel Charles ein, wenn sie in der Theater- und Kulturgeschichte das Performative in den Vordergrund rückt (Charles 1989).
Für die Theaterwissenschaft sind gegenwärtig vier Konzepte mit dem Begriff der Performance verbunden:
Performance der Aufführung
(1) Im Bereich des Theaters bedeutet Performance die Aufführung, also den transitorischen theatralen Text in betonter Differenz zum dramatischen Text. Außerhalb des Theaters und in Verbindung mit der wahrgenommenen Theatralität von Kultur- und Alltagsphänomenen wäre Performance in diesem Sinne alles, was den Beteiligten als Inszenierung erscheint – das kann der Flirt in einer ersten Begegnung zwischen zwei Liebenden, eine Universitätsvorlesung oder auch eine Kabinettsitzung sein.
Performancekunst
(2) Das Ereignishafte dieser Aufführungen verweist auf das zweite Konzept von Performance, das der Performancekunst. Diese bildet nach Daniel Charles, der sich auf Jean-François Lyotards „energetisches Theater“ als „diskontinuierliche events“ beruft (Lyotard 1982, 20), einen „Zeitspielraum “, in dem das „Präsentische“ geschieht (Charles 1989). Früher Untersuchungsobjekt der Kunstgeschichte, wurde die Performancekunst als „live art by artists“ (Goldberg 1988) vor dem Hintergrund des Theatralitätsdiskurses in der Theaterwissenschaft vom ,Paratheater‘ zum zentralen Untersuchungsgegenstand aufgewertet. Historisch gesehen entwickelte sich die Performance aus der historischen Avantgarde über die Neoavantgarde der 1960er Jahre (Happening, Aktionskunst, Body Art) zu ihren heute ausdifferenzierten Formen, zu denen nun als Randphänomen das avancierte Theater traditioneller Herkunft gezählt wird.
Regietheater und Postdramatik
(3) Ein weiterer Grund, weshalb die Theaterwissenschaft heute das Konzept der Performance in den Mittelpunkt rückt, ist die Beobachtung, dass avanciertes Regietheater seit den 1970er Jahren dazu tendiert, nicht mehr dramatisches Theater zu sein. Andrzej Wirth fand dafür in den 1980er Jahren den Begriff „postdramatisches Theater“ (Wirth 1987), zu dem Hans-Thies Lehmann 1999 eine einflussreiche Ästhetik vorlegte (Lehmann 1999). Postdramatisches Theater wird hier als innovative theatrale Ästhetik zwischen traditionellem dramatischen Theater und klassischer Performance positioniert. Das ,traditionelle‘ Drama tendiert mit Peter Szondi im 20. Jahrhundert zur Episierung, das Theater wird zum Experiment auf der Bühne. In der ,zentrumslosen‘ Kultur des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts wird der Brecht’sche Gestus selbstreferentiell, so dass sich im gegenwärtigen ,nicht mehr dramatischen‘ Theatertext alle bisher geltenden Konstituenten des Dramas (Figur, Handlung, Zeit, Raum) auflösen. Infolgedessen sollen für eine Analyse von Theatertexten dieser Art Instrumente, die von einer traditionellen Darstellungsästhetik (Figurenkonstellation etc.) ausgehen, nicht mehr greifen, so dass sie nur von ihrer szenischen Theatralität her zu verstehen sind (Poschmann 1998). Seit Ende der 90er Jahre ist in der zeitgenössischen Dramatik eine Gegentendenz in Richtung ,wieder dramatischer Theatertext‘, ,Rückkehr des Helden‘ und ,Wiederkehr der Geschichten‘ beobachtbar, die einem Mentalitätswechsel insbesondere in der jüngeren Generation antwortet und Fragen nach sozialer Relevanz, Substanz, Realität und Sinn nachgeht (Bayerdörfer 2007).
Cultural Performances
(4) Das vierte Konzept der Performance ist vor allem der Ethnologie geschuldet. Auf der Folie der Kritik an der eurozentrischen Perspektive der Kulturwissenschaften wurden ethnologische Untersuchungen von cultural performances schriftarmer Gesellschaften auf Performances der visuell und medial geprägten abendländischen Kultur übertragen. Interessanterweise zur selben Zeit, als Goffmann für den abendländischen Bereich seine Soziologie des Rollenspiels veröffentlichte, vereinte 1959 der Anthropologe Milton Singer alle diejenigen Aufführungen, Feste, Wettkämpfe und Riten, welche der kulturellen Generierung, Stabilisierung und Ausstellung eigener Identität dienen, unter den Terminus cultural performances (Singer 1959). 1966 wurde Richard Schechner mit Approaches to theory and criticism (Schechner 1966) zum Pionier der Performance-Theorie, die er als social science verstand; zugleich erweiterte er das Verständnis von Theater um das environmental theatre (Schechner 1973). Seine Performance-Theorie wurde so einflussreich, dass heute in den USA im Fach performance studies das Theater im engeren Sinne nur eines unter vielen Untersuchungsobjekten ist; im Konzept der cultural performance geht es eigentlich um alles vom Menschen prozesshaft Hervorgebrachte. Eine Kernthese der Performance-Theorie bildet Victor Turners im Rahmen einer ,performativen Ethnologie‘ vorgestelltes Drei-Stufen-Modell des Rituals: Während die erste und die dritte Stufe als Trennung und Wiedereingliederung der gesellschaftlichen Norm zuarbeiten, entspricht die zweite Stufe als Übergangsraum der Liminalitätsphase, die der Mensch im Ritual durchläuft (Turner 1989). Aus der Perspektive der Theatralität wäre der performative Akt der Aufführung ein liminaler Akt, der die Beteiligten einer Veränderung unterwerfen kann.
Performativer Akt
Wenn nun die nachmoderne Vermutung zutrifft, dass die Menschen in einer Inszenierungsgesellschaft ständig Theater spielen, dann befänden sich alle ständig im liminalen Raum. Sie würden, wie Judith Butler Anfang der 1990er Jahre gezeigt hat, perpetuierend in einem performativen Akt ihre Identität als Teil der symbolisch-kulturellen Ordnung nach ,innen‘ und ,außen‘ stabilisieren. Der Mensch wäre also nicht durch seine biologische oder materielle Substanz geprägt, sondern Teil einer sich bewegenden Kultur, welche ein performatives Spiel der différance (Jacques Derrida) auszeichnet (Butler 1988). Performance Studies und Performativität als Herausforderung der Theaterwissenschaft rekurrieren daher auf einen grenzüberschreitenden, beweglichen Gestus, welcher der Vorstellungswelt der seit den 1980er Jahren in der Kultur- und Theaterwissenschaft reüssierenden Postmoderne entspricht. Da momentan die Frage nach dem Ende und der Historisierung der Postmoderne gestellt wird, geht es seit Kurzem wieder mehr um die Existenz und Notwendigkeit von Grenzen, Regeln und die ,Substanz‘ im Performativen (Gumbrecht 2005). Zu vermuten ist, dass es weder zu einer Rückkehr von überwundenen Fundamentalismen, noch zu einer Beibehaltung unbeschränkter Performativität kommen wird. Die Zukunft liegt wohl in einem ,Sowohl-als-auch‘ bzw. im ,Dazwischen‘ des Ausgleichs.
Die Genderforschung in der Theaterwissenschaft
Geschichte der Genderforschung
Seit einiger Zeit wird in der Theaterwissenschaft, wie in den Kulturwissenschaften insgesamt, der bis dato herrschende eurozentrische, männlichkeits- und mehrheitsdominierte Blick auf kulturelle Phänomene und Artefakte in Frage gestellt. Insbesondere die Genderforschung und die Alteritätsforschung gewinnen an Bedeutung und lassen alternative Sichtweisen auf das Theater bzw. auf theatrale Phänomene zu, indem sie die analytische wie historische Perspektive de-zentrieren (Haider-Pregler 1990; Möhrmann 1990). So beginnt die Genusforschung in der Theaterwissenschaft (Wiens 2000, 4 und 16), die Geschlechterdifferenz als Problem theaterhistorischer Forschung v.a. über die Frage nach dem ,authentischen‘ Körper als konstituierendem Element des theatralen Ereignisses zu erörtern. In der Geschlechterdifferenz geht es um das hierarchische Verhältnis zwischen Frauen und Männern, das sich in den dramatischen Texten und theatralen Inszenierungen ausdrückt. Dieses Verhältnis überschneidet sich mit weiteren Hierarchisierungen wie Alterität, Rasse und Klasse. Im Hintergrund dieser Entwicklung steht die kulturwissenschaftliche Abkehr von essentialistischen im Sinne von biologistischen Erklärungsmustern. In den Diversitäts- und Alteritätsstudien werden die Kategorien des Geschlechts und der Fremdheit als relationale ausgewiesen, die ihren Konstruktcharakter nicht mehr verbergen können. Daher unterscheidet man in den Gender Studies, die das hierarchische Verhältnis der Geschlechter untersuchen, zwischen gender und sex, also zwischen dem kulturellen und dem biologischen Geschlecht.
Theaterhistorie und Gegenwartstheater
Der theaterhistorische Zugang wäre etwa mit Blick auf die Aufführungspraktiken William Shakespeares oder Johann Wolfgang von Goethes möglich, bzw. in der Dekonstruktion der dramatischen Texte, die das Verhältnis von Mann und Frau, von Eigenem und Fremden, von Mensch und Tier etc. thematisieren. Im Theater der Gegenwart wird das Thema z.B. in den Theatertexten Elfriede Jelineks, in den Inszenierungen Frank Castorfs, Sasha Waltz’ oder der Wooster Group behandelt. Meist geht es um die stereotypen Imaginationen von Weiblichkeit und Männlichkeit, die sich auf der Grundlage von Projektionen aus dem jeweiligen soziokulturellen Kontext konstituieren.
Feministische Theatergeschichte
Ein wichtiges Gebiet der Genderforschung in der Theaterwissenschaft ist eine Theatergeschichte aus weiblicher Sicht (Wiens 2000), u.a. auch die Untersuchung der Stellung, Funktion und sozialen Lage der Schauspielerin. Wenn schon der Schauspielerstand vor dem 20. Jahrhundert generell nur am Rande der Gesellschaft existieren konnte, was für sich genommen bereits ein eigener sozial- und theaterhistorischer Forschungsgegenstand ist, war die Schauspielerin besonderen Diskriminierungen ausgesetzt, von gesellschaftlicher Missachtung, berufsspezifischer Unterdrückung bis hin zur sexuellen Ausbeutung.
Antikes Theater
Grundsätzlich ist die Tätigkeit von Frauen auf der Bühne keine theaterhistorische Selbstverständlichkeit. Im antiken griechischen Theater, das eigentlich nicht wenig Frauenrollen bot, konnten weibliche Rollen fast immer nur von männlichen Darstellern gespielt werden. Auch in der ,ersten‘ Demokratie in Athen war das Theater, wie überhaupt der öffentliche und politische Raum, eine Domäne der Männer; den Frauen war ein eng gezogener Wirkungskreis im Haus zugewiesen. Athenerinnen durften nur auf den oberen, in der Sicht beschränkten Plätzen zwischen Sklaven und Fremden sitzen. Im römischen Theater, in dem Schauspielen auch die Arbeit von Sklaven war, verhielt es sich, was die Aufführung von Tragödien betraf, ähnlich. Der römische Mimus benutzte gerne den sexualisierten, auch nackten Körper der Frau.
Mittelalter und Renaissance
Mit dem Aufstieg des Christentums erfuhren die Frauen einen gewissen Schutz, der sich zugleich aber auch als Zwang erwies. Die Kirche verurteilte die unmoralische Zurschaustellung der Frau scharf. Als Schauspielerin zu arbeiten oder gar die Bühne zu betreten wurde für sie äußerst schwer, wenn nicht unmöglich. Von der Zeit der Kirchenväter, die hier eindeutig Stellung bezogen, indem sie die erbsündebelastete Frau als gefährliche Versuchung des Mannes betrachteten, bis ins Spätmittelalter war die Frau von der Bühne verbannt. Professionelle Schauspielerinnen sah man erst wieder in der Renaissance, oft im Schutz der adeligen Höfe. In der Commedia dell’arte spielten Frauen unmaskiert, was diesen professionellen Theatertruppen nicht unwesentlich zu ihrem Erfolg verhalf (Möhrmann 1989). Dass dies noch keine Selbstverständlichkeit war, beweist die Regel, dass im elisabethanischen Theater die Frau als Rollenfigur durch boy actors verkörpert wurde (Case, 1988). Aus heutiger Sicht der Gender Studies wären diese boy actors als Destabilisierungen von Geschlechterdifferenz im Sinne Judith Butlers zu interpretieren (Butler 1988).
Commedia dell’arte und Theater der Aufklärung
Mit dem europaweiten Erfolg der wandernden Commedia dell’arte-Truppen breitete sich die Spielerleichterung für Frauen zuerst nach Frankreich und Spanien aus, während man in England noch bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts warten musste und in Deutschland erst im 18. Jahrhundert Frauen auf der Bühne zu finden waren. Im Jahrhundert der Aufklärung war dann die Bühne für Frauen oft die einzige Gelegenheit, der Enge der häuslichen Herrschaft der Männer zu entfliehen. Nur am Theater war ein Leben außerhalb der Ehe, der Familie, des Klosters oder der Prostitution möglich. Es war sogar nicht einmal ungewöhnlich, wenn eine Frau eine leitende Stellung am Theater einnahm. Am bekanntesten wurde die Prinzipalin Caroline Neuber, die in der Koalition mit Johann Christoph Gottsched für eine ästhetische Aufwertung des Theaters und damit zugleich für eine moralische wie soziale Verbesserung des Schauspielerstandes eintrat. Erlaubt war einer Frau eine solche außerordentliche Stellung natürlich nur, weil die Bühne insgesamt kein angesehener gesellschaftlicher Ort war und die dort Beschäftigten generell diskriminiert wurden. Trotz oder wegen der Freiheit war die Gefahr für Schauspielerinnen aber besonders groß, waren sie doch weitgehend rechtlos und wenig geachtet. Da ihr ,schamloser‘ Auftritt auf einer öffentlich von allen einsehbaren Bühne manch männliche Phantasie entzündete, waren sie vielfältigen sexuellen Übergriffen ausgesetzt.
Anthropologie und Geschlechterdifferenz
Im Theater der Aufklärungszeit verschärfte sich, vor dem Hintergrund der Entstehung der Anthropologie und, was das Schauspiel betrifft, des Übergangs vom ,künstlichen‘ zum ,natürlichen Zeichen‘, die Lage der Frauen auf der Bühne noch einmal (Geitner 1988). Denn nun war man zunehmend der Meinung, dass Frauen wie Kinder, Angehörige außereuropäischer Kulturen, Tiere und kriminelle Charaktere der Natur ,näher‘ waren bzw. auf der Leiter der kulturellen Hierarchie ,tiefer‘ standen. Überhaupt etablierten sich im 19. Jahrhundert Vorstellungen, welche die Geschlechterdifferenz biologisch legitimierten. Als Zuschreibungen neigten sie zu binären Oppositionen wie weiblich / männlich, denen fixe Oppositionen wie Gefühl / Verstand, passiv / aktiv, Natur / Kultur etc. assoziiert wurden. So wurden Geschlechtsstereotype generiert, die über die Weiblichkeit als ,internen Fremden‘ analoge Strukturen zu Alteritätskonstrukten wie den ,externen Fremden‘, insbesondere den außereuropäischen Fremden aufwiesen.
Die Schauspielerin in der Moderne
Im 19. Jahrhundert professionalisierte sich der Schauspielerinnenstand, was keineswegs zu seiner gesellschaftlichen Anerkennung führte, eher im Gegenteil. Wenn die Schauspielerin berühmt wurde, hatte sie als Virtuosin ihre aufwendige Garderobe selbst zu stellen. Eine Garderobe bedeutete nun nicht eine dem dramatischen Text angemessene, historisch oder charakteristisch ,richtige‘ Kostümierung, sondern man erwartete, dass die Frau die neueste, angesagteste und teuerste Mode auf der Bühne zur Schau stellte. Aufgrund der nicht so üppigen Gage waren die Schauspielerinnen auf zusätzliches Geld angewiesen, das sie sich oft durch Prostitution verdienen mussten. Schwanger durfte eine Schauspielerin dabei natürlich nicht werden. Affären hingegen, die Werbung für die Aufführung machten, waren durchaus erwünscht. Erst seit dem 20. Jahrhundert kann man von einer Verbürgerlichung der Schauspielerin sprechen. Mit dem Naturalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurde sie nicht mehr dem, Toilettenzwang‘ unterworfen, das Theater reduzierte den Aspekt der Unterhaltung zugunsten der Kunst. Zudem wurden für die Schauspielerinnen die Verdienstmöglichkeiten durch die neuen Massenmedien des Films und Fernsehens besser (Schmitt 1990).
Doch auch heute noch ist die Schauspielerin benachteiligt. Dies beginnt bei den geringeren männlichen Bewerberzahlen an den Schauspielschulen und setzt sich in den wenigen Rollen für Frauen in der europäischen Dramatik fort. Zudem lastet auf Frauen weiterhin der größere Druck, Schönheitsidealen entsprechen zu müssen. Im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen dürfen sie in Hauptrollen auch kaum älter werden bzw. müssen sich dann oft mit unbedeutenden Nebenrollen zufriedengeben.
Gender Switching, Cross Dressing
Im avancierten Theater der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist es Frauen nunmehr möglich, sie betreffende Rollenzwänge, korporale Erscheinungsmuster und Vorurteile über ihr Vermögen und ihre Leistung in Frage zu stellen und mit gewohnten Wahrnehmungskonventionen zu brechen. Im Theater unterlaufen das Gender Switching wie das Cross Dressing und eine Besetzung gegen die Rollenerwartung (wie etwa in Frank Castorfs Des Teufels General mit Corinna Harfouch in der Hauptrolle des Generals) die theatrale Konvention. Provokationen dieser Art weisen auf die Differenz zwischen biologischem Geschlecht und sozialer Geschlechtsidentität. In der Praxis gelingt es Frauen zunehmend, als Regisseurinnen, Dramaturginnen und Intendantinnen Machtpositionen im Theater zu erobern.
Gender Performance
Noch radikaler als das performative Theater stellt die Performance traditionelle performative Muster und Wahrnehmungsstereotype in Frage. Seit den 1990er-Jahren untersucht die Gender Performance die Inszenierung von Geschlechtern und damit von Vorstellungen, Imaginationen, Strukturen und Modellen von Weiblichkeit bzw. Männlichkeit, die sich in theatralen Inszenierungen, Aufführungen und Rollen sowie in dramatischen Texten und theatralen Theorien und Manifesten ausdrücken (Phelan 1993; Senelick 1991). Gender Performance meint hierbei die Inszenierung von Weiblichkeit oder Männlichkeit (Schrödl 2005, 125), wobei in der Vorstellung des Geschlechts als performativer Akt der Vollzug, der Akt, der Genotext bezüglich des Geschlechtes in den Vordergrund tritt, indem normativ determinierte Handlungen und Praktiken wiederholt werden. Damit wird auf die theatrale und inszenatorische Komponente von Weiblichkeit und Männlichkeit verwiesen.
Wissenschaftliche Methoden
Auf theoretischer Ebene lässt u.a. Jacques Lacans Theorie des Spiegelstadiums einige Parallelen zur Mimesistheorie des Theaters zu (Röttger 1998), so dass die Figuren auf der Bühne als Projektionsflächen des Zuschauer-Ichs dienen können. Dies ist ein guter theoretischer Ausgangspunkt für feministische Untersuchungen im Theater- und Performancebereich (Reinelt 1992: 386; Mulvey 1975; Diamond 1992; Case 1988).
Gender- und Alteritätsforschung
So sind die subversiven, Machtstrukturen unterlaufenden performativen Akte von Relevanz, die vom spielerischen Herangehen an Geschlechterrollen über die Maskerade, die Travestie, die Parodie bis zum Cross Dressing reichen. Besonders wichtige Einflüsse der geschlechtsspezifischen Forschung in der Theaterwissenschaft kommen aus den angelsächsischen Theatre- oder Performance Studies, welche die politische, gesellschafts- und kulturkritische Performance in den Vordergrund rücken (Phelan 1988; Senelick 1991). Zu nennen wären u.a. die Feministische und die Queer Performance sowie das postdramatische Theater. Bekannte Namen wie Laurie Anderson, Matthew Barney, Karen Finley, Holly Hughes, Orlan, Cindy Sherman, Yoko Ono oder Carole Schneemann stehen für subjektive Performanz. Meist stellen diese Performances über die korporale Inszenierung die scheinbar authentische Korporalität eines Geschlechts, einer Ethnie oder Rasse, eines Rangs, Alters, einer Krankheit oder einer sonstigen kodifizierten Zugehörigkeit in Frage (Goldberg 1988). Eine spezielle Form sind die Gender Performances des Drag und der Butch-Femme -Inszenierung (Schrödl 2005, 126). Dabei ergeben sich Überschneidungen zwischen der Theaterwissenschaft und den Queer Studies. Als Begriff wurde queer von Teresa de Laurentis (1987) geprägt, um in der Ablösung der Begriffe gay oder lesbian eine neue Richtung zu formulieren, welche die mit den alten Begriffen verbundenen Vorurteile vermeidet. Das Untersuchungsgebiet der Queer Studies sind die Praktiken innerhalb des nicht-heterosexuellen Bereichs, sie müssen sich folglich nicht unmittelbar mit der Sexualität auseinandersetzen. In Frage gestellt wird die Grundlage der konventionellen politischen, ökonomischen, letztlich ideologischen Ordnung, in der sich die Frau immer in Relation zum Mann definiert. Hier ergeben sich erstaunliche Ähnlichkeiten zur Alteritätsforschung, die davon ausgeht, dass Fremdheit eine relationale Beziehung ist und das Fremde als Konstruktion in Abhängigkeit von der Konstruktion des Eigenen wahrgenommen wird.